Tag 1117: Französisch-Guayana

von Heiko Gärtner
16.02.2017 22:57 Uhr

21.01.2016

Für eine Weile sah es so aus, als würde auch diese Nacht eine kalte und ungemütliche werden, denn gegen 20:00 Uhr am Abend, fiel plötzlich der Strom aus. Damit saßen wir nicht nur im Dunkeln, auch unsere Elektroheizungen machten keinen Mucks mehr. Gerade als wir uns damit angefreundet und uns schon halb schlafen gelegt hatten, stürmte eine Horde Franzosen in unser Quartier und schleppte Kisten mit Limonade und Bier herein. Gerade war irgendwo eine Bingo-Runde zu ende gegangen und offensichtlich befand sich hier auch das entsprechende Getränkelager. Zunächst etwas zerknirscht über das rüpelhafte Eindringen in unsere Privatsphäre nutzten wir dann die Gelegenheit um auf die Dunkelheit hinzuweisen. Die Bingo-Spieler hatten sie natürlich auch selbst schon bemerkt, sich deswegen aber keine weiteren Gedanken gemacht, sondern einfach ihre Handytaschenlampen zu Hilfe genommen. Nach unserem Hinweis tätigten sie ein kurzes Telefongespräch und kurz darauf wurde es wieder hell und warm. Was auch immer der Grund für den Blackout war, er schien hier nicht unbekannt zu sein.

Von einem Polizisten hatten wir am Abend die Nummer des Bürgermeisters in unserem Zielort bekommen, mit deren Hilfe wir nun wieder relativ leicht eine Unterkunft fanden. Bereits die letzten Räume waren von ihrem Standard her nicht gerade überwältigend gewesen, doch hier fühlten wir uns nun langsam wirklich wieder wie in Italien. Die Tür ließ sich nicht verschließen, an der Decke befand sich ein Schimmelfleck von der Größe eines Kinderplanschbeckens, die Küche war so voller Gerümpel, dass man sie nicht betreten konnte, auf dem Boden lag eine 3mm dicke Staubschicht und die Leuchtstoffröhren machten ein Brummkonzert wie eine Horde Grillen. Sonst war es aber ein super Raum. Der Bürgermeister, der uns den Schlüssel gab, stammte spannender Weise nicht direkt aus Frankreich, obwohl er französischer Staatsbürger war. Das zu verstehen fiel uns zunächst nicht leicht, weshalb er uns ein bisschen genauer aufklärte.

Ähnlich wie Deutschland hat auch Frankreich verschiedene Bundesländer, die sogenannten Departmens. Die meisten davon liegen, wie man es vermuten könnte, in Frankreich. Aber eben nur die meisten. Einer liegt nicht einmal in Europa, sondern in Lateinamerika. Politisch betrachtet kann man es sich vielleicht etwas ähnlich vorstellen, wie bei Grönland und Dänemark. Denn rein rechtlich betrachtet ist Grönland ebenfalls ein Bundesland, also ein Teil unseres kleinen, nördlichen Nachbarlandes, auch wenn es geografisch kaum etwas damit zu tun hat. Ganz ähnlich verhält es sich mit Frankreich und „Französisch Guayana“. Letzteres ist ein kleiner Staat in Südamerika, der noch immer eine französische Kolonie ist und daher offiziell zur Europäischen Union gehört. 90% des Landes bestehen aus Regenwald und trotzdem gilt hier französisches und europäisches Recht. Auch die Polizei wird fast ausschließlich von Franzosen aus Europa gestellt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung aus südamerikanischen Ureinwohnern besteht. Dementsprechend hart ist auch die Kontrolle an der Grenze, da man mit dem Übertritt von Brasilien oder einem anderen Nachbarland direkt in die EU einreist. Für Menschen ist das noch relativ machbar, aber bei Waren sieht das anders aus. Es gibt nahezu nichts, das man einfach von Brasilien nach Guayana bringen kann, ohne dass man sich dadurch eines illegalen Importes schuldig macht. Die EU-Gesetze verlangen, dass sämtliche Waren, die nach französisch Guayana gebracht oder von dort exportiert werden, über Frankreich laufen müssen. Damit wird das kleine Land zum Paradebeispiel der Absurdität unserer globalisierten Welt. Will man beispielsweise Kaffee oder Obst von Brasilien nach Guayana bringen, muss es erst einmal per Schiff oder Flugzeug nach Frankreich gebracht werden und wird dann von dort wieder zurück nach Lateinamerika transportieren. Wenn man bedenkt, dass Frankreich und französisch Guayana fast an den gegenüberliegenden Enden der Erde liegen, reisen die Waren damit also nahezu einmal um den ganzen Erdball, obwohl Erzeuger und Verbraucher vielleicht nur ein paar hundert Meter von einander entfernt wohnen. Das klingt vollkommen absurd, ist aber nicht nur in französisch Guayana gang und gebe, sondern fast überall auf der Welt. Nordseekrabben werden in der Nordsee gefangen, dann zur Weiterverarbeitung nach Marokko gebracht und am Ende direkt am Nordseestrand verkauft. Auf diese Weise werden jährlich hunderttausende Tonnen von Lebensmittel und anderen Waren um die halbe Welt transportiert, weil irgendjemand einen kuriosen Vorteil daraus zieht, oder weil irgendein dubioses Gesetz es verlangt. Und als wäre das allein nicht schon pervers genug, werden die meisten Waren, die wir anbauen oder erstellen direkt für den Export produziert. Das heißt, man baut nicht irgendetwas für sich selbst an und verkauft die Überschüsse ins Ausland, man produziert vom ersten Moment an nur dafür, dass man die Ware am Ende verschiffen kann. Da aber nahezu alle Menschen auf der Welt auch mehr oder weniger die gleichen Bedürfnisse haben, werden die für den Export produzierten Waren stets auch im eigenen Land benötigt. In der Regel importiert man sie zu diesem Zweck ebenfalls aus dem Ausland. Vereinfacht gesagt: Wenn ein Frachtschiff mit einer Ladung Bananen aus Brasilien nach Australien fährt um die brasilianischen Bananen nach Down-Under zu exportieren, dann nimmt es auf dem Rückweg gleich die australischen Bananen mit, die nun wieder nach Brasilien exportiert werden. Obwohl dieses Konzept vollkommen unsinnig erscheint hat es sich innerhalb kürzester Zeit über den gesamten Erdball verbreitet und erfreut sich größter Beliebtheit. Seit 1960 haben sich die internationalen Warentransporte verfünfzehnfacht! Nur zum Vergleich: Das ist eine größere Steigerung als die des weltweiten Bruttoinlandsproduktes. Könnt ihr euch das vorstellen?

Die Frage, die uns nach der Erzählung des Bürgermeisters auf den Nägeln brannte, lautete: „Warum macht Frankreich das? Was bringt es einem Land, in der heutigen Zeit noch eine solche Kolonie auf einem anderen Kontinent zu haben?“ Es ist immerhin ein recht großer Aufwand dafür, dass man sagen kann, man besitzt ein bisschen Regenwald irgendwo am anderen Ende der Welt. Doch die Antwort war einleuchtender, als wir es gedacht hätten. Französisch Guayana liegt nahezu direkt am Äquator und stellt unter anderem deshalb einen idealen Standort für Raketenstarts dar. Aus diesem Grund befindet sich hier der größte, europäische Weltraumbahnhof, über den immer wieder Satelliten in unsere Atmosphäre geschossen werden. Insgesamt befinden sich heute weit mehr als 1.000 Satelliten in unserer Umlaufbahn und jedes Jahr kommen neue hinzu. Dementsprechend wundert es auch nicht, dass der Weltraumbahnhof in Guayana fast ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Es ist also durchaus eine Einrichtung, die sich auch für Frankreich lohnt, auch wenn sie so weit weg ist. Zum Schluss erzählte er uns noch ein spannendes Detail über Eukalyptusbäume, die wir ja auch in Spanien und großen Mengen gesehen hatten. Damals hatten wir uns gefragt, warum man sie so viel anbaute. Die Antwort war einfach und erstaunlich. Eukalyptusbäume brauchen nur 5 Jahre, um so groß zu wachsen, dass man sie fällen und für die Holzindustrie verwenden kann. Das Eukalyptusholz aus Guayana wird dabei fast ausschließlich nach China exportiert. Was mit dem aus Spanien passiert wusste unser Gastgeber nicht.

Spruch des Tages: Wir leben in einer verrückten Welt!

Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 13 km Gesamtstrecke: 20.433,27 km Wetter: Sonnig und relativ warm Etappenziel: Mehrzweckraum der Stadt, 11400 Laurabuc, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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