Kulturfolger

von Franz Bujor
25.04.2014 23:28 Uhr

Falls wir noch nicht verstanden hatten, dass wir uns seit der spanischen Grenze in einem Gebirge befinden, wurde es uns heute noch einmal deutlich gezeigt. Bereits die ersten 500 Meter aus Zumaia heraus hatten sich gewaschen. Sie führten über eine Straße, die sich in immer steileren Serpentinen nach oben wand. Am Ende betrug die Steigung locker 40%. Dann endete die Straße und es ging über eine steile Treppe weiter nach oben. Um die Stufen zu zählen war ich zu kaputt aber sie kam mir endlos vor. Bis hierhin waren wir noch keinen Kilometer weit gegangen und hatten bestimmt schon unsere ersten 100 Höhenmeter erklommen. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem wir das erste Mal vollkommen erschöpft waren. Viele weitere sollten noch kommen.

Zwei Pilger überholten uns, während wir dabei waren unsere Lungen zu suchen, die wir irgendwo in der Mitte der Treppe verloren haben mussten. Der Mann war aus Deutschland, sprach aber trotzdem auf Englisch mit uns. Warum er das tat, wussten wir nicht genau, doch wir vermuteten, dass er so verhindern wollte, dass seine italienische Begleiterin aus dem Gespräch ausgeschlossen wurde. Diese war jedoch so damit beschäftigt, nicht tot umzufallen, dass sie ohnehin nicht zuhörte. Uns ging es genauso.

Der weitere Streckenverlauf hielt das, was der Anfang versprochen hatte. Insgesamt mussten wir heute knapp 700 Höhenmeter überwinden und das meiste davon auf Pfaden, die bereits auf gerader Strecke eine Qual gewesen wären. Um dem Bergpanorama eine würdige Atmosphäre zu verleihen, regnete es wieder einmal in Strömen. Doch das Wetter blieb auch heute nicht konstant. 10 Minuten goss es wie bei einem Weltuntergang, dann kam die Sonne durch und noch ehe wir unsere Regenjacken ausziehen konnten, fiel bereits wieder Wasser vom Himmel. Nach einer guten Stunde war es dann vollkommen egal was wir taten. Wir waren von innen wie von außen klatschnass und so durchgeschwitzt, dass wir uns selbst nicht mehr riechen konnten. Das heißt, natürlich konnten wir uns riechen, sehr intensiv sogar, aber wir machten es nicht gerne. Am liebsten hätten wir unsere Nasen auf zwei Stöcken viele Meter vor uns her getragen. Doch das wäre dann nur noch anstrengender geworden.

Als wir eine Zwischenanhöhe erreicht hatten, trafen wir auf einen spanischen Einheimischen, mit dem wir uns kurz über den Weg unterhielten. Es war das erste Mal, dass wir ein längeres Gespräch mit einem Einheimischen in Spanien führten, der nicht auf einem Amt oder in einer Touristeninformation arbeitete, nicht als Pilger unterwegs war und keine Herberge leitete. Es war noch kein großartiger Kontakt aber wir schöpften neue Hoffnung, dass wir doch noch auf nette Menschen treffen würden. Was uns der Mann allerdings mitteilte, war weniger aufmunternd. Straßen gab es zwischen hier und unserem Tagesziel Deba so gut wie keine. Fast der ganze Weg bestand aus Trampelpfaden und Geröllpissten. Das waren mal gute Aussichten.

Auf der nächsten Anhöhe trafen wie die alte Dame vom Vorabend wieder. Inzwischen hatten wir sie schon richtig ins Herz geschlossen und freuten uns immer sie zu sehen. Eigentlich wäre sie schon viel weiter gewesen, aber sie hatte ihren Pilgerstab in der Herberge vergessen und war deshalb noch einmal zurückgegangen. Jeder andere Pilger hätte sich darüber wahrscheinlich geärgert oder hätte sich einfach einen neuen Stab gesucht. Doch sie hatte noch bis Mitte Juni Zeit, bis sie ihr Flieger aus Santiago wieder nach Deutschland brachte. Daher war ihr größtes Problem, dass sie zu Früh ankommen würde. Alles was ihr Zeit kostete, war somit äußerst willkommen.

Von der Anhöhe aus führte eine Asphaltstraße in ein kleines Tal hinab, wo wir uns an eine Hauswand lehnten und eine kleine Rast machten. Es war ein guter Platz um vorbeiziehende Pilger zu beobachten. Besonders freuten wir uns über ein pilgerndes Ehepaar, mit einem Sicherheitsabstand von rund 20 Metern zueinander wanderte. Es war offensichtlich, dass sie sich im Moment nicht allzu gerne mochten. Beide trugen Wanderschuhe, kurze Hosen und Regencapes. Dazu hatten sie sich Wollpuschel um die Knöchel gebunden, die ihre Füße warm halten sollten. Als sie direkt vor uns war, bückte sich die Frau, hob einen Stein auf und legte ihn unter ein steinernes Jesuskreuz, das etwa zwei Meter weiter vorne stand. Sie tat es genau so, als hätte sie ihn bereits seit langer Zeit mit sich herumgetragen, nur zu dem Zweck, ihn hier abzulegen. Der Mann wartete derweil in seinem üblichen Abstand von 20 Metern.

Bald nach unserer Pause endete die Straße und führte in einem schlammigen Waldweg steil bergab hinunter zur Autobahn. Gerade als wir sie überquert hatten, sahen wir über uns wieder einmal einen Gänsegeier kreisen. Wie schön diese majestätischen Vögel von hier unten aussahen. Und wie selten sie geworden waren. Heiko hatte eine besondere Verbindung zu ihnen, weil er vor Jahren in jener Greifenwarte gearbeitet hatte, die die ersten Geierpärchen in dieser Region wieder ausgewildert hatte. Einst waren sie hier Heimisch gewesen, doch der Mensch hatte sie vollkommen ausgerottet. Seit ihrer Wiederauswilderung hatten sie sich jedoch wieder recht gut verbreitet und so konnte man immer wieder den einen oder anderen fliegenden Riesen erblicken. Heiko machte mich darauf aufmerksam, wie unterschiedlich sich die Tiere hier verhielten. Vor allem bei den Vögeln konnte man erkennen, dass sie durch die Zivilisation ein völlig neues Verhalten angenommen hatten. Überall dort, wo es Straßen, Städte und andere vom Menschen erschaffene Lärmbringer gab, schrien sie sich fast die Seele aus dem Leib. Es gab nur wenige Tiere, die sich dazu entschlossen hatten, der Zivilisation zu folgen. Mehr als 90% aller Arten mieden den Menschen wie die Pest und versuchten ihm so gut wie nur irgend möglich aus dem Weg zu gehen. Das führte vor allem in Europa dazu, dass sie aufgrund der Wenigen Rückzugsmöglichkeiten immer seltener Wurden. Einige Tiere jedoch hatten eine andere Strategie gewählt, um überleben zu können. Sie wurden zu sogenannten Zivilisationsfolgern und suchten ganz bewusst die Nähe der Menschen und ihrer Errungenschaften. Das spannende dabei war, dass sie dadurch auch das Verhalten der Menschen immer mehr imitierten. Sie wurden lauter, überfutterten sich, verloren ihre natürlichen Instinkte und ihre Fluchtdistanzen und wurden weniger Aufmerksam. Kurz gesagt eigneten sie sich lauter Angewohnheiten an, die in einer natürlichen Umgebung ihren sicheren Tod bedeutet hätten. Doch innerhalb der Zivilisation gab es keine natürlichen Feinde mehr. Selbst wenn es unter ihnen Kulturfolger gegeben hatte, dann hatte der Mensch sie mit aller Macht zurückgedrängt oder getötet. Warum sollte man als Taube, Ratte oder Maise in einer Stadt also noch aufmerksam sein. Im Wald lebende Tauben gehören wohl zu den raffiniertesten und intelligentesten Vögeln unserer Region. Diejenigen, die in der Stadt leben zählen hingegen wohl zu den dümmsten. Wenn man will, kann man sie mit der Hand fangen, ohne sich dabei auch nur anzustrengen.

Da wir jedoch keine Tauben fangen, sondern die Pyrenäen überwinden wollten, mussten wir uns ordentlich anstrengen. Wir kamen nun zum steilsten und schwierigsten Stück, das uns in einer langen Schlamm- und Geröllhalde steil nach oben führte. Die hälfte des Weges bestand aus einem Bachlauf und die andere war nur halb so breit wie unsere Wagen. Damit es nicht zu leicht wurde, kamen immer wieder Zaungatter, die man mit einer Hand öffnen musste, während man die 45kg, die gerne zurück nach unten wollten, mit der anderen festhielt. Der Weg war außerdem so holprig, dass wir die Wagen abschnallen mussten, um das Risiko zu verringern, dass sie uns kippten. Als wir endlich oben waren, war ich so kaputt, dass ich mich auf den Boden setzte und keinen Schritt mehr weiter wollte. Doch oben war lange noch nicht oben. Wir hatten lediglich das Ende des Trampelpfades erreicht. Von hier aus ging es weiter auf der Straße bergan bis nach Itziar. Dort trafen wir auf den Deutschen und die Italienerin, die sich in einer Bar erholten. Auch ich bat dort um etwas zu Essen und wir bekamen eine Suppe und Frikadellen in Tomatensauce. Damit war unser Wurstsandwich-Fluch gebrochen. Während wir uns stärkten, kamen zwei Pilger aus Frankreich vorbei. Es war faszinierend, wie schnell wir mit ihnen im Gespräch waren und wie herzlich der Kontakt sofort wieder war, obwohl wir kaum miteinander reden konnten. Die beiden stammten aus einem kleinen Ort südlich von Perigeux, durch den wir vor einiger Zeit gewandert waren und sie freuten sich so darüber, dass sie uns sogar einen 10€-Schein schenkten. Mit dem erreichen von Itziar haben wir das schlimmste im Aufstieg hinter uns gebracht. Von hier an ging es fast nur noch bergab. Es war noch immer genauso steil und holprig, aber jetzt waren unsere Wagen ein deutlicher Vorteil. Mit einem Rucksack musste man alles Gewicht mit den Knien abbremsen. Wir hingegen konnten uns durch den Wagen bremsen lassen und abgesehen von einem leichten Krampf in der Hand wurde der Abstieg somit zu einer Entspannungsphase. Über viele Meter hüpfte dabei eine Kohlmeise immer neben uns auf einem Zaun herum, so als wollte sie uns etwas zeigen oder als wollte sie uns etwas erzählen. Erst als Heiko laut aussprach, dass dies wahrscheinlich kein natürliches Verhalten einer Kohlmeise war, flog sie davon. Was sie uns sagen wollte, wissen wir noch nicht, aber wir sollten unbedingt einmal nachschlagen, welche Botschaften diese Vögel als Tierboten übermitteln.

Unten im Tal befand sich Deba, die Stadt in der wir gerne schlafen wollten, falls es möglich war, hier schnell und einfach etwas aufzutreiben. Für Pilger gab es eine Herberge, die das ganze Jahr geöffnet hatte und zu der man den Schlüssel in der Touristeninformation abholen konnte. Vorausgesetzt man bezahlte fünf Euro. Falls die Touristeninformation geschlossen haben sollte, musste man sich an die Polizei wenden. Die Öffnungszeiten der Information am Nachmittag waren zwischen 17:00 und 20:00. Da wir gegen 16:00 eintrafen, gingen wir also zur Polizei weiter, um dort festzustellen, dass diese ebenfalls erst um 17:00 öffnete. Wir warteten die Stunde in einem kleinen Park und kehrten dann wieder zur Polizei zurück. Die Polizistin war meiner Bitte um einen kostenlosen Schlafplatz gegenüber recht aufgeschlossen, konnte jedoch selbst nichts entscheiden. Sie rief in der Herberge an, wo sie eine Frau erreichte, die ebenfalls glaubte, nichts entscheiden zu können und so lehnten sie uns schließlich ab. Als ich wieder auf die Straße trat, kamen gerade unsere beiden Franzosen zusammen mit einem Pilger aus Deutschland vorbei. Der junge Mann aus Frankfurt hieß Nico und beschloss nach einem kurzen Gespräch, uns auf eine Übernachtung in der Herberge einzuladen. Wir hatten also doch wieder Glück! Und das gerade rechtzeitig, denn kurz nachdem wir die Herberge erreicht hatten, fing es wieder mächtig an zu schütten.

Spruch des Tages: Eine verrückte Idee bleibt in den Köpfen der Leute, was du verstanden hast, vergisst du sofort. (Christoph Schlingensief)

Höhenmeter: 500m

Tagesetappe 16 km

Gesamtstrecke: 2288,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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