Alpines Extrempilgern

von Franz Bujor
26.04.2014 00:01 Uhr

Die Herberge lag ein gutes Stück oberhalb des Stadtzentrums am Berg. Sehr zu unserer Freude gab es zwei Fahrstühle mit denen wir fast die ganze Strecke per Knopfdruck überwinden konnten. Das letzte Stück bis zur Tür bestand jedoch aus einer Steilen Kopfsteinpflasterstraße, die immer wieder durch Stufen unterbrochen wurde. An zwei stellen gab es außerdem tiefe, ca. 30cm breite Querrillen in denen das Wasser abfließen konnte. Für unsere Wagen war dies eine kaum überwindbare Herausforderung, vor allem deshalb, weil das Kopfsteinpflaster vom Regen ganz glitschig geworden war. Heiko rutschte auf halber Strecke ab und sein Wagen kippte seitlich in einen Graben, wobei er Heiko fast mit sich mitriss. Zum Glück war Nico dabei und konnte erst Heiko und dann mich retten. Um in die Herberge zu gelangen musste man am Ende noch eine kurze, gewundene Treppe hinauf und dann durch eine Tür, die sich von selbst wieder schloss. Direkt hinter dieser Tür ging es rechts in den Fahrradraum. Alles war so eng, dass man es mit Pilgerwagen und Fahrrädern kaum bewältigen konnte.

Die Herberge selbst war wohl die heruntergekommenste, die wir je gesehen hatten. Sie musste Früher einmal eine Schule gewesen sein und war nun mehr oder weniger dem Verfall preisgegeben worden. Im Flur hatte man weiße Papierbahnen an die Wände geklebt, um den zentimeterdicken Schimmel zu verstecken, der sich dahinter befand. Eine Küche gab es nicht, dafür aber eine tiefe Rinne, die Quer durch den Gang verlief und dazu diente, das Wasser aufzufangen, das durch die Decke hereinregnete. Insgesamt gab es 5 Schlafsäle mit je ca. 20 Betten. Nach einem kurzen Blick in die Massenunterkunft entschieden wir uns, unser Lager im Fahrradraum aufzuschlagen. Dort hatten wir unsere Ruhe, waren für uns und niemand weckte uns in der Früh, weil er meinte bereits vor Sonnenaufgang lospilgern zu müssen. Von unserem Fenster aus konnten wir auf das Dach der unteren Etage des Gebäudes blicken. Dort hatte sich das Wasser bereits etwa 30 Zentimeter hoch angestaut. Kein Wunder also, dass es hier durchregnete.

Nico lud uns auf eine Pizza im Ort ein und so packten wir uns wieder wasserfest ein und nahmen den Fahrstuhl zurück nach unten. Wir fanden eine kleine Pizzeria, die von zwei Brüdern aus Pakistan geführt wurde. Wie lange hatten wir schon keine richtige Pizza mehr gegessen? Noch dazu eine so gute mit einer so leckeren Chilisauce! Wir erzählten Nico von unseren früheren Projekten und kamen über unsere Landstreichertour auch auf das Thema Drogenverkauf in Frankfurt. Als wir in der Finanzhauptstadt als Obdachlose unterwegs waren und unter anderem auch mit Dealern gesprochen hatten, waren wir entsetzt gewesen, wie offen der Handel mit harten Drogen dort ausgetragen wurde. Im Rotlichtviertel, das sich zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bankenviertel befindet, war es schwieriger gewesen an ein Taschentuch zu kommen, als an Heroin, Kokain oder Christel Mess. Nico war in Frankfurt aufgewachsen und hatte daher auch mitbekommen, wie es früher in dieser Szene zugegangen war. „Es hat Zeiten gegeben,“ erzählte er, „in denen die Dealer offen auf einer Anhöhe im Park gestanden haben, und von dort ihre Preise herunter schrien. Sie waren wie Marktschreier auf einem Wochenmarkt und haben sich gegenseitig unterboten. Heute ist es dagegen fast verdeckt, wie es abläuft.“

Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von Nico. Er wollte bereits früh aufbrechen und mindestens 30 Kilometer schaffen. Am Samstag flog sein Flieger zurück nach Frankfurt und bis dahin wollte er möglichst noch einiges vom Weg schaffen. Unser Wanderführer schlug für uns ebenfalls eine Strecke mit 31 Kilometern vor, doch wir wussten bereits jetzt, dass wir sie nicht ganz gehen würden. Auch entschieden wir uns, zumindest für den Anfang gegen den Jakobsweg und folgten der Straße am Meer entlang. Auf diese Weise wollten wir uns die besonders steilen Anstiege sparen. Das gelang uns auch zum Teil, doch nach einiger Zeit wurde uns klar, dass wir um den höchsten Punkt der Tagesetappe nicht herumkommen würden. Die Straße verlief zwar flacher, doch sie führte schließlich genauso nach oben, wie der Weg. Nur dauerte der anstieg bei uns vier Kilometer. Dann erreichten wir ein kleines Dorf und von hier aus gab es keine Alternative zum gelb Markierten Camino del Norte mehr. Unser Pilgerführer beschrieb den Weg ab hier mit etwa den folgenden Worten: „Der unendlich erscheinende Steile und äußerst anstrengende Aufstieg endet an einer kleinen Bergkuppe nur scheinbar. Von hier aus geht es auf einem steilen, steinigen und bei feuchtem Wetter meist rutschigen Wanderpfad weiter den Berg hinauf, bis auf eine Höhe von 496 Metern. Anschließend wird es flacher und der Weg führt auf der Hochebene im leichten Auf und Ab weiter auf dem Kamm entlang.“ Diese Beschreibung war sowohl besorgniserregend als auch untertrieben. Gegen das, was wir heute bewältigen mussten, kamen uns die 2000 Kilometer bis hier her wie ein Spaziergang vor. Dies hatte nichts mehr mit Pilgern im Sinne einer Wanderung zur geistigen Einkehr zu tun. Dies war eine Hochgebirgs-Treckingtour mit einem Schwierigkeitsgrad von mindestens Stufe drei. Sie ohne jedes Gepäck zu wandern, war bereits eine Herausforderung, doch mit 45 Kilo die einem am Hintern hingen war es ein Hardcore-Krafttraining. Wobei ich natürlich sagen muss, dass wir mit absolut einzigartigen Ausblicken und einer wunderschönen Naturlandschaft belohnt wurden. Dennoch fragten wir uns, ob wohl ein tieferer Sinn dahinter steckte, dass der Jakobsweg von allen möglichen Strecken immer die höchste, steilste und am schlechtesten ausgebaute Route wählte. Theoretisch sollte der Weg sowohl zu Fuß als auch mit dem Pferd und dem Fahrrad zu bewältigen sein, doch für die letzten beiden Varianten war er absolut ungeeignet, wenn nicht sogar lebensgefährlich. Wieso musste es immer die härteste Strecke sein? Klar, sie war wunderschön, aber das war der befestigte weg weiter unten am Hang auch. Es kam uns so vor, als wollte man den Pilgern mit dem Weg deutlich machen, dass sie sich auf einer Reise der Buße befanden. Es schien wirklich eine Art Karzer zu sein, bei der man für seine Sünden bestraft wurde. Was immer für Sünden es auch sein mochten.

Während wir darüber nachdachten, fiel mir eine Aussage ein, die der Herbergsleiter in Zumaia bei meinem Gespräch mit ihm hatte fallen lassen: „Es kommen so viele arme Menschen zu mir, die alle für die Übernachtung bezahlen, warum sollte ich da bei euch eine Ausnahme machen?“

Die Frage war natürlich berechtigt. Aber wenn man uns einmal außen vor lässt und nur auf das achtet was er damit eigentlich gesagt hat, dann war es schon eine sehr traurige Aussage. Es gibt sehr viel Armut hier und sehr viele Menschen, die versuchen ihr Leben durch eine Pilgerreise in eine neue Richtung zu lenken. Doch egal was auch immer ihre Geschichte ist, es zählt nur, ob sie genug Geld für eine Übernachtung haben oder nicht. Es gibt keinen anderen Wert mehr, der eine Wichtigkeit besitzt. Vielleicht sind einige unter ihnen, die einen wichtigen Beitrag zum Leben des Herbergsleiters leisten könnten oder zum Leben der anderen Pilger, doch es wird nicht mehr danach gefragt. Früher waren diejenigen, die das Wissen aus der Welt zusammentrugen und unter den Menschen verbreiteten hoch geachtet. Auch die Friedensstifter, deren Aufgabe es war, darauf zu achten, dass die Gesellschaft in Harmonie lebte. Auch Heiler waren Menschen, die zu ihrer Aufgabe berufen wurde, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung verlangten.  Heute werden diese Aufgaben von Wissenschaftlern, Politikern und Ärzten übernommen, die dafür bezahlt werden. Doch wie soll jemand objektiv auf das Wohl aller achten, wenn er einen persönlichen Nutzen aus Unwissenheit und Unfrieden und Krankheit zieht? Ist diese Idee nicht schon von sich aus zum Scheitern verurteilt? Der Herbergsleiter hatte für unser Leben als Heiler ohne Geld nichts als Verachtung übrig. Das mochte zum Teil daran liegen, dass ich mich nicht richtig ausdrücken konnte, aber zum größeren Teil lag es auch an seiner eigenen Einstellung zu diesem Thema. Eine Einstellung, die gut verständlich ist, aber auch sehr gefährlich, wenn man bedenkt, dass auf diese Weise Werte wie Nächstenliebe, gegenseitige Unterstützung und wahrhaft hilfreich zu sein immer mehr verloren gehen.

Nachdem wir den höchsten Punkt des Berges erreicht und hinter uns gelassen hatten, waren es noch immer neun Kilometer bis zu unserem Tagesziel. Dem selbstgewählten natürlich. Das was unser Wanderführer vorgeschlagen hatte, lag noch weitere 8 Kilometer hinter dieser Stadt. Immer wieder glaubten wir, nun endlich an einer Stelle angekommen zu sein, von der aus uns der Weg ins Tal führen würde. Doch immer wieder ging es bergauf. Der Weg führte und durch Pfützen und Flüsse, über Felsen, die höher waren als unsere Wagen, durch Längsrillen, die fast einen halben Meter tief waren und über Lehmfelder auf denen man kaum laufen konnte. Als wir den Abstieg schließlich erreichten, waren wir wieder einmal froh über unsere Scheibenbremsen. Ohne diese hätten uns die Wagen erbarmungslos überrollt.

Im Tal kamen wir an einer kleinen Kirche vorbei, vor der wir eine Gruppe Jesuiten trafen. Sie hatten sich hier versammelt, weil sie kurz vor dem Abschluss einer Eingewöhnungszeit standen, nach derer sie als Priester anerkannt wurden. In der Kirche befanden sich drei riesige Felsbrocken, die laut ihrer Aussage von einem Meteoriten stammten. Die Kirche war zu ihrem Schutz erbaut worden. Einer der Jesuiten erzählte uns eine Geschichte, die sich um die Steine rankte. Ich verstand sie nicht ganz aber es ging dabei um den Kampf eines Heiligen gegen einige Dämonen. Um es deutlicher zu machen Tanzte er uns einen Teil der Geschichte vor.

In Markina-Xemein trafen wir wieder einmal auf zwei Polizisten, die uns zu einer Herberge lotsten. Eine junge und etwas hektische Frau öffnete uns und ließ uns sofort herein. Ich kam nicht einmal dazu, ganz zu erklären wer wir waren. Sie hatte die Herberge von ihrem Vater übernommen, der vor einer Woche verstorben war. Für später lud sie uns ein, mit ihr zu essen, damit wir ihr etwas über Heilpflanzen erzählen können. Es scheint also, als hätten wir das Eis endlich gebrochen. Langsam bekommen wir wirklich einen guten Kontakt zu den Einheimischen.

Spruch des Tages: Viel höher kann es nicht mehr gehen, da vorne ist schon der Himmel.

 

Höhenmeter: 1000m rauf und 770m runter.

Tagesetappe 23 km

Gesamtstrecke: 22311,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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