Tag 1141: Kiefernplantagen

von Heiko Gärtner
12.03.2017 00:22 Uhr

13.02.2017

Also wenn das hier wirklich ein Vorgeschmack auf Amerika ist, dann kommt da noch einiges auf uns zu. Heute war unsere Strecke rund 30km lang und das nahezu ohne eine Wendung, Abzweigung, Kurve oder Veränderung. Lediglich einmal mussten wir ein wenig im Karree laufen, weil der Weg vor uns, den wir eigentlich hätten nehmen wollen, im Sand versackte. Dadurch mussten wir zwar einen Umweg von fast fünf Kilometern in Kauf nehmen, aber trotzdem freuten wir uns fast etwas darüber, da wir nun zumindest ein bisschen Abwechslung hatten. Ansonsten gab es heute nichts außer Sturm, einem grauen Himmel und Kiefern, die man wie übergroße Maispflanzen in Reih und Glied nebeneinander gesetzt hatte. Offiziell betrachtet war dies ein Wald, denn laut Definition ist alles ein Wald, das die Voraussetzung „bestockte Fläche“ erfüllt.

Doch das Lexikon macht es sich hier ein bisschen einfach. Ein Wald ist weit mehr als eine Aneinanderreihung von Bäumen, die jegliche Individualität verlieren, weil man sie zum Massengut degradiert. Wenn man ehrlich war, gab es hier keine Wälder sondern nur Felder mit Kiefern darauf. Es war ebenso wenig ein Wald, wie ein Weizenfeld eine Blumenwiese war. Klar, Weizen gehört zu den Gräsern und so gesehen ist auch ein solches Feld eigentlich eine Wiese, und doch sind die beiden kaum miteinander vergleichbar. Wäre dies ein echter Wald, wäre es wahrscheinlich einer der beeindruckendsten in ganz Europa, denn er erstreckt sich über eine unwahrscheinlich große Fläche und füllt den gesamten Bereich zwischen Bordeaux und der Küste aus. Beeindruckend war es nun natürlich trotzdem, aber auf eine andere Art. Es hatte nichts wildes, ursprüngliches, natürliches, sondern repräsentierte viel mehr die immensen Ausmaße unserer gigantischen Überproduktion an nahezu allem. Als wir in Rumänien mehrere Tage lang durch ein einziges Maisfeld wanderten, waren wir überzeugt davon, dass dies nun nicht mehr steigerbar war. Doch wir hatten uns geirrt. Das hier war noch einmal deutlich extremer und wir hätten nie gedacht, dass wir das ausgerechnet über eine Region in Frankreich sagen würden. So viel wir auf der schier endlosen Strecke auch grübelten, auf zwei Fragen konnten wir keine Antwort finden. Erstens: Wieso hatte diese Region hier den Ruf bekommen, die beste Weinbauregion der Welt zu sein? Brauchte man dafür nicht zumindest irgendwo einmal eine Weinplantage? Oder wurde der Wein hier aus Pinienzapfen gewonnen? Zweitens: Was um Himmelswillen machte man mit so viel Kiefernholz? Es ist weitgehend ungeeignet für die Holzverarbeitung, vor allem, da die Bäume bereits sehr früh „geerntet“ wurden, so dass ihre Stammdicke kaum reichte, um auch nur Fußleisten daraus zu machen. Auch als Brennholz ist es nicht gerade ideal, da es einen relativ geringen Brennwert hat und außerdem harzt, knackt und spritzt. Für die offenen Kamine, die hier in Frankreich hauptsächlich in den Häusern anzutreffen sind, gibt es also kaum etwas ungünstigeres. Jedenfalls dann, wenn man seine Teppiche, Decken und Polstermöbel mag. Andererseits muss man natürlich sagen, dass die Kamine so schlecht heizen, dass ein Möbelbrand wohl die einzige Möglichkeit ist, sein Wohnzimmer einigermaßen warm zu bekommen. So gesehen ist das Kiefernholz dann schon wieder ideal.

Doch so grau, öde und trostlos die Monokultur-Ebene hier auch auf den ersten Blick wirkte, sie war doch voller Leben. Auf den Sandwegen konnte man auf kurzer Distanz verschiedenste Spuren erkennen. Innerhalb der letzten paar Stunden waren wir mindestens ein Dachs, mehrere Kaninchen, einige Rehe, ein Fuchs und einige beachtliche Wildschweine vorbeigekommen. Entlang der Straße entdeckten wir außerdem einen Kaninchenbau, der durchaus ein ganzes Rudel beherbergen konnte. Ein Kaninchen sahen wir auch, aber das war schon seit ein paar Tagen tot. Anders erging es hingegen den Rehen, die für ein paar Hundert Meter neben uns durch den jungen Kiefernforst sprangen und die nicht nur quicklebendig sondern auch sehr vergnügt unterwegs waren. Die häufigsten Tiere, denen wir jedoch begegneten, waren die Kraniche, die gerade von ihrem Winterurlaub in Afrika zurückkehrten. Sie wirkten ein bisschen so, als bereuten sie ihre Entscheidung, nicht doch noch ein oder zwei Wochen geblieben zu sein.

Spätestens um 13:00 Uhr hatten wir jede Hoffnung aufgegeben, jemals wieder aus diesen Kiefernplantagen herauszukommen. Der Weg war endlos und wenn wir von einem Auto überholt wurden, dann konnten wir es teilweise noch zehn Minuten lang sehen, bis es am Horizont verschwand. Irgendwann erreichten wir eine Stelle, an der die Straße einen leichten Knick machte. Erwartungsvoll steuerten wir darauf zu. Was mochte uns wohl dahinter erwarten? Lag da vielleicht schon unser Dorf? Nein! Wie man hätte vermuten können, lagen dahinter Kieferhaine, die sich ebenfalls wieder in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckten. Es dauerte erneut eine gefühlte Ewigkeit, bis wir das Dorf erreichten. Dann aber ging alles sehr schnell. Die Frau im Rathaus nickte nur kurz, drückte mir einen Schlüssel in die Hand und meinte: „Das Gebäude gegenüber, erster Stock! Morgen könnt ihr mir den Schlüssel einfach in den Briefkasten werfen. Das war alles.

Spruch des Tages: Ab wann ist ein Wald ein Wald?

Höhenmeter: 50 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 20.876,27 km Wetter: sonnig, sommerlich und warm Etappenziel: Obdachlosenwohnung, 33113 Saint-Symphorien, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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