Tag 1147: Morgenstund' hat Lärm im Mund

von Heiko Gärtner
16.03.2017 16:11 Uhr

21.02.2017

Wenn wir gedacht hatten, dass wir mit unserem frühen Aufbruch die angenehm stille Atmosphäre des Morgens einfangen konnten, dann hatten wir uns geschnitten. Jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, also zu der Tageszeit, die eigentlich die friedlichste und ruhigste überhaupt sein sollte, war auf den Straßen die Hölle los. Es herrschte Berufsverkehr hoch zehn, denn fast jeder in den kleinen Orten arbeitete in Bordeaux und musste daher genau wie wir in aller Herrgottsfrühe aufstehen, damit er es rechtzeitig bis um 8:00 ins Büro schaffen konnte. Selbst die kleinsten Nebenstraßen waren nun so sehr überlaufen, dass wir fast schon den Straßengraben als eine sinnvolle und sichere Alternative ansahen. Die Sträßchen waren so schmal, das ein Auto kaum darauf Platz fand und doch folgte eines aufs nächste. Dann, um kurz nach halb neun war der Spuk wieder vorbei und die Straßen waren wieder leer wie immer. Da soll noch einer sagen, der frühe Vogel fange den Wurm! Bei der Anzahl an frühen Vögeln herrscht am Morgen ein Ansturm auf die Würmer, der nur noch mit dem Schnäppchenkrieg am Grabbeltisch zum Winterschlussverkauf vergleichbar ist. Da ist man mit einem Tagesstart um 9:00 schon deutlich besser dran.

Der Ort, von dem aus die Fähre über die Meerenge führte, die unsere Halbinsel vom restlichen Frankreich trennte, war nahezu ausgestorben. Die Straßen waren leer, die Fensterläden verrammelt und die kleinen Geschäfte hatten geschlossen. An der Kirche hing ein gut zwei Meter großes Schild mit der Aufschrift „Besucht unsere Kirche!“ Heiko kam der Aufforderung nach und wollte ein Foto machen, musste aber feststellen, dass auch die Kirchentür verschlossen war. Ob es für die Steigerung der Kirchenbesucherzahlen nicht doch besser gewesen wäre, in einen Schlüsselbeauftragten anstatt in das Werbeschild zu investieren? Man weiß es nicht.

Wir erreichten die Fähranlegestelle eine knappe Dreiviertelstunde vor Ankunft des Bootes und hatten damit gerade noch genug Zeit für ein entspanntes und ausgiebiges Picknick. Jetzt verstanden wir auch, warum die Fähre nur zu diesen unmöglichen Zeiten unterwegs war und gerade die Hauptzeiten ausließ. Die Meerenge gehörte zum Atlantik und dieser war an die Regeln von Ebbe und Flut gebunden. Jetzt um halb elf war gerade noch ausreichend Wasser vor uns, so dass ein Schiff darauf fahren konnte. Nur eine Stunde später war hier nichts weiter als tiefer, brauner, klebriger Schlamm.

Die Überfahrt selbst war keine besonders spektakuläre und aufregende Sache. Wir gingen an Bord, lernten eine junge Familie kennen, die uns je eine heiße Schokolade spendierte und schlenderten eine halbe Stunde später auf der anderen Seite wieder aufs Festland. Die junge Familie war gerade auf dem Weg in die Normandie, wo sie für die Faschingsferien die Großeltern besuchen wollten. Sie gaben uns die Adresse und luden uns ein, auf unsrem Weg nach England einmal vorbei zu schauen. Die Großeltern hatten einen großen Hof und ausreichend Platz, um Reisende zu beherbergen. Zum Abschied spendeten uns die beiden noch 20€, die sie uns mit auf den Weg gaben. Dabei fiel uns auf, dass wir bereits seit sehr langer Zeit fast keine Spenden mehr unterm Wandern bekommen hatten. Im Moment kamen wir ja auch ohne sehr gut zurecht, aber wir sahen ein bisschen besorgt unserer Überfahrt nach Großbritannien entgegen.

Keine der Fährgesellschaften hatte bislang auf unsere Sponsoring-Anfragen reagiert und so wie es aussah, brauchten wir hier wohl doch noch einmal etwas Unterstützung von einer anderen Seite. Deswegen kam mir gerade der Gedanke, ob ich mich hier nicht noch einmal an euch wenden sollte. Viele von euch haben uns ja bereits in der Vergangenheit immer wieder bei Engpässen unterstützt und vielleicht hat ja der eine oder die andere Lust es auch in diesem Fall wieder zu tun. Eine Überfahrt für eine Person kostet rund 35€. Wenn uns jemand von euch mit einem Anteil davon oder auch direkt mit einem Ticket unterstützen würde, wäre das großartig! Die Meerenge schien eine Art Wettergrenze zu sein, denn auf dieser Seite des großen Wassers war es nun grau, trübe und regnerisch. Blaye, so hieß die Stadt, in der wir von Bord gegangen waren, hatte sogar einiges an Touristenattraktionen zu bieten, aber im Moment war es uns einfach zu ungemütlich, um hier noch großartig bummeln zu gehen. Stattdessen kehrten wir der Stadt den Rücken zu um uns einen Schlafplatz in einem kleinen Ort weiter im Norden zu suchen. Als wir schließlich fündig wurden, waren wir bereits nass und kalt und freuten uns über das zumindest teilweise warme Innere der kleinen Pilgerherberge, die wir bekamen.

Mit Ausnahme eines einzigen, kleinen Details war unsere Herberge eine nette und angenehme Unterkunft, die man auch anderen Pilgern durchaus empfehlen kann. Es gab funktionierende Heizungen, eine kleine Küche, stabile, saubere Betten und Fenster durch die man nicht den ganzen Straßenlärm hörte. Alles war top, eben bis auf diese eine kleine Sache. Aber die konnte einem als Pilger, vor allem wenn man nicht der einzige Gast dieser Herberge war durchaus den Tag vermiesen. Der Wasserdruck, den man hier aus den Leitungen bekam, ähnelte dem Nieselregen vor unserer Haustür. Irgendwie wurde man schon nass davon, aber einen wirklichen Druck spürte man nicht. Beim Waschbecken und unter der Dusche war das etwas lästig, aber nicht weiter dramatisch. Schwierig wurde es jedoch beim Klo, denn hier war es unmöglich, irgendetwas, und sei es auch nur ein Fetzen Klopapier, damit hinunterzuspülen. Wer also sein Geschäft erledigt hatte und anschließend auf den Spülknopf drückte, sah sich am Ende noch genau so den erledigten Tatsachen gegenüber, wie vor der Spülung. Man konnte aber auch nicht einfach ein weiteres Mal auf den Knopf drücken, denn nun dauerte es gut eine halbe Stunde, bis der Kasten wieder vollgelaufen war. Selbst wenn man diese Zeit im Klo ausharrte und dann ein weiteres Mal spülte, war man immer noch nicht weiter, denn egal wie oft man die Spülung auch drückte, sie beseitigte nicht das geringste. Die Einzige Möglichkeit, die Toilette wieder von den eigenen Hinterlassenschaften zu befreien, war der Putzeimer im Flur. Doch auch damit hatte man seine Schwierigkeiten.

Die Toilette war aus irgendeinem Grund so konstruiert worden, dass es einen Rückspüleffekt gab, wenn man Wasser in sie hinein goss. Es konnte also passieren, dass man nach dem Fluten mit dem Wasserkübel nicht nur noch immer seine eigene Wurst erblickte, sondern vielleicht sogar eine weitere aus den Untiefen der Toilette hervorgezaubert hatte. Heiko und ich nahmen die ganze Sache recht humorvoll, was uns vor allem deshalb gelang, da wir nun bereits so lange mit einander unterwegs waren, dass jeder so ziemlich alles über den Stuhlgang des anderen wusste und es hier zwischen uns keine Peinlichkeiten mehr gab. Wenn ich mir aber vorstellte, ein junger Pilger zu sein, der hier in der Herberge nach langer Zeit der Einsamkeit zum ersten Mal auf eine junge Pilgerin traf und dann feststellen musste, dass sein Stoffwechselendprodukt das erste war, das sie von ihm kennen lernte, dann konnte einen das schon ganz schön ins Schwitzen bringen.

Spruch des Tages: Morgenstund' hat Lärm im Mund

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 21.011,27 km Wetter: bewölkt Etappenziel: altes Pfarhaus, 33480 Castelnau-de-Médoc, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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