Kleinkriege

von Franz Bujor
27.04.2014 22:25 Uhr

Nachdem wir unsere Betten eingerichtet hatten, brachen wir noch einmal zu einer kleinen Stadtbesichtigung auf. Markina-Xemein war deutlich kleiner, als es am Anfang gewirkt hatte und außer der Kirche und ein paar kleinen Bars gab es nicht viel zu sehen. Die Stadt war fast genauso aufgebaut wie die, die wir zuvor in Spanien gesehen hatten. Es gab große Wohnblocks, die sich auf kleiner Fläche verteilten und die meist mit Gafity übersäht waren. In einer Tapasbar fragten nach etwas zu Essen und waren über das Ergebnis mehr als positiv Überrascht. Überall auf der Theke verteilt standen Teller mit kleinen Sandwiches, Brötchen, Kuchen und anderen Leckereien, von denen wir uns etwas aussuchen durften. „Wenn ihr noch mehr wollt, gebt einfach bescheid!“ sagte der Mann und wünschte uns einen guten Appetit. Da in der Bar eine fast unerträgliche Lautstärke herrschte aßen wir im Freien. Vor der Bar befand sich eine Hauptstraße und trotzdem war es hier deutlich Ruhiger und angenehmer als innen, bei Musik und lautstarken Unterhaltungen. Die Mentalität in dieser Region ist schon eine sehr eigene. Zwei Mal holten wir uns Nachschlag und jedes Mal waren wir begeistert von dem was wir bekamen. Dann waren wir fürs erste gesättigt und wir mussten ja auch noch Platz lassen, für dass was wir später von unserer Herbergsleiterin Juana bekommen würden.

Mit dieser trafen wir uns gegen 22:00 in der Küche. Sie machte einen typisch baskischen Tortilla den wir gemeinsam mit ihr und zwei ihrer Freunde aßen. Sie erzählte uns, dass sie die Herberge gemeinsam mit ihrem Vater geleitet hatte. Seit dieser gestorben war, war sie nun alleine dafür verantwortlich. Ihr Vater hatte oft versucht, sie zu überreden den Jakobsweg zu machen, doch sie hatte sich nie besonders dafür interessiert. Nach seinem Tod hatte sie ihm jedoch versprochen, seine Urne nach Santiago zu tragen. Im Oktober würde sie aufbrechen. Wir sprachen viel über den Tod und darüber dass im Universum niemals etwas verloren ging. Heiko erzählte von seinem Besuch bei den Maori und bei anderen Völkern, in denen es das normalste der Welt war, mit den Toten zu kommunizieren. Lediglich in unserer Kultur glauben wir, dass mit dem Tod alles vorbei ist. Unserer Gastgeberin viel es schwer, ihre Trauer um ihren Vater zuzulassen und anzunehmen. Sie hatte es noch nicht wirklich realisiert, dass er aus ihrem Leben verschwunden war. Manchmal, sagte sie, habe sie das Gefühl, er sei einfach nur im Urlaub und würde jeden Moment durch die Tür hereinkommen. Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte sie so gut wie keinen und so waren ihre beiden besten Freunde ihre einzige Familie. Diese waren auch wirklich für sie da und einer von ihnen blieb sogar die ganze Nacht, damit sie nicht alleine war.

Wir saßen noch bis um 00:00 zusammen, während alle anderen Pilger bereits im Bett lagen und versuchten zu schlafen. Im Nebenzimmer lief der Fernseher und von draußen kamen die Stimmen der Menschen auf der Straße herein, als gäbe es überhaupt keine Wände. Auch die junge Frau und ihre Freunde redeten und lachten, als wären wir vollkommen alleine im Haus. In Deutschland wäre so etwas nicht möglich gewesen, ohne dass nach zwei Minuten sämtliche Gäste auf der Matte gestanden, sich beschwert und ihr Geld zurückverlangt hätten. Hier hingegen war es vollkommen normal.

Um Mitternacht gingen die drei noch einmal aus, um weitere Freunde in der Stadt zu treffen. Im Gehen unterhielten sie die ganze Straße, so dass auch der letzte nun aufgewacht sein musste. Doch keiner nahm eine Notiz davon.

Der Gegenschlag kam erst heute Morgen. Um 6:30 Uhr weckten uns die beiden Pilger, die mit im Zimmer schliefen. „Aufstehen, es ist schon halb sieben!“ riefen sie, „um sieben müssen wir die Herberge verlassen haben!“

Die beiden sprachen nur Französisch und es war, wie erwähnt, mitten in der Nacht und somit viel zu früh um auf dieser Sprache einen verständlichen Satz herauszubringen. Andernfalls hätte ich ihnen erklärt, dass die Herbergsleiterin vorgeschrieben hatte, dass sieben Uhr die aller frühste Zeit zum Aufstehen war und nicht die späteste. So aber kramten sie ihre Sachen zusammen und schlappten nach draußen um die junge Frau zu wecken, die gerade seit drei Stunden im Bett gewesen war. Die anderen Pilger folgten in geringen Abstand.

Auf uns wirkte das ganze so, als gäbe es eine Art Krieg zwischen den Pilgern und den Herbergsleitern, in dem beide Seiten versuchten einander das Leben so schwer wie möglich zu machen. In der Herberge in Irun war es ja nicht anders gewesen, und das, was wir von anderen Pilgern gehört hatten, verstärkte dieses Bild ebenfalls. In Spanien herrschte zwischen den Einheimischen und den Pilgern offenbar eine Art Hassliebe. Auf der einen Seite brauchte man die Wanderer, da sie Geld ins Land brachten. Vor allem im Baskenland, dass zu den ärmsten Regionen Spaniens zählte, ist der Jakobsweg daher eine wichtige Einnahmequelle. Auf der anderen Seite waren die Pilger selbst jedoch nicht gerne gesehen, was aufgrund des hohen Alkoholkonsums vieler Wanderer auch nicht unbedingt verwunderlich war. Andererseits war Alkohol bei den Einheimischen auch sehr beliebt und so hätten sie sich eigentlich gut verstehen können.

Wir fragten uns jedoch auch, ob diese Ambivalenz vielleicht eine typisch baskische Geschichte war. Denn die Basken kämpften bereits seit Jahren für ihre Unabhängigkeit von Spanien. Zum teil wurde dieser Kampf durch Plakate, Flaggen und Demos ausgetragen, sowie durch einen starken Lokalpatriotismus. Alles in dieser Region war sowohl in Spanisch als auch in Baskisch geschrieben, Die Ortsnamen, die Straßenschilder und sogar die Aufschriften der Polizeiuniformen. Oftmals waren die spanischen Namen jedoch durchgestrichen oder übersprayt worden. Auch gab es fast keine freie Hauswand, an die nicht der Umriss des Baskenlandes mit dem Slogan für dessen Unabhängigkeit gesprayt war. Auf Schriftzüge die das Kürzel ETA enthielten las man oft. Wir erinnerten uns vage an einige Schlagzeilen vor ein paar Jahren, in denen es um Terroranschläge in Madrid ging, die im Zusammenhang mit einer Region Spaniens standen, die unabhängig sein wollte. Wenn wir uns nicht sehr täuschten, dann waren wir jetzt also wohl mitten drin.

Das eine Region, die eine eigene Sprache sprach und zum Teil in Frankreich und zum Zeit in Spanien lag unabhängig sein will, lässt sich gut nachvollziehen. Die Grenze, die mitten durch dieses Land verläuft ist künstlich und es ist verständlich, dass sie sich als Minderheit nicht wirklich Zugehörig fühlen. Doch dass dieser Kampf, der heute hauptsächlich in den Köpfen stattfindet, den Menschen hier nicht gut tut, ist auch nicht zu übersehen. In den Städten leben viele Spanier, die nichts von den Basken halten und noch mehr Basken, die am liebsten die Spanier vertreiben würden. Keiner fühlt sich anerkannt oder wertgeschätzt. Hinzu kommt die hohe Armut, für die man leicht die Schuld im Außen suchen kann. Diese Grundstimmung für militante Zwecke und zur Manipulation der Menschen zu nutzen ist ein Leichtes. Dass es immer wieder zu Terroranschlägen kam, wundert da kaum. Und auch wenn es vielleicht etwas weit hergeholt ist und wenn es viele vielleicht nicht gerne lesen werden, so kam in uns doch die Frage auf, ob es nur ein reiner Zufall ist, dass das baskische Kreuz, das Hauptsymbol für die Autonome Region des Baskenlandes, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hakenkreuz aufweist.

Als alle anderen Pilger bereits verschwunden waren, standen auch wir langsam auf. Unsere Gastgeberin hatte uns gesagt, dass wir so lange schlafen könnten, wie wir wollten und da der Abend länger geworden war, nutzten wir das auch gerne aus. In der Küche konnten wir uns mit einem Frühstück stärken und bevor wir aufbrachen wurde ich sogar noch verarztet. Die neuen Schuhe hatten mir zusammen mit den extremen Steigungen und dem vielen Regen ein paar ordentliche Blasen eingebrockt, die nicht abheilen wollten. Damit das Blasenwasser austreten konnte, stach Juana mit einer sterilen Nadel in die Blasen und zog einen Faden hindurch. Dies war die älteste und sanfteste Hausfrauenmethode gegen Blasen. Heiko hatte bei seinem ersten Jakobsweg die brutalere Variante mit Messer und ausdrücken gewählt und diese mit blutigen Füßen bezahlt. Mal sehen, wie es mir mit der anderen Variante ergehen wird.

Als es dann ans Aufbrechen ging, viel es Juana schwer uns gehen zu lassen. Wieder einmal waren wir fasziniert, wie schnell sich die Dinge für uns wandelten. Noch vor einem Tag hatten wir geglaubt, dass wir in Spanien niemals einen positiven Kontakt zu Menschen aufbauen könnten und dass es für uns immer schwerer werden würde, einen Schlafplatz zu finden. Und heute hatten wir nicht nur die Herberge umsonst bekommen, wir waren auch als einzige Gäste zum Abendessen eingeladen worden, hatten uns lange mit der Gastgeberin ausgetauscht und waren fast von ihr adoptiert worden.

Der heutige Tag war von vorne bis hinten verregnet. Hätten wir dieses Wetter gestern gehabt, hätten wir die Strecke niemals bewältigen können. Wir wären einfach irgendwo im Schlamm stecken geblieben und hätten unser Zelt aufbauen müssen. Es war ein bisschen so, als wollte uns das Wetter sagen: „Schaut, was für einen großen Gefallen ich euch gestern getan habe!“

Wir entschieden uns aufgrund unserer Muskelschmerzen, des Wetters und der Tatsache, dass es eine wenig befahrene Straße bis zu unserem Etappenziel gab, gegen den Original-Jakobsweg. Stattdessen folgten wir der Straße und waren damit sehr zufrieden. Die Aussicht war genauso gut nur die Steigungen waren seichter und der Bodenbelag deutlich angenehmer. In Bolibar fragten wir in einer Bar nach einem Picknick. Zunächst wurde ich eiskalt abserviert und an ein Kloster verwiesen, dass es in der Nähe geben sollte. Die seien schließlich dafür da, um sich um mittellose Menschen zu kümmern. Das war durchaus richtig, wenngleich wir am Abend noch deutlich andere Erfahrungen machen sollten. Als wir schon wieder dabei waren weiterzugehen, kam der Barbesitzer noch einmal hinter uns her und rief uns zurück. Einen Kaffee, einen Joghurt und ein paar Kekse wären schon machbar, sagte er. Dazu sagten wir nicht nein. Spannend war, dass er auch nach seiner Zusage nichts von seiner Unfreundlichkeit verlor. Schon öfter hatten wir festgestellt, dass es aus Sicht eines Weltreisenden ohne Geld vier verschiedene Arten von Menschen gab. Es gab diejenigen die freundlich und hilfreich waren. Dies waren uns die liebsten. Dann gab es solche, die freundlich aber überhaupt nicht hilfreich waren. Diese mochten wir nicht besonders, das sie meist viel Zeit kosteten und man am Ende genau da stand, wo man auch zuvor schon war. Die dritte Gruppe bestand aus Menschen wie unserem Barmann. Sie waren unfreundlich, aber halfen trotzdem und das war für uns absolut in Ordnung. Zu guter Letzt gab es dann noch die Menschen, die weder freundlich noch hilfreich waren. Diese versuchen wir so gut wie möglich zu ignorieren.

Kurze Zeit später kamen wir an einer Bushaltestelle vorbei, unter der sich vier Pilger versammelt hatten, die wir bereits von den letzten Tagen her kannten. Zwei davon waren unsere beiden Franzosen und die anderen beiden waren ein Pärchen aus Litauen. Sie hatten sich vollkommen in Plastikregencapes eingehüllt und suchten Schutz vor dem strömenden Regen. Wir waren etwas erstaunt darüber, das wir sie tatsächlich wieder eingeholt hatten, obwohl wir knapp drei Stunden später gestartet sind.

Kurz vor Gernika wurden wir in einer Bar noch einmal zum Essen eingeladen. Die füllige Kellnerin versorgte uns mit leckerem Schinken, Baguettes, Limonade, einer Nachspeise und je einem Tee. Der Fernseher in der Bar zeigte den Wetterbericht für die kommenden Tage. Es war nicht besonders vielversprechend und zeigte viele Regenwolken über unseren Köpfen an. Weiter innen im Baskenland schneite es sogar ab einer Höhe von 1000 Metern. Wer hätte gedacht, dass wir nach dem ganzen, eher warmen Winter jetzt noch Gefahr laufen eingeschneit zu werden? Und das in Spanien?

Die letzte Etappe vor Gernika hielt dann noch einmal eine besondere Überraschung für uns bereit. Leider keine angenehme. Es begann damit, dass Heikos Wagen einen Platten hatte und wir wieder einmal einen Reifen wechseln mussten. Das war zwar nervig aber noch nicht das eigentlich dramatische. Beim Wiedereinbau des Reifens, fiel uns auf, dass einer der Bremsklötze fehlte. Vor nicht einmal drei Wochen hatten wir die neuen Eingebaut und jetzt nach nur drei Tagen Berg- und Talfahrt war einer der Klötze komplett abgefallen. Als wir daraufhin die anderen Bremsen untersuchten merkten wir, dass es dort sogar noch schlimmer aussah. Auf der rechten Seite von Heikos Wagen fehlten beide und bei meinem waren ebenfalls drei von vier komplett abgenutzt bzw. herausgefallen. Plötzlich wurde uns klar, warum das Bremsen am Ende der letzten Etappe so viel anstrengender geworden war, als am Anfang. Ohne die Bremsklötze, wurde die Bremswirkung nur noch durch die Plastikfassung erzielt, die auf die Scheibe drückt. Auf diese Weise wird der Wagen zwar auch gestoppt und es wird auch möglich sein, die nächsten Tage damit weiter zu reisen, doch auf Dauer wird sich die Bremse damit immer weiter abreiben und schließlich selbst zerstören. Vor allem in einem Gelände wie diesem hier, ist das überhaupt keine gute Nachricht. Da wir jedoch nur noch zwei Ersatzklötze haben und davon ausgehen müssen, dass diese auch nicht länger als drei oder vier Tage mit extremen Abstiegen durchhalten, brauchen wir so schnell wie möglich eine andere Lösung.

In Gernika setzte sich unsere Glückssträhne in Sachen positiver Kontakt zu Einheimischen leider nicht fort. Zunächst fragten wir in der Jugendherberge, ob wir kostenlos im Fahrradraum schlafen könnten. In Deba hatte das ja sehr gut funktioniert und war eine angenehme Lösung gewesen. Der junge Mann an der Rezeption erklärte mir, dass er das nicht so einfach machen könne, da ihn sein Chef feuern würde, wenn dieser etwas davon erfuhr. Für mich war das gut nachvollziehbar, doch er fühlte sich damit so schlecht, dass er unbedingt eine Lösung finden wollte. Weil zu viele Ohren um ihn herum waren, führte er mich in einen separaten Raum und dachte dort angestrengt über alle möglichen Szenarios nach. Dabei redete er ein so schnelles Spanisch, dass ich nie wusste, ob er gerade dabei war, mir einen Plan zu erklären, oder Gründe zu nennen, warum er mich doch ablehnen musste. Am Ende war es letzteres und so stand ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder ohne eine Lösung auf der Straße. Der Mann war eindeutig aus der zweiten Kategorie. Er war absolut freundlich und nett gewesen, leider aber nicht hilfreich und es war ihm so schwer gefallen „Nein“ zu sagen, dass er die Situation für uns durch die verlorene Zeit ausversehen noch deutlich schlechter gemacht hatte. In guter Absicht natürlich.

Draußen trafen wir auf zwei Polizisten, die wir ebenfalls um Unterstützung baten. Ihre Antwort war äußerst direkt und ohne jede Umschweife: „In Gernika gibt es nichts umsonst!“

„Was passiert hier mit Obdachlosen? Die müssen doch auch irgendwo schlafen“, fragte ich.

„Ist doch klar! Die schlafen auf der Straße!“ war seine nüchterne Antwort.

Auf meine Frage nach Mönchen, Nonnen oder Pfarrern gab er mir die Adresse eines Klosters. Als wir diese Adresse erreicht hatten öffnete mir eine junge Frau, die nicht im geringsten wie eine Nonne aussah. Wie sie mir versicherte, war sie auch keine. Der Polizist hatte mir die Adresse eines ganz gewöhnlichen Wohnhauses gegeben. Das Kloster befand sich ein Stück weiter die Straße hinunter. Als ich dort klingelte öffnete überhaupt niemand. Ich schaute mich um und entdeckte eine Bettlerin neben dem Eingang einer Kirche. Sie erzählte mir, dass der Gottesdienst gleich beginnen würde, dass ich aber noch Glück haben könnte, zuvor mit einer Nonne zu sprechen. In der Kirche traf ich auf einen Pfarrer, der mich in einen Nebenraum führte. Was ich hier erlebte, kann ich noch immer kaum fassen. In der Wand befand sich eine Art durchreiche, die mit einer Holzklappe in Form einer Minidrehtür verdeckt war. An diese eigenartige Konstruktion sollte ich meine Frage stellen. Ich schaute den Pfarrer skeptisch an, doch dieser war schon wieder zur Tür hinaus. Als fragte ich die Holzklappe nach einem Schlafplatz. Sie antwortete mit der Stimme einer alten Frau, dass sie mir nicht helfen könne.

„Warum nicht?“ fragte ich, „immerhin ist dies doch ein Kloster, oder nicht?“

Das sei zwar richtig, aber aufnehmen würden sie dennoch niemanden. Hier lebten nur die Nonnen, die hier nun mal lebten und sonst niemand. Für alle anderen gäbe es ja Pilgerherbergen. Geduldig erklärte ich der alten Dame in der Wand, dass die Pilgerherbergen nur im Sommer geöffnet hatten und dass es in der Jugendherberge keinen Platz unter 22€ gab, was für einen Bettelmönch ohne Geld genau 22€ zu viel waren. Ihre Antwort blieb die selbe.

„Verstehe ich sie da richtig, dass sie als Ordensschwestern, die sich der Nächstenliebe verschrieben haben, nicht bereit sind einem Menschen zu helfen?“ fragte ich.

„Was für eine Art von Hilfe meinen Sie?“ fragte die Stimme zurück.

„Kruzifix nochmal! Das hab ich doch jetzt schon zehn mal gesagt! Du solltest vielleicht weniger Zeit in dieser Wand verbringen, dann hättest du vielleicht nicht so ein Brett vor´m Kopf!“ dachte ich im Stillen. Laut sagte ich: „Einen kleinen Raum zum Schlafen, in dem wir unsere Isomatten ausbreiten können, zum Beispiel!“

„Nein!“ antwortete die Holztür ungerührt, „so etwas haben wir nicht. Wir nehmen niemanden auf, es leben nur die Nonnen hier, die hier...“

Da die Frau nicht die Höflichkeit besessen hatte, mir bei diesem Gespräch gegenüberzutreten und da sie ganz offensichtlich keine Hilfe sein würde, sah ich keinen Grund, warum ich so höflich sein sollte, mir weiter ihre Standartphrase anzuhören. Ich verließ den Raum und landete wieder in der Kirche. Hier hatte inzwischen der Gottesdienst begonnen und wie alle baskischen Messen begann er mit einem Ritual, das mir bereits beim ersten mal suspekt vorgekommen war. Vorne am Altar stand eine Frau und betete Zeilen aus der Bibel. Nach jedem Satz machte sie eine Pause und die gesamte Gemeinde sprach ihre Worte nach. Diese Tradition mag ihre Gründe und ihre Berechtigung haben, doch für einen Außenstehenden hat sie den sehr starken Beigeschmack einer Massenhypnose. Der Pfarrer, den ich bereits zuvor angesprochen hatte, saß an der Seite und starrte andächtig vor sich hin. Ich versuchte ihn anzusprechen und ihn um weitere Unterstützung zu bitten, doch er war offensichtlich so sehr in sein Gespräch mit Gott vertieft, dass er für seine Mitmenschen kein Ohr mehr hatte. Er ignorierte mich vollkommen und sah nicht einmal aus den Augenwinkeln in meine Richtung.

Irritiert über so viel Scheinheiligkeit verließ ich die Kirche. Dort traf ich wieder auf die Bettlerin, die einzige Frau in diesem Kloster, die bislang zumindest versucht hatte, mir zu helfen. Ich fragte sie erneut und sie meinte, dass es noch ein weiteres Nonnenkloster, etwas nördlich von hier gebe. Dann rief sie einer Frau zu, die gerade vorbeikam und bat diese, uns zu den anderen Nonnen zu führen. Die Frau war äußerst skeptisch, was die Hilfsbereitschaft dieser Gottesschwestern anbelangte, führte uns aber dennoch hin. Es war nicht zu übersehen, dass sie sämtliche Nonnen dieser Stadt für absolut bescheuert hielt und wir konnten es ihr nicht verübeln.

Auf halben Weg trafen wir auf ein Ehepaar. Unsere Führerin fragte den Mann nach weiteren Ideen, doch er war ebenfalls ratlos. Am Ende schlug er uns vor, dass wir unter der Überdachung auf dem Marktplatz schlafen könnten. Ich wandte ein, dass dies am Wochenende, wo die halbe Stadtbevölkerung in der Nacht betrunken durch die Innenstadt torkelte wahrscheinlich etwas zu gefährlich war, doch er hatte da keinerlei bedenken. Später fanden wir heraus, dass auf genau diesem Platz heute ein Stadtfest abgehalten wurde, bei dem mehrere Bands spielten. Einen ungeeigneteren Schlafplatz konnte es also nicht geben. Spannend an dieser Begegnung war jedoch noch einmal zu sehen, wie unterschiedlich die Menschen in verschiedenen Regionen auf die gleiche Frage reagierten. In den 110 Tagen, die wir durch Deutschland und Frankreich gewandert waren, hatten wir kein einziges Mal einen Menschen getroffen, der uns geraten hatte auf der Straße zu schlafen. Wenn nichts anderes möglich war, dann hatten uns die Leute zu sich nach Hause eingeladen oder sie hatten Bekannte gefragt oder sonst irgendjemanden. Hier hingegen war noch niemand auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen uns einzuladen. Nicht einmal die Menschen, die aus Deutschland hier hergereist waren. Stattdessen hatten wir nun bereits mehrfach Schlafplätze wie Brücken, Markplätze oder Strandpromenaden vorgeschlagen bekommen. In jenem Land, das von sich selbst behauptet, das einzig wahre Pilgerland zu sein.

Die absolute Krönung des Tages erlebten wir jedoch im zweiten Kloster. Die Nonne die mir die Tür öffnete hörte mir genau vier Worte lang zu, dann sagte sie: „Egal was immer du jetzt auch sagen wirst, ich werde dir nicht helfen!“ Damit schlug sie mir die tür vor der Nase zu.

Heiko, die Frau, die uns hier her geführt hatte und ich sahen uns an und waren absolut baff. Damit hatte keiner von uns gerechnet. Dies waren doch keine Nonnen, wenn sie einem die Tür vor der Nase zuschlugen, ohne einen überhaupt nur anzuhören! Was war denn mit den Menschen hier los? Wo waren die Nonnen, wie wir sie in Frankreich kennengelernt hatten? Oder in Deutschland? Was war mit Werten wie Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft?

Da sie uns nun nicht mehr helfen konnte, verabschiedete sich unsere Führerin und wir machten uns auf den Weg aus der Stadt um nach einem geeigneten Zeltplatz zu suchen. Dabei kamen wir noch einmal an einer kleinen Kirche vorbei, in der gerade ein Gottesdienst abgehalten wurde. Ich erfuhr von einer Frau, die vor dem Eingang der Kirche wartete, dass die Messe gleich vorüber sein würde und so beschlossen wir, noch einen letzten Versuch zu starten.

Der Pfarrer brauchte eine knappe halbe Stunde bis er uns schließlich erlaubte, in einem kleinen Lagerraum neben der Sakristei zu schlafen. In dieser Zeit überlegte er hin und her, was er uns wohl anbieten könnte und warum was wie nicht ging. Zwischenzeitig war es sogar soweit, uns 15€ für ein Zugticket nach Bilbao zu geben um dort unser Glück zu suchen. Als ich fragte, ob es dort eine Idee für eine Übernachtung hätte, musste er jedoch gestehen, dass die Chancen in der Großstadt nicht besser standen. Vor allem nicht, wenn wir mitten in der Nacht ankamen. Da draußen langsam die Sonne unterging stellte er meine Geduld auf eine harte Probe. Was musste in dieser Stadt los sein, dass die Menschen alle so eine Angst hatten? Es war ja nicht so, dass sie nicht helfen wollten, sondern viel mehr, dass sie sich nicht trauten? Jeder, der uns abgelehnt, oder die Straße als Quartier vorgeschlagen hatte, hatte sich damit schlecht gefühlt. Angefangen beim Mann in der Herberge bis hin zu der Frau, die uns zu den Nonnen geführt hatte. Wahrscheinlich sogar auch die Nonnen selbst. Was also bewegte sie dazu, dennoch so zu handeln, obwohl sie eigentlich helfen wollten?

Spruch des Tages: Doch es ist wichtig, sich über das bisschen zu freuen, was man hat. Egal, wie wenig, es ist  immer noch unendlich viel mehr als nichts. (Jostein Gaarder)

Höhenmeter: 500m.

Tagesetappe 24 km

Gesamtstrecke: 2335,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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