Tag 1158: Shania Tolinka

von Heiko Gärtner
25.03.2017 23:53 Uhr

05.03.2017

Wir begannen den Tag mit einem typisch französischen Marmeladenfrühstück, gemeinsam mit Jean-Claude und unserer Oma. Obwohl es bereits jetzt schüttete wie aus Eimern, ließ es sich der Bürgermeister nicht nehmen, uns das erste Stück des Weges bis über die Stadtgrenze zu begleiten. Für einen Moment schien es, als wäre er drauf und dran einfach mit uns mit zu gehen und sein altes Leben hinter sich zu lassen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Dann aber wurde ihm bewusst, dass es so einfach nun auch wieder nicht war. Schweren Herzens verabschiedete er sich von uns und trat dann durch die dichten Regenschleier den Heimweg an. Sein Zuhause war warm und trocken und doch schien es in diesem Moment nichts verlockendes zu haben. Wir selbst hatten uns nun fest in unsere Regenjacken gehüllt und versuchten dem Wetter so gut wie möglich zu trotzen, so dass wir die Wanderung trotz der Ungemütlichkeit genießen konnten. Bald schon wurde uns bewusst, dass dieses Unwetter nicht einfach so über uns hereingebrochen war und es sollte sich zeigen, dass es mit dem Flutregen gerade einmal seinen Anfang gefunden hatte.

Die letzten Tagen waren von großen Umbrüchen und Wandlungen geprägt. Man merkte es an allem, an uns selbst, an den Begegnungen, die wir hatten und vor allem am Wetter. Dabei ging es dieses Mal nicht so sehr um einen Wandlungsschritt, den Heiko oder ich unternommen haben, sondern um einen großen und elementaren Wandlungsschritt von unserem dritten Herdenmitglied Heidi. Oder besser gesagt, von Tolinka Shania. Bislang waren wir uns im direkten Kontakt und auch in meinen Berichten nie so ganz sicher, ob wir nun Heidi oder Tolinka Shania schreiben, bzw. sagen sollten, denn irgendwo schwebte sie immer zwischen beidem. Genau wie bei mir, mit dem Namen Franz ist Tolinka Shania bei Heidi ebenfalls der Name, der mit ihrem Schritt in ihr neues Leben angenommen wird. Diese Wandlung der Namen stammt in ihrer ursprünglichen Tradition und in etwas abgewandelter Form aus einem Brauch, der bei vielen Indianerkulturen üblich ist. So bekommt man dort als Kind einen Namen, der ganz bewusst mit der größten Schwäche assoziiert wird.

Das ist nicht gedacht, um das Kind zu dissen oder zu erniedrigen, sondern um klar und deutlich den Fokus auf die zentralen Aufgaben zu legen, die der junge Mensch bis zu seinem Eintritt ins Erwachsenenalter zu bewältigen hat. Wenn er dann bereit ist und seine Schwächen abgelegt hat, bekommt er seinen neuen Namen, der nun mit den aus der Schwäche geborenen Stärken und Talenten assoziiert wird. Bei uns ist es natürlich etwas anders, da wir nicht in einem Klan aufgewachsen sind und unsere Namen auch nicht bewusst mit einem besonderen Fokus bekommen haben. Es sind viel mehr die eigenen Assoziationen, die wir mit dem uns gegebenen Namen verbinden und die wir nun ablegen und in neue Stärken und Talente umwandeln wollen. Anders als bei den Indianerkindern markiert die Namensänderung daher auch nicht den Moment, in dem wir dieses Ziel erreicht haben, sondern den in dem wir uns ganz bewusst und aktiv dafür entscheiden, uns überhaupt auf den Weg zu machen. Den Moment in dem wir den ersten Schritt auf einen Weg setzen, auf dem es kein Zurück sondern nur noch ein weiter gibt. Bei Heidi war dieser Schritt nun am Samstag.

Seit sie uns in Italien besucht hat, hat sie eine ganze Reihe von körperlichen, seelischen, emotionalen, geistigen und sozialen Wandlungsprozessen durchlaufen, von denen Sie euch zumindest zum Teil in naher Zukunft auch selbst berichten wird. Einer dieser Schritte war es, ihre ursprüngliche, freie und ungetrübte Wildheit, sowie die damit verbundene weibliche Kraft in Form von langen Dreadlocks zum Ausdruck zu bringen. Und dieser Schritt sollte auch den Beginn ihres Lebens als Tolinka Shania kennzeichnen. Es ist schon spannend, dass diese Namensänderung bei uns beiden eine direkte Verbindung zu den Haaren hat, ohne dass wir dies zuvor geplant oder abgesprochen hätten. Der Unterschied war eigentlich nur, das meine Haare bei dem Ritual bedeutend kürzer und Heidis, bzw. Shanias bedeutend länger wurden.

Drei Mal hatte nun schon ein Termin festgestanden, der aus irgendeinem Grund immer wieder verschoben wurde oder nicht so stattfinden konnte, wie er ursprünglich geplant war. Doch nun hatte es funktioniert. In einer mehr als sechsstündigen Sitzung haben zwei Frauen an ihren Haaren herumhantiert bis ihr Kopf am Ende von fast hüftlangen Dreads geziert wurde. Wie bei vielen anderen dieser Wandlungsschritte auch, war es aber vor allem der damit verbundene innere Prozess, der die Veränderung bewirkte. Damals in Moldawien war es nicht das Ausreißen meiner Haare gewesen, das dieses Ritual so intensiv für mich gemacht hatte, sondern viel mehr das Gefühl, dass mit jedem Büschel Haare auch ein Stück Tobias aus mir herausgerissen wurde, bis dieser am Ende fast vollständig verschwunden war. Klar, es sitzt noch immer genug in mir und die Wandlung ist noch lange nicht einmal im Ansatz abgeschlossen. Aber es war der erste Stein, der die Lawine langsam ins Rollen gebracht hat. Bei Shania ist es nun ähnlich.

Das, was diesen Schritt so besonders und intensiv macht ist nicht die neue Frisur, sondern das Bewusstsein, dass sie nun ein für alle Mal ihre alte Daseinsform ablegt und eine neue beginnt. Es ist der Schritt, der bei Paulina immer gefehlt hat, wodurch es für sie so unglaublich hart wurde. Es ist der Schritt, der vom Jein zum Ja führt. Er bedeutet aber auch, dass es von nun an kein zurück mehr gibt. Das alte Leben wurde als eine Illusion erkannt, die vor allem der Verwirrung gedient hat, einen also vom eigentlichen Lebensweg abbringen sollte. Sich nun für den neuen Weg zu entscheiden, bedeutet, dies in voller Konsequenz zu tun und das in allen Bereichen. Da wäre zum einen die Partnerschaft mit Heiko, die nun durch den Schritt ins Dasein als Tolinka Shania ähnlich wie mit einer Hochzeit besiegelt wurde. Es gab ein Gelöbnis, den Weg von nun an gemeinsam zu gehen, durch gute wie durch schlechte Zeiten, einander zu unterstützen, voranzubringen, zu lieben und zu ehren und mit einander zu verschmelzen und gemeinsam das eigene Gottbewusstsein zu erlangen. Es ist nicht nur ein Spruch, den man aufsagt, damit die Verwandten zufrieden sind, sondern ein Versprechen an sich selbst, sich vollkommen fallen zu lassen und gemeinsam ins Urvertrauen zurückzukehren. Das geht nur dann, wenn man sich ohne jeden Vorbehalt aufeinander einlässt, und dies bedeutet auch, dass es keine anderen Partner in Form der Lebenspartnerschaft mehr geben kann. In Shanias Fall war ihr bewusst, dass sie, sollte sie aus irgendeinem Grund aus der Beziehung und damit auch aus dem Lern-Vertrag mit sich selbst aussteigen, fortan geistig, seelisch und körperlich im Zölibat leben würde. Warum?

Sie hatte erkannt, dass das was sie zuvor für Beziehungen gehalten hatte, in erster Linie Illusions-Filme waren, die sie von ihrem Verwirrer bekommen hatte. Nichts war wirklich real gewesen, sondern lediglich ein Schauspielstück, dass sie von ihrem eigentlichen Leben ablenken und fernhalten sollte. Sie hatte gewissermaßen in einem Trancezustand gelebt in dem es zwar Geschichten aber keine echten Erlebnisse gab. Platon hat diesen Zustand vor ein paar tausend Jahren einmal recht anschaulich mit seinem Höhlengleichnis beschrieben. Er stellte die These auf, dass wir Menschen gewissermaßen in einer Höhle leben, an dessen Wände wir die Bilder der äußeren, realen Welt malen oder projizieren. Da wir nichts anderes kennen halten wir die Bilder für real und glauben, dass dies unser wahres Leben sei. So können wir Jahre und ganze Leben damit verbringen, in einer Höhle auf ein Bild zu starren, ohne jemals zu merken, dass wir nie wirklich gelebt haben. Heidis Schritt in ein Leben als Shania Tolinka bedeutet für sie nun, dass sie aufsteht und mit einem großen Hammer die Wand einreißt, auf die ihre bisherigen Bilder projiziert wurden, so dass sie dahinter in die wahre Welt und somit auch in ihr wahres Leben hinaustreten kann. Und genau hier liegt aber die Gefahr. Bislang war alles „negative“ in ihrem Leben nur eine Illusion gewesen, es hatte sich unangenehm, schmerzhaft und leidvoll angefühlt, da sie es für wahr gehalten hatte, doch es hatte ihr nicht wirklich etwas anhaben können. Die Tatsache jedoch, dass diese Bilder ihren Geist geprägt haben bedeutet, dass sie nun auch in der realen Welt vieles als wahr annimmt, das sie durch die Illusionsfilme „gelernt“ hat. Als Gottpartikel muss ihr intensivster Glaube wahr werden und da sie nun nicht mehr in der Höhle sitzt sondern durch eine wirkliche Welt mit wirklichen Erfahrungen wandert, können diese Glaubenssätze nun auch reale Gefahren anziehen. Das bedeutet, dass sie nach einer Trennung von Heiko bzw. einem Verlassen des Weges, den Sie für sich selbst vorgegeben hat, automatisch genau die Partner anziehen würde, die sie zuvor in den Illusionsfilmen gezeigt bekommen hatte. Aus dem illusorischen Leid würde nun also ein reales werden, da sie von nun an alles wieder daraufhin dirigiert, ihren Lebensweg wieder aufzunehmen. Langsam verstand ich nun immer mehr, was damit gemeint war, wenn es hieß „Es gibt nur einen Weg“. Jeder von uns hat eine persönliche Lebensmission und sobald wir sie annehmen richtet sich das ganze Universum (was ja, da alles eins ist, nichts anderes ist als wir selbst) darauf ein, uns permanent auf diesem Weg zu halten. Deswegen war die Situation auch damals für Paulina so schwer gewesen, da sie dies nie wirklich ernst genommen hatte.

So wie nach meinem letzten großen Ritual Mitte Januar reagierte nun auch auf Heidis, bzw. Shanias Ritual unser gesamtes Umfeld. Gegen Mittag erreichten wir ein kleines Dorf, in dem es unter anderem eine „Gite de France“ also eine kleine Frühstückspension sowie eine Pizzeria gab. Für´s erste hatten wir genug von der Ungemütlichkeit, weshalb wir in der Gite nach einem Schlafplatz fragten. Hier wurde es nun richtig spannend. In der Pension trafen wir zwei Frauen an, die uns beide auf seltsame Weise bekannt vorkamen. Die jüngere von ihnen wirkte fast wie eine eins zu eins Kopie von Heidi, so wie sie vor ihren Wandlungsschritten ausgesehen hatte. Ihre Mutter, die gleichzeitig auch die Besitzerin der Pension war, erinnerte uns gleichermaßen an die Mutter von Heidi, wie wir sie vor einigen Wochen kennengelernt hatten. Selbst die Gespräche, die wir führten, ähnelten denen mit der früheren Heidi und ihrer Mutter so verblüffend, dass wir kaum glauben konnten, dass dies gerade wirklich passierte. Natürlich unterhielten wir uns auf einer anderen Sprache und auch der Inhalt des Gesprächs war ein anderes. Aber die Stimmung und die Gefühle waren gleich.

Nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, hielten wir es vor Neugier nicht mehr aus und befragten gleich einmal unsere Muskeln, was sie zu dieser Situation zu sagen hatten. Unsere Vermutung wurde bestätigt. Die beiden Frauen waren tatsächlich nicht real, sondern eine Illusion, die uns erneut von unserem Weg abbringen sollte. Richtig spannend war jedoch das, was danach geschah. Wir hatten uns mit unseren Gastgebern eigentlich noch einmal verabredet, um ein paar Bilder von ihrer Pension zu machen und sie hatten erklärt, dass sie uns später zu diesem Zweck abholen würden. Einige Male sahen wir die Tochter noch, wie sie vor unserem Zimmerfenster mit irgendetwas herumhantierte. Doch sobald wir sie als Illusion entlarvt hatten, schienen beide, Mutter wie Tochter, wie vom Erdboden verschluckt. Wir sahen und hörten nichts mehr von ihnen, wurden nicht abgeholt, sollten keine Werbung und keine Fotos mehr machen und blieben den ganzen Tag für uns alleine. Es war ein bisschen, als hätten sie ihre Aufgabe erfüllt und ihren Beitrag in unserem Lebensfilm damit erledigt, so dass sie nun nicht mehr gebraucht wurden und daher auch nicht mehr in Erscheinung traten.

Spruch des Tages: Es ist Zeit, die Höhle zu verlassen

Höhenmeter: 70 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 21.234,27 km Wetter: bewölkt, kalt und regnerisch, hin und wieder leichter Sonnenschein Etappenziel: Pilgerherberge, 86600 Saint-Sauvant, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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