Ungebremst

von Franz Bujor
27.04.2014 23:18 Uhr

Zu guter Letzt hatten wir also gegen alle Erwartungen doch noch einen Schlafplatz gefunden. Der Pfarrer wurde immer lockerer, je länger er uns kannte. Am Ende machte er sogar Witze über Merkel und über die Verrücktheit der Mönche aus Deutschland. Dennoch blieb er die ganze Zeit über zu ängstlich, um uns einen Schlüssel für die Eingangstür zu geben. Als wir ihm sagten, dass wir noch einmal in die Stadt mussten, da wir nichts zu essen hatten, viel er aus allen Wolken. „Wie machen wir das denn jetzt? Ich hab doch nur einen Schlüssel?“ sagte er immer wieder und lief im Gang hin und her. Schließlich kam es auf die Idee, bei einer Nachbarin zu klingeln, die ebenfalls einen Schlüssel besaß. Mit ihr machten aus, dass wir uns um 21:15Uhr vor der Kirche treffen, damit sie uns wieder hereinlassen konnte. Wir hatten also genau eine Stunde Zeit um ein Abendessen aufzutreiben.

Als allererstes kamen wir bei den Nonnen vorbei, die uns zuvor hatten im Regen stehen lassen. „Meinst du, wir sollten nochmal klingeln und nach etwas zu Essen fragen?“ schlug Heiko vor, „einfach nur aus Interesse!“

Ich klingelte und da niemand öffnete, klingelte ich gleich noch einmal. Die alte Frau, die mir auch beim ersten Mal geöffnet hatte, blickte durch eine Luke in der Tür.

„Hallo!“ rief ich, „Machen Sie sich keine Sorgen! Wir haben jetzt einen Schlafplatz gefunden. Nur etwas zum Essen haben wir noch immer nicht und daher wollten wir fragen, ob Sie uns vielleicht etwas geben könnten.“

Die Frau brummelte irgendetwas und verschwand. Die Luke ließ sie jedoch offen. Wir deuteten es als gutes Zeichen und warteten. Wenige Minuten später kam sie mit einer Tüte mit Schinkenbaguettes, Orangen und Äpfeln zurück. Ihr schlechtes Gewissen hatte also doch gesiegt.

In der Stadt erbeuteten wir dann noch einen Döner, etwas Brot, Obst und Wurst sowie ein wenig Süßgebäck. Als wir auf dem Heimweg durch eine Party- und Kneipenstraße gingen, entdeckte Heiko in der Menge des feiernden Partyvolks ein bekanntes Gesicht. Es war die kleine Spanierin aus der Herberge von Irun, die mit ihrer Mutter unterwegs gewesen war. Auch sie hatte uns gesehen und kam zu uns herüber. Ihre Mutter war bereits wieder nach Hause gefahren. Sie jedoch war mit den beiden Frauen aus Frankreich weitergepilgert. Zumindest bis hier her, denn hier hatte sie einige Freunde getroffen, mit denen sie die Stadt unsicher machen wollte. Morgen würde sie dann eine Monsteretappe bis nach Bilbao einlegen, um die Französinnen wieder einzuholen.

Nach dem Gespräch mit ihr hatten wir noch genau fünf Minuten, um rechtzeitig wieder am Treffpunkt zu sein. Die Frau öffnete uns und wir machten es uns für unser Abendessen gemütlich. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten war, dass die Frau hinter uns wieder abgeschlossen hatte. Wir merkten es erst, als wir noch einmal nach draußen wollten, um einen Internetzugang zum Einstellen der Berichte zu suchen. Wir waren gefangen. Alle Fenster waren vergittert und auch im Keller gab es keinen Ausgang, der nicht verriegelt war. Zum Glück hatten wir beide keine Platzangst, denn sonst hätten wir bestimmt einen Anfall bekommen. Ein etwas mulmiges Gefühl war es trotzdem. Wenn jetzt ein Feuer ausbrach, waren wir verloren. In einer Stadt um Hilfe zu schreien, in der eh jeder Schrie, auch wenn er nur guten Tag sagen wollte, schien uns nicht sehr vielversprechend zu sein. Wir konnten nur hoffen, dass es in der Nacht kein Feuer und auch kein Erdbeben geben würde.

Wir hatten Glück. Um neun Uhr kam der Pfarrer und befreite uns aus unserem nächtlichen Gefängnis, für dessen Wärme und Ruhe wir sehr dankbar waren. Zum Abschied drückte er uns einen Zehner in die Hand und meinte, dass wir uns davon ein Frühstück kaufen sollten.

Unser Frühstück bestand jedoch in erster Linie aus einer Schadensbegutachtung unserer Bremsen und einem langen Telefonat mit Ben, dem Vater unserer Pilgerwagen. Leider brachte uns beides nicht wirklich viel weiter. Fakt ist, dass wir ohne funktionierende Bremse und ohne Aussicht auf Hilfe, inmitten der Pyrenäen stehen, mit einer Strecke vor uns, die für weitere drei Wochen täglich rund 80 Höhenmeter von uns abverlangt. Morgen werden wir in Bilbao sein, der einzigen großen Stadt in der Umgebung, in der wir vielleicht die Hoffnung haben, sinnvolle Ersatzteile auftreiben zu können. Bis dahin müssen wir mit dem auskommen, was wir haben. Und das bedeutet, dass wir das Gewicht unserer Wagen mit dem blanken Plastik abbremsen müssen. Heiko sitzt gerade neben mir und durchforstet das Internet nach brauchbaren Alternativbremsen, doch bislang ist der Erfolg deprimierend. Die meisten guten Bremssysteme kommen allein deswegen nicht in Frage, weil man sie an unseren Wagen nicht befestigen kann. Und die, die es gibt sind so teuer, dass wir uns für das gleiche Geld noch einmal völlig neue Wagen kaufen könnten. Vorausgesetzt natürlich wir hätten das Geld.

Alles in allem scheint uns Spanien noch einmal vor völlig neue Herausforderungen zu stellen. Die Wege kosten uns sämtliche Kräfte, die Menschen machen uns die Schlafplatzsuche schwieriger als je zuvor, das Wetter zermartert uns mit ständigem Regen und Gegenwind das Gemüt und jetzt machen uns auch noch unsere Wagen das Leben schwer. Wäre uns das am Anfang unserer Reise passiert, hätten wir wahrscheinlich aufgegeben. Jetzt sind wir jedoch fast selbst von uns überrascht, dass wir bei all dem noch verhältnismäßig endspannt sind. Dennoch sehnen wir uns in regelmäßigen Abständen nach der gemütlichen Zeit in Frankreich zurück.

Der weitere Tagesverlauf blieb zunächst ohne besondere Vorkommnisse. Wir nahmen wieder die Straße, die sich gemäßigt in den Bergen auf und ab schlängelte und versuchten so wenig wie möglich zu bremsen. Da wir unsere Knie aber auch recht gern hatten und sie auch in Zukunft noch lange benutzen wollen, ließ es sich nicht ganz vermeiden, die Last, die uns in den Rücken drückte immer wieder etwas abzubremsen. Schließlich endete der Weg wieder einmal in einer steilen, schrägen und holprigen Schlammpiste, der volle Aufmerksamkeit und volle Muskelkraft von uns forderte. Am Ende standen wir dann vor einem Gittertor, das so schmal war, dass man es nur als einfacher Fußgänger durchschreiten konnte. Uns blieb also nichts anderes übrig, als zwei Zaunpfähle aus dem Boden zu hebeln und den Durchgang zu verbreitern. Für einen Weg, der als Wander- Fahrrad- und Reitweg ausgeschrieben ist, sind dies schon sehr fragwürdige Streckenführungen.

Kurz bevor wir Larrabetzu erreichten, kam dann noch das I-Tüpfelchen zu den Hiobsbotschaften dieses Tages hinzu. Heikos Pullover, den er sich umgebunden hatte,  rutschte von seiner Hüfte und verfing sich in im Wagenrad. Der Ärmel wurde zwei Mal um die Achse gewickelt und hing dann fest. Zugegeben, dies ist auch eine effektive Art zu bremsen, aber es war nicht ganz die Lösung, die wir uns erhofft hatten. Als ich den Ärmel wieder befreit hatte, klaffte ein großes Loch darin.

In Larrabetzu gab es zu unserer Überraschung gar nichts. Weder eine Herberge, noch eine Einkaufsmöglichkeit, noch eine Polizeistation, die wir um Hilfe bitten konnten. Wir verließen die Stadt unverrichteter Dinge und wanderten weitere 4 Kilometer nach Lezema. Laut unserem Wanderführer sollte es dort eine kostenlose Herberge geben. Die gab es auch, doch sie hatte erst ab Juni geöffnet. Dennoch hatten wir mehr Glück als gestern. Eine Frau, die in einer Tagesbetreuung für Rentner arbeitet, bot uns an, in ihrer Einrichtung zu übernachten, sobald diese geschlossen hatte.

Spruch des Tages: Wenn der Tag nicht dein Freund war, so war er dein Lehrer

Höhenmeter: 780m.

Tagesetappe 22 km

Gesamtstrecke: 2357,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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