Tag 1177: Ein Schloss aus alten Tagen

von Heiko Gärtner
29.04.2017 18:22 Uhr

23.03.2017

Auch heute regnete es wieder in Strömen und es machte nicht den Anschein, als wollte es je wieder damit aufhören. Der Bürgermeister, der uns in der Früh nun noch einmal besuchte bot an, uns eine Unterkunft an unserem Zielort zu suchen. Wir dachten dabei eigentlich weder an einen Festsaal, doch leider war dieser außer Gefecht gesetzt, da sein Dach eingestürzt war. Stattdessen vermittelte er uns einen Platz in einem Chateau, also einem alten Herrenhaus etwas außerhalb des Ortes. Nach den Erfahrungen der letzten Tage waren wir auch dieses Mal etwas unsicher, ob es eine gute Idee war, diesen Platz anzunehmen. Es klang, als hätten wir einen Raum für uns und wären weitgehend unabhängig, aber irgendwie trauten wir dem Frieden nicht. Da heute der Stichtag für Shanias Wandlungsprozess war, lag es nahe, dass wir noch einmal mindestens genauso stark manipuliert wurden, wie an den letzten Tagen und tatsächlich zeigten die Muskeltests, dass es egal war, wie wir uns entschieden, weil uns alles mit zeitraubenden Illusionen konfrontieren würde. Wir hatten lediglich die Wahl, ob wir dabei ein altes Schloss kennenlernen wollten oder nicht. Da wir lange kein echtes Schloss mehr besichtigt hatten, entschieden wir uns dafür und auch wenn man zugeben muss, dass wir heute kaum mehr Zustande brachten als gestern, obwohl wir bereits um 12:00 ankamen, war es doch zumindest unterhaltsam und aufschlussreich.

Das Schloss mit dem darum liegenden Anwesen und den Nebengebäuden stammte aus dem 13. Jahrhundert und war im 17. Jahrhundert noch einmal vollkommen restauriert und überarbeitet worden. Es war also ein alter, traditioneller Adelsbesitz, der sich nun bereits seit vier Generationen in den Händen unserer Gastgeber befand. Von weiten lugten die alten herrschaftlichen Gebäude zwischen den Bäumen hindurch und wirkten noch immer so erhaben und imposant wie vor vielen Hundert Jahren. Doch bereits die Einfahrt verriet mit ihren unzähligen Schlaglöchern, dass die Glanzzeiten des Anwesens längst vergangen waren. Als wir das Portal erreichten, fühlten wir uns ein bisschen, als wären wir in der Eröffnungsszene eines Gruselfilms. Das Haupthaus war verriegelt und vom Zerfall angefressen. Der Hof war schlammig und voller Pfützen und Schlaglöcher, in denen ein paar freilaufende Hühner planschten. Lediglich ein Nebengebäude schien renoviert zu sein und dieses war, wie sich herausstellte, vermietet worden. Unser Kontakt lebte in einem weiteren Nebengebäude, das vom Hocheingang nicht sichtbar war. Er war ein edel gekleideter, vornehmer Mann, mit einem ebenso vornehm und edel eingerichteten Haus. Verantwortlich für das Anwesen und die dazugehörigen Ländereien war jedoch sein Bruder, der das genaue Gegenteil von ihm zu sein schien. Er lebte gemeinsam mit einer Frau, von der ich noch immer nicht genau sagen kann, ob es seine Ehefrau oder seine Mutter ist, in einem Seitenflügel des Haupthauses und hatte sich hier ein wohnliches Chaos eingerichtet. Es war ein typisch französischer Messi-Haushalt, nur dass die Räume hier mit lauter Antiquitäten voll gestellt waren, die sich seit Jahrhunderten hier befanden. An den Wänden hingen lebensgroße Ölportraits von alten militärischen Würdenträgern, die wahrscheinlich einst in diesem Anwesen gelebt hatten. Daneben lehnte eine farbbekleckste Leiter an der stuckverzierten Wand. Draußen vor der Tür befand sich ein Hühnerstall, in dem rund 20 Hühner herumflitzten, die anders als die meisten ihrer domestizierten Artgenossen erstaunlich munter unterwegs waren. Nebenan grasten ein paar Schafe und im Hintergrund schauten uns die Pferde zu. Von hier aus wirkte das Anwesen nun eher wie ein Streichelzoo oder ein Mitmachbauernhof als wie ein Fürstentum.

Zum Übernachten bekamen wir ein Haus im hinteren Bereich, das zum landwirtschaftlichen Teil des Gutshofes gehörte. Es war seit langem nicht mehr benutzt worden und diente zurzeit nur noch als Abstellkammer. Aber es gab Heizungen, Strom und Wasser. Zum Mittagessen wurden wir von unseren Gastgebern eingeladen. Es gab eine Nudelsuppe als Vorspeise, sauer eingelegte Ochsenzunge mit Kartoffelpüree als Hauptgericht und die übliche Käsekollektion zum Abschluss. Dieses mal aber wieder in reichhaltigerer Variante, als wir es von den letzten Einladungen gewohnt waren. Außer unseren Gastgebern, deren Schwiegersohn und uns waren noch einige gefiederte Freunde anwesend. In einem großen Käfig saß ein Papagei und beäugte und mit einer Mischung aus Neugierde und Wachsamkeit. Auf der gegenüberliegenen Seite des Raumes stand ein Pappkarton mit einem eigensinnigen Plastikgestell darin, mit dem ich zunächst nichts anfangen konnte. Erst als wir es genauer gezeigt bekamen, erkannte ich die kleinen, frisch geschlüpften Küken, die sich darin versteckten. Wir durften sogar eines von ihnen auf den Arm nehmen. In der Küche befand sich außerdem ein Plastikkasten mit Eiern darin, die kurz vor dem Schlüpfen standen. Eines schlüpfte sogar während des Essens. Vor der Suppe schaute bereits ein Füßchen nach draußen und als wir mit der Nachspeise fertig waren, war sie Schale auf einer Seite bereits vollständig aufgebrochen und es lag nur noch die dünne, milchige Haut über dem Küken.

Beim Essen erfuhren wir ein paar Hintergründe über das Anwesen und seine Bewohner. In der heutigen Zeit wurde es immer schwerer, es vor dem Verfall zu bewahren. Allein die Heizkosten stiegen ins unermessliche und als Einnahme diente fast nur die Landwirtschaft, die aber mit einem Großindustriebetrieb nicht im geringsten Mithalten konnte. Früher einmal waren es die Grundbesitzer gewesen, denen die Landflächen gehörten und die ihre Anwesen damit instand halten konnten, dass sie Pacht von den Bauern bekamen. Irgendwann kam der Umbruch und das alte Adelssystem funktionierte nicht mehr auf die gewohnte Weise. Um das System dennoch so lange wie möglich am Laufen zu halten begannen viele damit, ihr Land zu verkaufen. Doch was sie erst einmal über Wasser hielt wurde später ihr Untergang denn nun waren sie selbst nichts anderes mehr als Kleinlandwirte, die anders als ihre Konkurrenz aus den bäuerlichen Reihen, noch mit immensen Unkosten für die Erhaltung ihrer Immobilien zu kämpfen hatte. Sie waren also kaum mehr konkurrenzfähig und somit war es kein Wunder, dass die alten Schlösser und Adelsanwesen mehr und mehr verfielen. So war auch unser Schlafquartier, das eint einmal ein stolzes Landhaus gewesen war, nur noch eine schimmelige Baracke, mit undichten Fenstern, fehlenden Türen und Wänden, von denen der Putz in großen Placken herunter fiel. Neben der Badewanne klaffte ein großes Loch in der Wand, das auf fast poetische Weise wiederspiegelte, wie es im Inneren der Rohrleitungen aussah. Als wir am Abend ein Bad nehmen wollten, begann es in der Küche aus der Decke zu tropfen. Um nicht alles unter Wasser zu setzen, suchten wir uns einen Eimer und kippten das Badewasser ins Klo, denn dieses schien zumindest dicht zu sein.

Alles in allem wurde es auch heute wieder ein nur mäßig produktiver Tag. Die Einladung zum Mittagessen und ein Gespräch im Gang am Nachmittag verschlungen insgesamt 6 Stunden an Zeit, ohne dass wir dabei ein tieferes Gespräch geführt hätten. Langsam wird noch einmal deutlich, warum wir im Alltag für gewöhnlich zu nichts kommen.

Spruch des Tages: Auch für Schlossherren sind die Zeiten nicht mehr so golden, wie sie einmal waren!

Höhenmeter: 290 m Tagesetappe: 32 km Gesamtstrecke: 21.572,27 km Wetter: Regen Etappenziel: Gemeindesaal, 61300 Vitrai Sous Laigle, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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