Tag 1196: Von Calais ab auf die Insel!

von Heiko Gärtner
11.06.2017 02:26 Uhr

10.04.2016

Heute war es nun endlich soweit! Wir mit Erreichen der Hafenstadt Calais würden Frankreich und das europäische Festland verlassen und die Britischen Inseln unsicher machen. Vor uns lagen nun die letzten 20km Wegstrecke, die uns vom Hafen trennten. Laut meinem Plan sollte eine Fähre um 13:55 Uhr abfahren, weshalb wir eine Stunde früher aufstanden um etwas mehr Zeit zu haben. Der erste Abschnitt führte uns durch ein ausgedehntes Waldgebiet, das von den Bewohnern Calais als Naherholungsgebiet genutzt wurde. Die Picknickareale waren hier so beliebt, dass um sie herum kein Gras mehr wuchs. Der Waldboden war wie blank geleckt und erinnerte ein bisschen an die Schafswiesen in Bulgarien, auf denen vor lauter Hufabdrücke auch kein Halm mehr wachsen konnte. Kurz hinter dem Wald erreichten wir einen Ort namens Guines, der bereits einen ersten Vorgeschmack auf die ihm folgenden Küstenstädte vermittelte. Zum Glück gab es hier einen Fahrradweg, der fast bis zur Küste hinab führte und auf dem man die großen Hauptverkehrsrouten umgehen konnte. Jedenfalls ein bisschen.

Die letzten Kilometer bis zur Küste

Dafür, dass es ein hochtouristisches Gebiet war, war der Weg erstaunlich schlecht erhalten und bestand teilweise nur noch aus einer holprigen Wiese. Dann wieder kamen wir an einen Abschnitt, an dem acht Männer mit Freischneidern, Rasenmähern und Laubbläsern beschäftigt waren, um jeden Grashalm einzeln zu stutzen. Während die meisten eher unmotiviert an die Sache herangingen, war der Mann mit dem Laubbläser mit vollem Elan und mit Spaß bei der Sache. Nach dreimaligem Anschreien konnte sein Kollege ihn dazu bewegen, eine kurze Puste-Pause einzulegen, während wir an ihm vorbei gingen. Man sah jedoch deutlich, wie schwer es ihm fiel, denn sein Finger zuckte immer wieder am Abzug der Windkanone und wollte einfach weiter pusten. Zwei Mal konnte er es nicht unterdrückten und sprühte aus Versehen eine kleine Staubwolke in den Himmel, obwohl wir noch in der Nähe waren. Das war übrigens ohnehin der einzige Grund, aus dem er seine Arbeit machte. Es ging ihm nicht darum, den Weg von Grad, Schmutz oder sonst irgendetwas zu befreien. Darauf legte er keinerlei Wert, denn im Nachhinein sah alles noch immer fast genauso aus wie vor seiner Behandlung. Es ging darum, die schönste, größte und dichteste Staubwolke zu machen und dabei am Besten noch mitten in ihr zu stehen.

Die Besichtigung von Calais

Kurz vor der Stadtgrenze von Calais endete der Radweg und wir mussten uns auf eigene Faust in die Innenstadt durchschlagen. Es gab eine recht beeindruckende aber verfallene Kirche und ein noch weitaus stärker beeindruckendes, gut erhaltenes Rathaus, das deutlich zeigte, dass es in Frankreich der Staat war, der das Zepter in der Hand hielt. Sonst war die Stadt tendenziell eher hässlich. Uns fiel noch einmal auf, wie viel es ausmachte, ob die Kirche in einem Land über Geld verfügte oder nicht. Wie oft hatten wir in Deutschland über die Kirchensteuer geschimpft und uns über die Ungerechtigkeit beschwert, dass man hier etwas zahlen musste, selbst wenn man nicht gläubig war und auch nicht vor hatte, irgendetwas von der Kirche zu nutzen. Aber es hatte auch seine guten Seiten. Stellt euch einmal Städte wie Freiburg, Köln oder Nürnberg vor, wenn man die Kirchen, Münster, Kathedralen und Dome einfach nicht mehr pflegen würde, so dass sie zu unansehnlichen Ruinen zerfallen. Ob man nun gläubig ist oder nicht, diese Gebäude prägen nun einmal unsere Stadtbilder und wenn Sie schäbig und ungepflegt aussehen, sieht auch die gesamte Innenstadt so aus.

Einladung zum Gebet

Um zum Hafen zu gelangen, mussten dir die Innenstadt einmal durchqueren und dann an einem Kanal entlang zur Küste wandern. Auf halbem Wege wurden wir von zwei Mönchen angesprochen, die mich zum Beten einladen wollten. Einer von ihnen stammte aus Belgien, der andere aus Schottland. Sie waren hier wegen eines Flüchtlingsprojektes, auf das sie aber nicht näher eingingen. Spannend war, dass sie uns wirklich nur wegen eines Gebets fragten. Nicht: „Braucht ihr irgendetwas?“ oder „Dürfen wir fragen was ihr macht und wer ihr seid?“ Sondern einfach: „Hi, wollt ihr mit uns zum beten kommen?

Auch ohne ein Gebet reichte aber bereits das Gespräch schon aus, um uns ein wenig in Zeitdruck zu versetzen. Nicht weil wir so spät dran waren, sondern weil wir insgesamt so früh waren, dass wir eine Fähre eher nehmen wollten und die kam nun bereits in einer Viertelstunde. In dieser Zeit mussten wir es irgendwie schaffen, den Fährhafen zu finden und uns ein Ticket zu besorgen.

Das Hafengelände wirkte alt und heruntergekommen und wir bekamen sofort ein Gefühl dafür, warum in den amerikanischen Filmen so viele Mord-, Drogen- und Gewaltszenen in diesen Hafenvierteln angesiedelt waren. Eine bessere Atmosphäre konnte man sich dafür kaum vorstellten. Selbst die kleine Hafenspielunke mit der griesgrämigen, zahnlosen Wirtin und den schlecht gelaunten Haudegen, die bereits morgens um 9:00 Uhr ihr viertes Bier an der Theke tranken, fehlte hier nicht.

Der Hafen von Calais

Anders als wir es erwartet hatten, war der Hafen riesig. Und zwar nicht nur groß oder beeindruckend, sondern wirklich riesig im Sinne von „Waow! Das ist mal wirklich ein echt großer Hafen!“ Allein für die Fähren nach Dover gab es mehr als 10 Docks, die wir auf den ersten Blick erkennen konnten. Als Fußgänger konnte man sich über einen schmalen Zwischenweg über die verschiedenen Autopassagen hinwegschummeln um direkt zum Terminal zu gelangen. Andernfalls wären wir wahrscheinlich noch immer irgendwo in dem Straßengewirr gefangen.

Am Ticketschalter erwartete uns dann die erste Überraschung, die ein deutlicher Vorbote war, dass dieser Tag wieder genauso verstrahlt werden würde, wie der Tag unserer Überfahrt nach Italien.

„Es tut mir leid, aber wir können Sie leider nicht an Bord nehmen!“ entgegnete uns der Ticketverkäufer auf unsere Bitte nach zwei Karten für die nächste Fähre hin.

Dicke, ungläubige Fragezeichen tauchten in unseren Augen auf und formulierten die professionell ausgewählte Reaktion, die dieser Situation angemessen war: „Hä?“

„Sie sind Fußgänger! Als Fußgänger können wir Sie nicht an Bord nehmen. Bei uns darf man nur mitfahren, wenn man ein Auto, einen Bus oder wenigstens ein Fahrrad bei sich hat!“

„Wir haben Pilgeranhänger, die in gewisser Weise einem Fahrrad nicht unähnlich sind!“ wandten wir ein, aber der Mann ließ sich nicht überzeugen. Stattdessen schickte er uns zum Schalter nebenan, der einer anderen Fährgesellschaft gehörte, die eine weniger strenge Fußgängerpolitik vertrat.

Frankreich will uns nicht loslassen...

Auf den ersten Blick sollte man meinen, dass es egal ist, ob man mit der einen oder der anderen Fähre fährt, aber bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es zwei Haken an der Sache gab. Der erste war, dass die nächste Fähre der Konkurrenzfirma erst um 14:20 Uhr fuhr. Wir waren nun also gut eineinhalb Stunden zu früh und das an einem Ort, den man nicht unbedingt als einen Platz der Ruhe und Entspannung bezeichnen konnte. Der Warteraum des Terminals wurde von einer allpräsenten Lüftungsanlage beschallt, die alle Raumbelüfter in den Schatten stellte, die wir bislang in diesem Land erlebt hatten. Draußen vor der Tür war es nicht viel besser, denn dort warteten die Busse, die allesamt ihre Motoren laufen ließen. Die Türen waren verschlossen, die Fahrer saßen im Aufenthaltsraum des Terminals und Tranken ihr Mittagsbier aber die Motoren liefen.

Wir überbrückten die Zeit damit, auf der Kante einer Rollstuhlrampe zu balancieren, ein paar Brote zu essen und den Menschen beim Umherirren auf dem Terminalvorplatz zuzusehen.

Besonders fasziniert waren wir von einer Familie, die so mit Rucksäcken vollgepackt war, dass man die Menschen unter den Taschenbergen kaum mehr sehen konnte. Im Grunde sah man nur zehn große Rucksäcke, die jeweils zu zweit zusammen gebunden waren und die eigenständig in den Terminal liefen.

Die Überfahrt beginnt...

Eine gute halbe Stunde später kam der Bus, der uns zur Fähre bringen sollte. Denn anders als in Griechenland oder Italien konnte man hier nicht einfach von A nach B zu Fuß gehen. Wo käme man denn da hin? Unsere Wagen wurden in die Mitte des kleinen Transfährbusses gestopft, wo sie den kompletten Gang ausfüllten, dass niemand mehr an ihnen vorbeikam. Dann kamen die anderen Passagiere und verteilten sich irgendwie um uns herum. Es waren ein alter Mann, zwei russische Hünen, zwei Frauen und die Rucksackfamilie mit den zuvor unsichtbaren Trägermenschen darunter. Nachdem sie ihr Gepäck zu unserem gelegt hatten, war der Bus so voll, dass keine weiteren Passagiere mehr hineingepasst hätten. Gut also, dass es keine gab.

Wie sich herausstellte stammte die Familie aus Kanada und war nach Frankreich gereist um an einer Gedenkfeier für gefallene Kriegssoldaten teilzunehmen. Der Vater war selbst im Krieg gewesen und hatte daher eine besondere Verbindung zu den Gefallenen. Die Fahrt war nicht lang, reichte aber aus, um zwischen dem Krampfhaften festhalten unserer Wagen, die bei dem wilden Fahrstil des Busfahrers ständig vor und zurück rollen wollten, ein paar Dinge über den Afghanistan-Krieg zu erfahren. Am spannendsten war die Wahrnehmung des Ex-Soldaten von den unterschiedlichen Nationen, die im Kriegsgebiet stationiert waren. Die Deutschen meinte er, hätten sich am wenigsten wohl gefühlt, da von Ihnen eigentlich niemand wirklich hatte irgendwo eingesetzt werden wollen. Diejenigen, die kamen, kamen eigentlich mit der Ansicht, irgendetwas Gutes zu tun, nur um dann festzustellen, dass dies nicht möglich war. Die Italiener hingegen waren da anders. Von ihnen war niemand zum Kämpfen oder Arbeiten hergekommen. Die meiste Zeit lagen sie am Strand oder irgendwo in der Sonne und ließen den Krieg Krieg sein. Viele hätten nicht einmal eine Uniform getragen, meinte er, geschweige denn ihre Waffen.

Sprachprobleme

Abrupt wurde unser Gespräch unterbrochen, denn nun kam eine kleine, französische Frau mit einer Piepsestimme, die schon fast an der Grenze zum Ultraschall lag. Sie wollte die Tickets der Passagiere sehen, verteilte blaue Bordkarten und fragte uns irgendetwas unverständliches zu unseren Wagen.

„Entschuldigung, aber ich habe das leider nicht verstanden!“ antwortete ich auf Französisch.

„Oh!“, sagte sie entschuldigend, „ich dachte, Sie sprechen unsere Sprache!“

„Das tue ich auch! Das Französisch ist nicht das Problem, aber bei ihrer Stimme kann man leider nichts verstehen, egal welche Sprache Sie sprechen!“ wollte ich eigentlich antworten. Ich konnte es mir jedoch gerade noch verkneifen und sagte stattdessen lieber nichts.

„Wollt ihr die Wagen mit an Deck nehmen oder braucht ihr einen Trolli dafür!“ fragte sie nun auf Englisch, was tatsächlich etwas leichter zu verstehen war.

„Keine Ahnung, ist eigentlich egal!“ antwortete ich, doch da die Frau auf eine klare Aussage bestand entschieden wir uns dafür, die Wagen bei uns zu behalten.

Wenige Minuten später stoppte der Bus und von vorne kam das Pieps-Kommando: „Alle ausstigen! Passkontrolle!“

Die Grenzkontrolle

Wie eine große Entenfamilie marschierten wir nun auf einen Grenzposten zu. Links und Rechts standen junge Männer und Frauen, die kaum ihre Volljährigkeit erreicht hatten. Sie trugen Militäruniformen in Flecktarn am Körper und Maschinenpistolen in den Händen, während sie mit kaltem, starren Blick geradeaus schauten. Ein kleines Mädchen fing sofort an zu weinen, als sie die bedrohlich wirkenden Gestalten sah. Und sie hatte recht. Es war ein beängstigender Anblick, der auch hier mitten in Europa immer mehr zu etwas alltäglichem wurde.

Im Grenzgebäude tummelten sich die Menschen wie in einem Ameisenhaufen. Ein Großteil von ihnen bestand aus Jugendlichen in neongelben Jacken, die zu einem Schüleraustausch mit Sprachreise gehörten. Gut, dass man die hohe Frequenz der Stimme unserer Führerin überall heraushören konnte, denn sonst hätte sie es sicher nicht geschafft, alle beisammen zuhalten.

Am britischen Posten für die Passkontrolle stand eine adrette Dame.

„Können wir einen Stempel bekommen?“ fragte Heiko, als sie uns die Ausweise zurück gab.

„Sorry Jungs“, scherzte sie, „dafür seit ihr noch zwei Wochen zu früh! Ihr könnt ja warten, bis wir aus der EU ausgetreten sind und dann wider kommen!

Unsere Piepsestimme führte uns zurück in den Bus und weiter ging die Fahrt ins innere der Fähre. Obwohl die Entfernung gerade einmal einen Bruchteil von der zwischen Igoumenitsa und Brindisi ausmachte, war die Fähre eher größer als kleiner. Noch war sie weitgehend leer, aber das sollte sich in den nächsten Minuten grundlegend ändern.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: England wir kommen!

Höhenmeter: 320 m

Tagesetappe: 39 km

Gesamtstrecke: 21.943,27 km

Wetter: Sonnig und relativ warm in Frankreich, kalt und ungemütlich in England

Etappenziel: Gemeindesaal der Kirche, CT18 Capel-la-Ferne, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare