Tag 1198: Dover – Die Stadt am Rande des Wahnsinns

von Heiko Gärtner
11.06.2017 04:07 Uhr
Fortsetzung von Tag 1197:

Dann kam die Erlösung. Die Fähre hatte festgemacht und das Signal zum Verlassen des Schiffes wurde gegeben. Jetzt aber kam der größte Knaller! In Calais waren wir zwar als Fußgänger über das Parkdeck an Bord gekommen, hier in Dover aber musste man es über eine Gangway vom Oberdeck aus wieder verlassen. All diese Menschen hatten die ganze Zeit über also vor der falschen Tür gestanden. Diejenigen, die sich vor gedrängelt hatten, um als erstes die Treppe hinunterrennen zu können, waren nun die letzten in der Schlange, die in Richtung Außendeck führte. Wir beschlossen, das zu tun, was wir bereits die ganze Zeit getan hatten: Abwarten, bis der Spuk vorbei war und so lange ruhig auf unseren Sesseln sitzen bleiben. Als das Schiff weitgehend leer war machten auch wir uns auf zur Gateway und gingen an Land.

Noch beim Verlassen des Schiffes war uns klar, dass dies auf Dauer keine Art des Reisens war. Es war ein notwendiges Übel, das man eingehen konnte, wenn es gar nicht anders ging, aber als Hauptreisemethode wie es viele Backpacker machten, war es in unseren Augen absolut ungeeignet. Uns war bereits jetzt klar, dass wir erst wieder ein oder Zwei Tage brauchen würden, um uns von all dem zu erholen.

Nicht der beste erste Eindruck

Doch wenn wir nun geglaubt hatten, das unsere Schiffsreise damit vorbei war, hatten wir uns geschnitten. Wieder mussten wir auf einen Bus warten, der uns kreuz und quer über ein irres Autobahnengewirr fuhr und schließlich an einem weiteren Terminal ausspuckte. Hier trafen wir unsere überladenen Kanadier wieder, die gerade an einem Mietwagenschalter standen, um ihre Fahrt nach London zu organisieren.

Trotz der Busfahrt befanden wir uns noch immer nicht in Dover, sondern am Rande einer Hauptstraße unterhalb der Klippen. Die Klippen waren tatsächlich das einzig Schöne, das wir seit Erreichen des Hafens von Calais zu sehen bekamen. Es war eine strahlend weiße Steilküste, die Senkrecht ins Meer herabfiel. So einen Hafen und so ein Straßennetz darunter zu bauen, war der Inbegriff einer Bausünde.

Unser erster Eindruck von England hätte frustrierender und erschreckender kaum sein können. Ich weiß nicht was wir erwartet hatten, denn dass eine Hafenstadt über die fast der gesamte Export und Import des Landes läuft nicht gerade idyllisch sein würde, war ja eigentlich klar. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, dass es gleich so heftig werden würde. Dover war ein Molloch, das sogar Messina an Absurdität noch übertraf. Die Stadt war nicht groß und als wir am Terminal nach dem „City-Center“ fragten, wurden wir sofort korrigiert, da es sich hier lediglich um eine „Town“ handele. Doch das machte es nicht besser. Die Straßen waren überfüllt, die Gebäude in miserablem Zustand und die Menschen wirkten nicht, als wollte man sich auch nur für eine Minute mit ihnen unterhalten. In der Innenstadt wurde es nicht besser. Warum um alles in der Welt lebte hier überhaupt irgendjemand?

Ab durch die Mitte von Dover

Die Innenstadt wurde von einer alten Steinkirche und einem kleinen Park dominiert, in dem sich das halbe Stadtleben zu tummeln schien. Auf seltsame Weise waren wir gleichzeitig fasziniert und entsetzt. Am Rande der Wiese gab es einen Skaterpark, in dem Jugendliche einige waghalsige Tricks mit ihren Rollern, Skateboards und Inlineskates darboten, während ihre Kumpel auf den Bänken saßen, kifften und sich betranken. Die weiter entfernten Bänke waren größtenteils von Obdachlosen belegt, die sich ebenfalls zum Saufen hier trafen. Rechts von uns waren gerade zwei Männer damit beschäftigt, sich in einer aufsehenerregenden Schlägerei gegenseitig die Mäuler zu polieren und nur wenige Meter weiter gingen zwei junge Mädchen mit kurzen Schulröcken spazieren, die gerade ihre Hintern verdeckten. Wenn es ein Rezept gab, um Gewalt und sexuelle Übergriffe zu produzieren, dann war es dieser Menschen-Cocktail. Die Engländer-Quote schien dabei insgesamt eher gering zu sein und es wirkte ein bisschen wie ein Zusammentreffen aller Nationen auf allen Herren Ländern.

So erschöpft wir von der Reise auch waren, so sehr war uns doch klar, dass wir hier unmöglich bleiben konnten. Wir suchten unseren Weg hinaus aus der Innenstadt in den hinteren Bereich und wandten uns immer mehr den Bergen zu. Von der Hauptstraße bogen wir in eine Nebenstraße und von dort in eine noch kleinere Straße ein, doch am Verkehr änderte das zunächst einmal überhaupt nichts. Vor uns lagen nun nur noch ein paar Reihenhäuser, von denen viele auch noch leer Standen. Wo also kamen all diese Autos her?

Alles nur eine Illusion?

„Das passt doch schon wieder nicht!“ sagte Heiko entschieden. „Das ist doch schon wieder alles nicht real!“

Wir hielten kurz an um ein paar Muskeltests zu machen und tatsächlich kam dabei heraus, dass gerade einmal 0,0001% dessen, was wir heute erlebt hatten real gewesen war. Die Überfahrt nach Dover war ein weiterer, wichtiger Schritt hin zu meinem Ritual mit dem Branding gewesen und das rief natürlich wieder Gegenwind auf den Plan. Der Gegenspieler war aktiv wie schon lange nicht mehr und das spürten wir in allen nur erdenklichen Bereichen.

Kaum hatten wir darüber gesprochen, hörte der Verkehr abrupt auf. Das letzte Auto fuhr genau in dem Moment an uns vorbei, in dem Heiko die Worte ausgesprochen hatte. Dann war es still. Vor uns wurde die Straße nun zu einem schmalen Asphaltweg, der steil hinauf auf die Hochebene führte. Es waren nicht einmal 200m, die wir zurücklegen mussten und schon waren wir wie in einr vollkommen neuen Welt. Nichts erinnerte mehr daran, dass hinter uns die Hölle von Dover lag. Wir hätten ebenso gut im Herzen von Montenegro oder Slowenien sein können. Links und Rechts von uns erstreckten sich die hügeligen Felder. Alles war grün, still und friedlich.

Endlich raus ins Grüne

Nach drei Meilen, also rund vier Kilometern erreichten wir ein winziges Dorf, in dem wir unser Glück versuchen wollten. Es gab einen Gemeindesaal, der hier „Village-Hall“ heißt, und den es, wie sich später zeigte, auch in den meisten anderen Dörfern hierzulande gibt. In der Theorie sind sie sicher keine Schlechte Anlaufstelle, aber für heute half uns der Saal nicht weiter. Er wurde von einem Verein betreut und dessen Vorsitzende war der Meinung, dass man ihn nur gegen Bezahlung nutzen dürfe, egal worum es ging. Eine andere ältere Dame stellte jedoch den Kontakt zum Pfarrer im Nachbardorf her und dieser versprach uns im Mehrzwecksaal seiner Kirche aufzunehmen.

Der Ort des Pfarrers hieß Capel und lag direkt oberhalb der Klippen.. Um zur Kirche zu gelangen führte uns der Weg ein kleines Stück an den Felsen entlang und verschaffte uns so noch einmal einen deutlich schöneren Blick aufs Meer, als wir ihn von der Fähre oder der Stadt aus hatten.

Eine schnelle Ankunft und ein entspannter Abend waren uns aber trotzdem noch nicht vergönnt, denn wie sich herausstellte, waren beide Bereiches des Saals bis um 21:00 Uhr belegt. Im großen Saal fand ein Nähkurs statt und im kleineren ein Hundetraining. Warum man ein Hundetraining in einem Kirchensaal veranstaltete, blieb uns ein Rätsel, aber so war es nun einmal.

Unsere erste Einladung

Um nicht bis um neun Uhr in der Kälte stehen zu müssen, brachte uns der Pfarrer zu einer Freundin, die ein paar Häuser weiter wohnte. Sie hieß Audry und machte uns als aller erstes einmal einen Tee. Tatsächlich stellten wir bereits an diesem ersten Tag fest, dass man viele der Vorurteile über Briten durchaus bestätigen konnte. Was immer der Tag auch brachte und wie immer eine Situation auch gestrickt sein mochte, es gab nichts, das man nicht erst einmal mit einem Tee beginnen konnte. Selbst die Frau aus dem Nachbarort, die nur den Kontakt zum Pfarrer hergestellt und uns den Weg beschrieben hatte, bot uns an, vor dem Aufbruch noch einen Tee zu trinken. Auch die Angewohnheit, lange Reihenhäuserketten zu bauen, die alle komplett identisch waren, fanden wir sofort bestätigt. Es war fast ein bisschen unheimlich, wie sehr man sich hier permanent an Harry Potter erinnert fühlt. Fast in jeder Straße hat man das Gefühl, dass man vor dem Haus seiner Tante steht und ihn von unter der Treppe her rufen hört.

Ein warmes Abendessen

Zum Abendessen bekamen wir Chips and Sausages with Backed Beans, also Würstchen mit Pommes und Bohnen. Auch das war schon fast klischeehaft, dafür aber auch sehr lecker.

Der Star des Abends jedoch war Trike, der dreibeinige Hund von Audry, der sich trotz seines stolzen Alters von 84 Hundejahren, seinem fehlendem Hinterbein und massivem grauen Star noch immer wacker schlug und munter in der Wohnung herum hüpfte.

Von Audry erfuhren wir auch einige spannende Details über den Tunnel, der England mit dem Festland verbindet. Es gibt genau zwei Möglichkeiten, um ihn zu passieren. Die erste ist ein Personenzug, also ein ganz normaler Zugverkehr zwischen England und Frankreich. Früher fuhren die Züge regelmäßig und man konnte von hier aus in nur wenigen Minuten zum Festland reisen. Heute ist das jedoch anders. Da es hauptsächlich reiche Geschäftsleute aus London sind, die den Zug nutzen, wurde das System für diese Zielgruppe optimiert. Das bedeutet im Klartext, dass es nun nur noch eine Direktverbindung via Schnellzug zwischen London und Frankreich gibt. Wer also aus Dover mit dem Zug nach Frankreich möchte, muss zunächst bis nach London fahren und dann wieder zurück. Das nenne ich mal ein sinnvolles System. Dummerweise hilft uns das überhaupt nicht, denn nach unserer Erfahrung mit der Fähre hatten wir uns bereits überlegt, ob der Tunnel nicht doch eine Alternative sein könnte. Aber London wird definitiv nicht besser sein als Dover.

Zugverbindung zwischen Dover und dem Festland

Die zweite Methode ist der Auto-, oder LKW-Zug, mit dem man von Folkstone aus starten kann, was nur wenige Kilomert hinter Dover liegt. Einziger Haken: Es ist ein reiner Güterzug und man kann ihn wirklich nur mit einem Fahrzeug nutzen, an dessen Steuer man sitzt.

Die Logistik für das Transportieren der LKWs ist tatsächlich so groß, dass der Tunnel-Zug der größte Arbeitgeber der Region ist. Genaugenommen arbeiten mehr als 50% aller Einwohner von Dover und Umgebung für den Tunnel, darunter auch Audrys Tochter und ihr Schwiegersohn.

Audrey selbst arbeite in der Früh als Reinigungskraft, um sich neben ihrer Rente noch etwas hinzuzuverdienen. Mit der Rente allein kam man hier offenbar noch schlechter zurecht als in Deutschland. Bis vor einigen Jahren mussten die Frauen hier bis 60 und die Männer bis 65 Jahre Arbeiten, bevor sie in Rente gehen konnten. Diese Regelung wurde als unfair empfunden und im Rahmen der Gleichberechtigung hat man das Alter nun allgemeingültig auf 70 Jahre festgelegt. Wenn man sich schon die Mühe machte, hier eine Gleichberechtigung zu erschaffen, dann konnte man dafür am Ende wenigstens alle leiden lassen. Und wo man schon dabei war, hat man die Rente auch gleich noch so weit runterdrosseln können, dass man ohne private Zusatzrente nicht mehr davon leben konnte.

Das Strom-Dilemma

Kurz bevor es an der Zeit war zu gehen, fiel uns auf, dass wir hier noch ein weiteres Problem hatten, über das wir uns keinen einzigen Gedanken gemacht hatten. In England gibt es ein vollkommen neues Steckersystem in diesem Land und ohne einen Adapter kann man nicht einmal sein Handy mit Strom befüllen, geschweige denn einen Adapter. Für den ersten Abend konnte uns Audry aushelfen, aber dennoch wird kein Weg daran vorbeiführen, morgen erneut in den Wahnsinn der großen Küstenstädte hinabzusteigen und einen Supermarkt zu finden, in dem wir einen Adapter kaufen können.

Als wir schließlich dazu kamen, unsere Schlafplätze aufzubauen, war es bereits 22:00 Uhr und der Tag war nahezu gegessen. Wir hatten heute rund 40km zu Fuß zurückgelegt und noch einmal weitere rund vierzig Kilometer mit dem Schiff. Als Resümee kann man schon einmal festhalten, dass die vierzig Kilometer Schiffsfahrt weitaus anstrengender waren, als die 40 gelaufenen.

Spruch des Tages: Mögen die nächsten Tage etwas entspannter werden.

Höhenmeter: 260 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 21.958,27 km

Wetter: Sonnig und windig

Etappenziel: Aufenthaltsraum in der Kirche, TN25 Mersham, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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