Tag 1200: Erste Reiseerfahrungen mit England

von Heiko Gärtner
05.07.2017 03:53 Uhr

12.04.2017

Wir sind nun drei Tage im Land und damit bereit, um ein erstes kleines Zwischenresümee zu ziehen. England ist definitiv ein besonderes Land und es ist ohne jeden Zweifel deutlich anders, als wir es erwartet hätten. Je nachdem, wohin man kommt, ist man immer wieder vollkommen fasziniert von seiner beeindruckenden Schönheit und entsetzt davon, wie viel auch hier zerstört wurde. Der Straßenbelag ist bei weitem schlechter als in Frankreich oder Deutschland, weshalb der Verkehr hier noch einmal um einiges lauter ist. Aus irgendeinem Grund ist er auch bedeutend stärker und sogar die kleineren Dorfstraßen sind zum Teil so sehr befahren, dass man fast nicht mehr an ihnen entlang gehen kann. Dafür gibt es aber auch immer wieder winzig kleine Sträßchen, die so schmal sind, das gerade einmal ein einzelnes Auto auf ihnen Platz hat, und die nahezu unbefahren sind. Wenn man auf ihnen wandert, ist man wie in einer anderen Welt, in die unsere moderne, lärmende Zivilisation noch keinen Einzug gefunden hat. Großartig sind auch die vielen kleinen Trampelpfade, die es hier überall gibt. Für uns sind sie leider nichts, da es wirkliche Pfade oder teilweise sogar nur Wiesen sind und da man fast ununterbrochen irgendwo über Zäune klettern muss, aber für Kurzzeitwanderer mit Rucksack oder Spaziergänger sind sie der Knaller. Leicht irritierend dabei ist nur, dass sie an vielen Stellen dadurch instand gehalten werden, dass man auf einer einmeter breiten Spur Round-Up verteilt, um den Pflanzenbewuchs zu töten.

Rustikal aber entspannt

Alle Ortschaften, die auch nur ein bisschen größer sind, so dass man sie hier als „Town“ bezeichnet, haben sich bislang als unerträglich herausgestellt. Die kleineren sind hingegen meist recht angenehm, bieten aber überhaupt keine Infrastruktur mehr. Bislang haben wir außerhalb von Dover und Folkstone noch keinen einzigen Markt, Bäcker, Schlachter oder sonst irgendetwas in der Richtung gesehen. Was es aber gibt, und das ist wirklich ein Segen, sind Pfarrer, oder besser Pastoren, da wir uns ja in einem evangelischen Land befinden. Die drei, die wir bislang kennenlernen durften waren die Lockerheit und Entspannung in Person. Heute übernachten wir schon wieder in der Kirche, wenngleich auch in einem kleinen Nebenraum. Die Antwort des Pastors auf meine Frage hin lautete: „Kein Thema, geht einfach rüber zur Kirche, geht durch die kleine Tür links und schnappt euch den Schlüssel von der Anrichte. Damit könnt ihr die Küche aufschließen, damit ihr euch einen Tee kochen könnt und dann könnt ihr im Kirchenraum arbeiten und schlafen.“

Anders als in Frankreich und den meisten Teilen Europas gibt es hier jedoch noch ein lebendiges Dorfleben. Das ist auf der einen Seite natürlich löblich, uns auf der anderen aber leider nicht besonders zuträglich, da es bedeutet, dass die Räume fast immer in Benutzung sind. Am ersten Tag hatten wir das Problem mit dem Nähkurs und dem Hundetraining, am zweiten konnten wir einen Saal aufgrund eines Bridge-Tourniers überhaupt nicht nutzen und heute haben wir von 19:00 bis 21:00 Uhr einen Chor zu Gast, dem wir irgendwie ausweichen müssen.

Eine eigene Ästhetik

Rein vom Stil und von der Ästhetik her ist England definitiv eines der schönsten Länder. Man spürt den Reichtum, auch wenn er heute bei weitem nicht mehr ist, was er einmal war. Und man spürt, dass den Menschen die Pflege ihres Eigentums wichtig ist. Auch hier treffen wieder alle Vorurteile zu, von denen man jemals gehört hat. Der Englische Rasen ist legendär und das nicht ohne Grund. Der Unterschied zwischen einem Golfplatz und einem gewöhnlichen Vorgarten ist hier kaum auszumachen. Auch die alten Häuser sind um ein Vielfaches besser erhalten als in Frankreich, obwohl größtenteils die gleichen Materialien und der gleiche Baustil verwendet wurden. Nur die Autobahnen machen wieder einmal alles kaputt. Sie kommen uns hier vor wie in Deutschland. Das Hintergrundrauschen ist nahezu allgegenwärtig und viele der Häuser, vor allem in der unmittelbaren Nähe zu den Hauptstraßen und Autobahnen, haben nur dünne Einscheibengläser, die keinerlei Schallisolation besitzen. Wärmeisolation natürlich auch nicht, was hier ebenfalls nicht ganz unproblematisch sein dürfte.

Typisch Englisch

Bleiben noch zwei Dinge: Das Wetter und der Tee.

Zum Wetter: Es ist hier wirklich kalt. Gestern und vorgestern hatte die Sonne geschienen, so dass es noch relativ warm war, aber heute verschwand sie hinter einer dicken, grauen Wolkenschicht und schon hatte man das Gefühl, der Winter ist zurück. Fast permanent weht ein steifer Wind, der sich schon wieder mit uns mitzudrehen scheint, um jede Gelegenheit nutzen zu können, uns ins Gesicht zu pusten. Was das anbelangt liegt aber die Vermutung nahe, dass dies auch im Zusammenhang mit dem näher rückenden Ritual steht. Auch der Verkehr und viele andere lästige Dinge mögen weniger mit Großbritannien und viel mehr mit dem Widerstand meines Gegenspielers gegen meinen Wandlungsschritt zu tun haben. Ein richtiges Bild von England können wir uns daher wohl erst ein paar Tage danach machen.

Und ja: England ist das Land des Tees! Das ist weit mehr als ein Klischee. So wie für die Italiener ihre Pasta zu jedem Essen gehört, gehört hier der Tee zu jeder Gelegenheit. Dementsprechend muss man hier natürlich auch ständig aufs Klo. Aber man muss sagen, dass es eine wirklich angenehme Tradition ist, denn sie schafft sofort eine Gemütlichkeit und eine Stimmung des Willkommen-Seins, die man sonst auf der Welt nur selten findet.

Höflich und Zeitintensiv

Lediglich in Sachen Zeiteffektivität liegt man hier auch wieder nicht allzu weit vorne. So freundlich und offen die Menschen auf der einen Seite sind, so redselig sind sie auch und man ist fast ständig irgendwo in ein Gespräch verwickelt. Dabei wird auch immer wieder die sprichwörtliche Höflichkeit deutlich. Ein Engländer sagt nicht einfach ab oder nein, wenn er etwas nicht will. Er verpackt sein „Nein“ in eine Kette aus Freundlichkeiten, die einem den Anschein vermitteln, er hätte eigentlich „Ja“ gesagt, nur eben zu etwas ganz anderem.

Als ich vorhin nach Internet fragte, war eine Antwort von einem Nachbarn beispielsweise: „Haben Sie es schon bei der Post versucht? Ich glaube zwar nicht, dass die Ihnen helfen können, aber vielleicht sind Sie dort trotzdem an der richtigen Adresse!“ Zu Deutsch: „Ich lasse keine Fremden in mein Haus, versuchen Sie es irgendwo, aber nicht hier!“

Es kann also durchaus noch ein bisschen dauern, bis ich diese Verschlüsselungscodes lerne.

 

Spruch des Tages: Jedes neue Land ist wie eine neue Welt

 

Höhenmeter: 560 m

Tagesetappe: 36 km

Gesamtstrecke: 22.011,27 km

Wetter: Sonnig und windig

Etappenziel: Kirche, TN5 7DD Ticehurst, England

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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