Tag 1203: Osterüberraschung

von Heiko Gärtner
18.07.2017 23:50 Uhr

16.04.2017

Zum Abschied kam der Pfarrer noch einmal mit seiner Tochter vorbei und brachte uns ein Frühstück. Eine nette und für uns äußerst wichtige Geste, denn vor uns lag wieder einmal eine Marathonwanderung, die erst am Abend enden sollte. Dieses Mal lag das Problem jedoch nicht darin, dass man uns nicht aufnehmen wollte oder konnte, sondern darin, dass es keinen Ort gab, an dem wir auch nur hätten fragen können. Wir kamen lediglich durch eine größere Stadt, in der wir zwar ein gelungenes indisches Mittagessen bekamen, die aber ansonsten so ein grauenhafter Ort war, dass wir unter keinen Umständen länger bleiben wollten, als es dauerte, ein indisches Reisgericht zu verputzen. Spannend war jedoch, dass sich dies nur auf die Innenstadt bezog. Sobald man in die äußeren Wohnviertel gelangte, wurde es ruhig und relativ friedlich.

Der nächste Ort war zwar kleiner und wäre an sich auch nicht verkehrt gewesen, doch er lag direkt neben einer Autobahn und die Kirche war das letzte Gebäude, dass die Verkehrsader von ihrer Umgebung trennte. In ihrem Inneren war es noch immer fast genauso laut, als wenn wir uns gleich auf die Autobahnauffahrt gelegt hätten. Wieder stand also fest, dass wir hier nicht nach einem Platz fragen mussten.

Auch heute hatten wir wieder einige spannende Begegnungen, dieses mal jedoch nicht mit Buddhisten, sondern mit drei sehr unterschiedlichen Frauen, die jeweils einen Aspekt von Shanias wahrem Selbst zu verkörpern schienen. Später fanden wir sogar heraus, dass diese unbewusst von Shania geschickt wurden. Die erste war eine junge Frau auf einem Fahrrad, die uns freundlich ansprach und ein Stück mit uns mit kam und uns sogar einen Platz zum Übernachten und/oder einen Tee mit Keksen anbot. Zu diesem Zeitpunkt waren wir jedoch gerade erst gestartet und uns war klar, wie viel Strecke noch vor uns lag, weshalb wir beide Angebote ausschlugen. Das besondere an der Frau war ihre von Grund aus unterstützende, positive Ausstrahlung und ihre Sanftheit. Die Zweite Frau tauchte nur einmal kurz auf, als sie an uns vorüber ging, blieb Heiko jedoch sofort im Gedächtnis hängen. Es schien, als hätte sie tatsächlich ihren Medizinkörper angenommen, also den Körper den sie von ihrem tiefsten Sein her haben sollte. Sie war sportlich, attraktiv, vollkommen in ihrer Weiblichkeit und hatte eine erotische und gleichzeitig mysteriöse Ausstrahlung.

Die dritte Frau fuhr am Abend in einem Cabrio an uns vorbei, drehte um und kam dann noch einmal zurück um anzuhalten und mit uns zu sprechen. Sie schenkte uns je ein Osterei als Ostergeschenk wodurch uns zum ersten Mal heute so richtig bewusst wurde, das gerade Ostern war. Aus ihrem offenen Wagen strömte laute Rockmusik, ihr Hund schaute zu uns herüber und sie hatte mitten auf der Straße geparkt, ohne Rücksicht darauf, ob vielleicht jemand vorbeifahren wollte oder nicht. Alles an ihr strahlte eine Lockerheit und Fröhlichkeit aus, wie man sie nur selten bei Menschen antrifft. Am meisten natürlich das weiße Hasen-Puschel-Schwänzchen, das sie noch immer an ihrem Hintern trug, da sie gerade von einer Osteraktion mit ihren Kindern heimkehrte. Auch wenn man es ausgehend von ihrem modischen und quirligen Auftreten zunächst nicht vermutet hätte, war sie eine sehr tiefsinnige und spirituelle Frau. Ironischer Weise trug sie ein T-Shirt auf dem sinngemäß so etwas stand wie: „Besitzlosigkeit macht Glücklich!“ Ihr Wagen passte nicht ganz in diese Philosophie, aber das war ihr auch bewusst.

Kurz nach der Begegnung mit ihr erreichten wir den Fuß der knapp 100 Meter hohen Dünen, die das Innenland von der Küste trennten. Direkt hinter diesen Dünen lagen Brighton, Worthing und einige andere Städte, die sich dicht aneinander drängten. Doch auf dieser Seite war es vollkommen Still. Es gab lediglich ein winziges Dörfchen mit vielleicht 80 Einwohnern und einer kleinen, etwas außerhalb gelegenen Kirche. Einen Pfarrer oder Verwalter trafen wir nicht an, dafür aber eine freundliche Dame, die eng mit der Kirche verwoben war und die die ganze Angelegenheit sehr locker betrachtete: „Ihr könnt euch einfach in die Kirche legen, die ist ohnehin immer offen!“ Später erfuhren wir von einem Nachbarn, dass es nicht selten vorkam, dass die Kirche auch von Obdachlosen bewohnt wurde, die manchmal sogar eine Woche oder länger blieben. Spannend war dabei, dass die Kirchen allein dadurch das sie Kirchen waren einen vollkommen anderen Umgang erreichten, als die Obdachlosenwohnheime in Frankreich. Es war jedem klar, der hier übernachtete, dass er ein Gast war und dass er das Gebäude mit Respekt zu behandeln hatte. In einer offiziellen Obdachlosenunterkunft hingegen herrchte im Allgemeinen die Einstellung, das man hausen konnte, wie man wollte, da es ja eh keinen interessierte.

Die Frau tat jedoch noch weitaus mehr für uns, als uns ihren Segen für die Kirche zu geben. Sie rief auch noch einmal bei einer Nummer in Goring, einem Nachbarort von Worthing an, die wir einige Tage zuvor bekommen hatten, unter der wir aber niemanden erreichen konnten. Sie hatte mehr Glück und so kam es, dass wir nun, einen Abend bevor wir Worthing erreichten einen sicheren Schlafplatz vor Ort bekamen, an dem wir sogar zwei Nächte bleiben durften. Seit ich den Termin mit Quentin vor rund zwei Monaten ausgemacht hatte, hatte ich versucht, hier einen Schlafplatz aufzutreiben und war immer wieder gescheitert. Nun, in der letzten Sekunde hatte es dann doch noch funktioniert.

Spruch des Tages: Da haben wir wirklich Besuch von einer Osterhäsin bekommen.

Höhenmeter: 370 m

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 22.109,27 km

Wetter: heiter bis wolkig und windig

Etappenziel: Kirche, BN12 4PA Goring by Sea, England

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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