Nähe und Distanz

von Franz Bujor
02.05.2014 19:03 Uhr

Kathrin hatte vor kurzem ihren Job bei einer Versicherung gekündigt, und hatte daher einige Monate frei. Ihr Chef war einverstanden gewesen, ihr Gehalt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiterzuzahlen, sie jedoch mit sofortiger Wirkung zu beurlauben. Da ihr Mann jedoch arbeiten musste, war sie alleine zum Jakobsweg aufgebrochen. Ihre Wahrnehmung von den Einheimischen und von der gesamten Situation hier, ähnelte unserer wie ein Ei dem anderen. Auch sie empfand die enorme Lautstärke und das fehlende Gespür für Nähe und Distanz als unangenehm und fragte sich, wie die Menschen hier damit zurecht kamen. Damit dass die Nordspanier ein vollkommen anderes Gefühl dazu hatten, was ein angemessener Körperabstand bei einem Gesrpäch ist, hatte ich auch schon einige Male zu kämpfen gehabt. In Deutschland tritt man, außer in einer Menschenmenge oder in einem Fahrstuhl, normalerweise nicht näher als eine komplette Armlänge an einen fremden Menschen heran, wenn man sich mit ihm unterhalten will. Hier jedoch beträgt der durchschnittliche Abstand ungefähr eine Handkantenlänge. Du stellst jemandem eine Frage und wenn es keinen Tresen gibt, der ihn davon abhält, dann tritt er so nah an dich heran, dass du aufpassen musst, ihm beim Sprechen nicht in die Nase zu beißen. Ich habe normalerweise nichts gegen Nähe, aber das ist mir dann doch ein bisschen viel. Vor allem, weil die meisten dann so laut sprechen, als würden sie auf der anderen Straßenseite stehen. Dazu wird recht viel gestikuliert und mindestens bei jedem zweiten Satz greift einem jemand am Arm. Wären die Menschen dabei besonders Gefühlvoll und Herzlich, dann wäre das wahrscheinlich sogar eine durchaus verbindende und vielleicht sogar angenehme Angewohnheit. Doch die Grundstimmung, die einem entgegengebracht wird ist meist eher unterkühlt oder skeptisch, so dass man eher darauf bedacht ist, den Abstand zu vergrößern. Alles zusammen macht ein Gespräch in der Regel ziemlich komplex.

Vor ihrer Kündigung hatte Kathrin bei einer Versicherung gearbeitet, was Anlass für ein längeres Gespräch über das Gesundheitssystem in Deutschland gab. Im letzten Jahr hatten wir fast zwei Monate damit verbracht, alles über das Medizinsystem zusammenzutragen, was normalerweise vor der Öffentlichkeit verborgen bleibt. Dabei waren wir auf einige sehr erschütternde Fakten gestoßen, die unser Vertrauen in das System vollständig zerstört hatten. Kathrin hatte diese Recherchen nicht gemacht, hatte aber durch ihre Arbeit bei der Krankenkasse viele tiefe Einblicke in das System bekommen. Es gehörte zu ihrem Job, Statistiken über den Zusammenhang von Berufen, Lebensstilen und Krankheiten zu erstellen, sowie über die Wirksamkeit von verschiedenen Behandlungsmethoden. Ihr Endresümee war dabei jedoch ebenso ernüchternd wie unseres: „Gesundheit ist in unserer Gesellschaft absolut unmöglich!“ sagte sie, „es gibt einfach niemanden, der nicht auf irgendeine Art gesundheitlich angeschlagen ist. Nicht einmal Kinder.“ Sie sah diesen Umstand jedoch als Gegeben an und meinte, es sei eben einfach so. In dieser Hinsicht waren wir anderer Meinung. Es gab durchaus Kulturen, in denen es Gesunde Menschen gab und wenn wir uns mit unserer Lebensweise selbst krank machten, dann musste es auch einen Weg geben, uns mit einer anderen Lebensweise gesund zu machen.

Das andere Thema, das uns faszinierte war ihre Erzählung über ihre Zeit in Indien. Dort hatte sie in der deutschen Botschaft gearbeitet, wodurch sie viel über das Leben in Indien hatte lernen können. Sie hatte bei einer älteren Dame gelebt, die als Gymnasiallehrerin einen gehobenen Lebensstandard führte. Deshalb hatte sie eine Haushälterin, die für alles zuständig war, was es im Haus zu tun gab, sowie eine Putzfrau und einen Chauffeur. Der Haushälterin ging es für ihre „niedere Abstammung“ verhältnismäßig gut, denn sie durfte in der Garage wohnen. Es gab kein Garagentor, sondern nur ein Gitter, dass sie mit Teppichen einigermaßen Wetterfest verkleidet hatte, doch die Garage bot mehr Platz und Komfort, als die Blechhütten, in denen die meisten anderen ihrer Kaste lebten. Das Kastensystem, nachdem es Menschen verschiedener Wertigkeit gab, erforderte einige solcher skurrilen Lebensumstände. Dazu gehörte, dass die Lehrerin durchaus Autofahren konnte und wollte. Sie durfte es jedoch nicht, da diese „niedere“ Tätigkeit einer „niederen“ Kaste vorbehalten war. Hätte sie auf einen Chauffeur verzichtet, hätte sie damit einem Mann den Arbeitsplatz genommen, den er dringend brauchte. Auch galt alles, was das Hauspersonal benutzte als unrein. Die Haushälterin saß zwar des Öfteren am Abend mit im Wohnzimmer um gemeinsam mit Kathrin und ihrer Vermieterin Fernsehen zu schauen, doch sie musste dabei eine Plastikschale auf das Sofa legen, da sie den Stoff nicht direkt berühren durfte. Des Weiteren hatte sie eigenes Besteck und Geschirr, für den Fall, das sie gemeinsam mit ihrer Herrin essen wollte. Denn wenn sie mit anderem Geschirr aß, dann war dieses auf eine Weise verunreinigt, die selbst mit gründlichem Waschen nicht mehr aufzuheben war.

Noch krasser wurde das System in Verbindung mit dem westlichen Wirtschaftssystem. Es war nämlich durchaus möglich, dass ein Mitglied einer niederen Kaste eine Führungsposition in einer Firma einnahm, wenn es ihm gelang, sich hochzuarbeiten. Innerhalb der Arbeitszeit wurde er dann von allen als Chef akzeptiert und geachtet. Traf man sich nach der Arbeit jedoch privat, so hatte der Chef plötzlich wieder die gleiche verachtete Position, die für seine Kaste typisch war. „Ich habe nie verstanden,“ sagte Kathrin, „wie die Menschen es schafften, so schnell zwischen diesen verschiedenen Rollen hin und her zu wechseln, ohne komplett aus dem Konzept zu geraten.“

Am Abend luden wir Kathrin noch auf einen Filmabend ein. Zum ersten Mal in Spanien hatten wir so viel Zeit uns Ruhe, dass wir uns wieder einmal eine DVD auf dem Computer anschauen konnten. Ein schöner Ausklang für einen entspannten Tag.

Heute ließen wir den Tag ebenfalls wieder entspannt angehen. Nach den anstrengenden letzten Wochen hatten wir etwas Erholung dringend nötig. Wie gestern und vorgestern war auch heute die Autobahn unser ständiger Begleiter. Dazu kam wieder eine ordentliche Portion Regen. Wir hätten nicht gedacht, dass wir in Spanien so viel mit schlechtem Wetter zu kämpfen hätten. Langsam freuten wir uns wirklich wieder auf Sonne, aber der Wetterbericht kündigt noch bis zum Ende der nächsten Woche Dauerregen an. Laredo war früher einmal ein kleiner idyllischer Ort mit einem unglaublich langen Sandstrand. Dann hatte es hier einen totalen Bauboom gegeben und der komplette Strand war mit Hotelblöcken eingedeckt worden, die die Idylle so gut es ging verschandelten. Heute waren die Hotels fast alle verfallen. Die Promenade war komplett tot und ganz Laredo erinnerte mehr an eine Geisterstadt, als an einen Touristenmagneten. Nur in der Altstadt gab es noch ein bisschen Leben und hier waren die meisten Menschen tatsächlich Touristen. Vor allem Pilger. So viele Pilger wie heute haben wir überhaupt noch nicht gesehen. Der Pfarrer von Castro hatte uns empfohlen, bei den Schwestern des Trinidad-Ordens nach einem Schlafplatz zu fragen, da diese eine Herberge betreuten. Der Trinidad-Orden war jedoch derjenige, bei dem wir vor einigen Tagen schon einmal einen Versuch gestartet hatten. Es waren die Nonnen gewesen, mit denen ich durch die Wand hatte sprechen müssen, weil ihr oberstes Gebot war, niemals ihr Kloster zu verlassen und niemals in Kontakt mit einem Außenstehenden zu kommen. Wie erwartet halfen sie uns kein Stück weiter. Es war, als hätten sie ein Gelübde abgelegt, niemals einem Menschen zu helfen. Ich erfuhr jedoch, dass es einen anderen Orden in der Stadt gab, der zu den Franziskanern gehörte. Auch diese Schwestern betreuten eine Herberge und sie waren uns gegenüber deutlich hilfsbereiter. Wir bekamen ein Zimmer und einen Platz für unsere Wagen.

Bei unserem weiteren Erkundungsgang durch den Ort trafen wir einen Bettler, der ebenfalls nach Santiago pilgerte. Es war Franzose, lebte aber seit einigen Jahren in Spanien. Wir gaben ihm einige Tipps, wie er kostenlos an Schlafplätze oder Essen gelangen konnte und unterhielten uns eine Weile mit ihm. Er sah recht heruntergekommen aus und daher war es für ihn deutlich schwerer Hilfe zu bekommen als für uns. Von den Pfarrern war er fast immer abgelehnt worden. Dabei war er ein unglaublich sanfter und sympathischer Mensch. Er war der erste, mit dem ich auf Spanisch sprach, ohne das Gefühl zu haben in Hektik zu geraten. Er sprach ruhig und angenehm und hatte anders als die meisten hier eine positive und zufriedene Ausstrahlung.

Wenig später wurden wir von einer Pizzeria auf eine große Familienpizza und eine Cola eingeladen. Eigentlich hatten wir ja vorgehabt uns etwas zu kochen, wo wir schon eine Küche zur Verfügung hatten. Doch man musste die Feste feiern wie sie fielen. Manchmal war so ein Leben als Weltreisender ohne Geld schon verdammt hart...

Spruch des Tages: Manchmal sagen wir: "Ich habe keine Zeit!" Aber jeder Mensch hat jeden Tag genau 24 Stunden Zeit. Die ehrliche Antwort lautet also: "Dafür nehme ich mir keine Zeit!" (Unknown)

Höhenmeter: 360m

Tagesetappe 17,5 km

Gesamtstrecke: 2464,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare