Tag 1216: Die erste Ley-Line

von Heiko Gärtner
09.08.2017 07:15 Uhr

30.04.2017  

Der Wind, den wir nun schon seit vielen Wochen fast ständig gegen uns haben, wurde heute wieder einmal zu einem Sturm. Der Wetterbericht hatte für den Nachmittag heftigen Regen angekündigt und da die Kirchen in letzter Zeit nicht mehr geheizt sind waren wir nicht allzu erpicht darauf, besonders nass zu werden. Also versuchten wir unser Ziel heute so früh wie möglich anzupeilen. Besonders erfolgreich waren wir damit allerdings nicht, denn wir wurden gleich zwei Mal hintereinander abgewiesen. Zunächst wirkte es nicht so, aber später stellte sich heraus, dass dies wirklich einen Grund hatte. Mein erster Gedanke drehte sich hingegen nur um die Zeit, die wir dadurch wieder einmal verloren. Ich weiß nicht was der Grund ist, aber mit Zeit stehe ich im Moment wirklich auf Kriegsfuß. Gestern Abend brachte es mich sogar an den Rand der Verzweiflung, dass ich es einfach nicht schaffe, irgendetwas voran zu bringen. Im Moment türmen sich die Aufgaben und die Dinge, die erledigt werden wollen, weshalb es besonders wichtig wäre, hier effektiv vorzugehen. Aber es will nicht klappen. Nach eineinhalb Stunden vor dem Computer hatte ich gerade einmal eineinhalb Seiten Tagesbericht fertig gestellt. Eine Leistung, die maximal eine halbe Stunde hätte in Anspruch nehmen dürfen. Eher weniger. Irgendwo hatte es in den letzten Monaten die Hoffnung in mir gegeben, dass sich diese Zeitschlaufe, in der ich gefangen bin, mit dem Branding auflösen würde. Aber das war nicht im geringsten der Fall. Im Gegenteil. Es scheint gerade so etwas wie eine Erstverschlimmerung zu geben. Auf jeden Fall hatte ich heute nach den Austestungen wieder ein neues Rekordhoch was Herzensverstöße anbelangt. Bei rund 90 Millionen hörten wir mit dem Testen auf.

Als Ausgleichsleistung stand daher heute ein Ritual an, was wiederum der Grund war, warum wir genau hier an diesem Ort landen mussten. Ihr kennt vielleicht die Bilder von den mysteriösen Formationen im Boden, die von weit entfernt oder aus der Luft betrachtet Tiere oder geometrische Figuren darstellen. Kurz bevor wir unseren Zielort erreichten, entdeckten wir ein solches Bild in einem Hügel auf der gegenüberliegenden Talseite. Heiko hatte sofort den Impuls, dass es etwas mit uns zu tun hatte und dass wir nicht zufällig hier her gelangt waren. Die Muskeltests bestätigten dies. Es ging darum, eine sogenannte Ley-Line, also eine Energielinie zwischen Stonehenge und diesem Pferd im Boden zu ziehen. Ich weiß noch immer nicht genau, wie die Zusammenhänge zu verstehen sind, aber irgendwie ist alles miteinander verbunden. Mein Branding ist genau wie auch Stonehenge eine eigene Form des Medizinrades und steht in einem direkten Zusammenhang mit den Energielinien und mit unserem eigenen Erwachensweg. Genauer kann ich es leider gerade noch nicht beschreiben.

Als wir Quentins Studio verlassen haben, hat er mir die Papiervorlage vom Brandingdesign mitgegeben, mit der Idee, dass wir es vielleicht noch einmal für ein Ritual brauchen würden. Seither hatte ich vor, es irgendwo an einem geeigneten Platz in einem Ritual zu verbrennen. Ursprünglich hatte ich dabei an Stonehenge gedacht, aber der Besuch dort hatte sich ja etwas anders entwickelt als vermutet. Hier war nun der geeignete Platz dafür.

„Menschen, die heute ein Ritual machen,“ meinte Heiko bevor ich die Kirche verließ in Anlehnung an einen Satz, den wir vor Jahren von Darrel gehört hatten, „denken vielleicht auch einmal intensiver über das kleine Kaninchen nach, das wir vorhin gesehen haben!“

Das Kaninchen hatte am Vormittag direkt neben unserem Weg im tiefen Gras gesessen und war in seiner ganzen Bewegung so langsam, dass Heiko es fast mit der Hand gefangen hätte. Wenn er es wirklich gewollt hätte, hätte er es geschafft. So etwas ist höchst ungewöhnlich für ein Wildkaninchen, auch wenn es noch ein junges ist und auch dies geschah sicher nicht ohne Grund. Was hatte dieses Kaninchen also mit mir zu tun?

Zunächst natürlich die Langsamkeit und die geringe Aufmerksamkeit, die in einer Realsituation seinen Tod bedeutet hätten und nur deshalb nicht gefährlich wurden, weil die Gefahr nicht wollte. Auf mehr Zusammenhänge und tiefere Erkenntnisse kam ich aber zunächst leider nicht.

Nachdem ich die Kirche verlassen und mich auf den Weg in Richtung Pferd gemacht hatte, überkam mich die gleiche verzweifelte und depressive Stimmung wie gestern Nacht. Ich heulte fast den ganzen Weg über, wobei sich mein Gesicht wieder stark verkrampfte. Ich konnte die Trauer nicht fließen lassen, sondern war trotz der aufkommenden Gefühle noch immer innerlich blockiert.

Der Sturm blies mir entgegen und nun hatte es auch noch zu regnen begonnen. Bereits jetzt war mir so kalt, dass ich zitterte, was nicht gerade Mut für das Ritual machte.

Auf einem kleinen Hügel, einen knappen Kilometer von dem weißen Pferd in der Wiese entfernt hatte ich plötzlich das Gefühl, dass hier der richtige Platz war. Meine Aufgabe bestand nun darin, 24 Minuten lang still zu meditieren, wobei ich nichts weiter am Körper haben durfte, als eine kurze Hose.

Bis zu dem Moment, in dem ich das Ritual begann, fühlte ich mich so gar nicht danach, nun ein Ritual durchzuführen. Ich fühlte mich nicht wohl, war von mir selbst genervt, unzufrieden und wieder einmal in dem Gefühl, niemals einen Schritt nach vorne machen zu können.

Mit dem Start der 24 Minuten änderte sich dies jedoch. Klar war es nun eiskalt und der Wind wehte mir mit aller Kraft ins Gesicht, so dass ich permanent weiter auskühlte, aber meine innere Stimmung besserte sich nun wieder. Ich wurde ruhiger und für mehrere Minuten gelang es mir sogar, die Situation soweit anzunehmen, dass ich die Kälte durch mich hindurch strömen lassen konnte, ohne sie in mich aufzunehmen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass Kälte und Langsamkeit das selbe waren. Oder besser, dass Kälte eine Form von Langsamkeit war. In diesem Moment betrachtete ich es rein auf der physikalischen Ebene. Je schneller sich Atome bewegen, desto wärmer wird es und je langsamer sie schwingen, desto mehr nehmen wir es als Kälte war. Kälte ist also letztlich die Abwesenheit von Geschwindigkeit . Heiko brachte mich später noch auf eine weitere Ebene, die in meinem Fall wahrscheinlich die wichtigere ist. Innere, also emotionale Kälte führt ebenfalls dazu, dass man langsamer wird. Je mehr man etwas mit dem Herzen tut, desto mehr ist man bei der Sache und desto schneller und effektiver arbeitet man. Deswegen kommt es auch zu diesen immensen Unterschieden in unserer Effektivität. Oft wundere ich mich, dass ich für einfache Texte, die an sich banal sind und innerhalb von Minuten erledigt sein müssten, am längsten brauche, wohingegen mir komplexere Themen, die mich aber bewegen deutlich leichter und schneller von der Hand gehen.

Irgendwann wurde die Kälte dann aber doch wieder stärker und meine Konzentration ließ nach. Dabei stieg Wut in mir auf, der ich für einen Moment dadurch Luft machte, dass ich den Wind anschrie, weil er Schuld an der Kälte war. Das brachte natürlich wenig.

Als mein Wecker schließlich klingelte, drehte ich mich um und verbrannte mein Andenken an das Brandingritual, was gar nicht so leicht war, das der Wind die Hitze des Feuerzeugs schwächte. Als es dann doch in Flammen stand, hielt ich es direkt vor meine Brust, um die Wärme zu spüren und wartete, bis es vollkommen zu Asche zerfallen war. Dann zog ich mich wieder an, bedankte mich beim Platz, beim Pferd und bei allen Helfern und trat meinen Rückweg an. Noch immer fror ich am .ganzen Körper, doch der Bereich an meiner Brust, an der sich das Branding befindet, wurde bereits nach Minuten so warm, dass ich meine Hände daran wärmen konnte.

Unsere Kirche hatte leider wieder einmal keine Heizung und so bestand ihr eigentlicher Vorteil nur darin, dass die Wind und Regen abhielt. Zum Glück kam später am Nachmittag noch ein Nachbar vorbei, der uns einlud, seine heiße Dusche zu benutzen.

Spruch des Tages: Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle (Albert Einstein)

Höhenmeter: 320 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 22.320,27 km

Wetter: kalt, windig, immer wieder leichter Regen

Etappenziel: Kirche, Stanton St Bernard SN8 4LJ, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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