Tag 1218: Zwischen Illusion und Wirklichkeit

von Heiko Gärtner
09.08.2017 07:35 Uhr

Die letzten beiden Tage dienten vor allem dazu, dass wir lernen dürfen. Es gilt zu lernen, die Filme zu erkennen, zu verstehen, wie sie funktionieren und wie wir aus ihnen aussteigen und ins Realleben übergehen können. Im Nachhinein betrachtet waren es also sehr gute, heilsame und hilfreiche Tage, doch in dem Moment, in dem wir die Filme gezeigt bekamen ohne sicher zu wissen, dass es welche waren, fühlte es sich deutlich anders an.

Der gestrige Vormittag verlief noch ganz normal und ohne besondere Ereignisse. Das Etappenziel, das wir eigentlich angedacht hatten, erreichten wir allerdings ein bisschen zu früh, so dass wir noch einmal aufbrachen, um bis zur nächsten Ortschaft weiter zu gehen. Eine Entscheidung, die wir an diesem Tag noch mehrere Male bereuen sollten.

Rein objektiv betrachtet hätte es heute an sich nicht schwieriger sein dürfen, als an anderen Tagen. Es hat sich nicht großartig etwas verändert, weder landschaftlich noch von den Menschen her und doch begegnet man uns hier nun vollkommen anders. Die Freundlichkeit über die wir uns in der ersten Zeit in England so gefreut haben, war wie weggeblasen. Menschen, die uns auf der Straße begegneten grüßten nicht mehr und blickten uns mürrisch und missmutig entgegen. Vor allem aber die Verantwortlichen für Kirche und Ortsgemeinde hatten nichts mehr von ihrer ursprünglichen Offenheit und Hilfsbereitschaft.

Wo man zuvor nahezu jeden Menschen fragen konnte, um eine Idee für einen Schlafplatz zu bekommen, begegnete uns nun plötzlich jeder mit höflicher Zurückweisung oder bewusster Ratlosigkeit. „Also ich kann mir nicht vorstellen, dass es möglich sein könnte, in der Kirche oder im Gemeindesaal zu übernachten! Da braucht man hier gar nicht erst fragen! Ich würde ja gerne helfen, aber ich glaube ich kann nicht... Eine sehr schwierige Situation für mich!“

Nein! Die Situation ist nicht schwierig für dich. Sie ist allenfalls schwierig für uns, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen sollen. Für dich gibt es nicht mehr zu tun als zu überlegen ob du hilfreich sein willst oder nicht und wenn ja, was du uns für ein Angebot machen kannst.

Es gab bereits am frühen Nachmittag vier oder fünf Situationen, an denen man sich die Haare raufen konnte, wenn man denn welche hätte. Plötzlich war alles ein Problem. Man hatte etwas vergleichbares noch nie gemacht, man wisse nicht, ob man das einfach so tun könne, man das einfach so tun könne, es seien einem die Hände gebunden weil es ja eine Versicherung gäbe, die da nicht mitspiele und so weiter und so fort.

Die zweite Schwierigkeit bestand darin, überhaupt noch jemanden Anzutreffen, der etwas zu sagen hatte. Die ersten Wochen hatte es gereicht in einen Ort zu kommen, an irgendeiner Tür zu klingeln und die Situation zu erklären. Dann bekam man entweder direkt Hilfe oder man wurde weitervermittelt. Hier nun beginnt das System langsam französisch zu werden. Es gibt nur noch einen Pfarrer für fünf bis sieben Ortschaften und auch die Kirchenverwalter werden immer weniger.

Doch die Schwierigkeiten einen Schlaf- und Arbeitsplatz zu finden waren nur das eine, das diesen Tag zu einer so großen Herausforderung machte. Das zweite war die Verkehrssituation. Dass wir auf unserem Weg immer mal wieder Autobahnen oder Schnellstraßen kreuzen müssen ist nicht neu und gehört in der heutigen Zeit leider immer mit dazu. Auch dass es an diesen Flecken der Erde niemals schön ist, ist nicht ungewöhnlich, doch das was wir gestern und heute erlebten, übertraf alles bisher dagewesene um Längen. Stellt euch einen Güterzug vor, der mit voller Geschwindigkeit an euch vorbei rauscht, während ihr auf einem Bahnsteig steht und auf eure S-Bahn wartet. Und jetzt stellt euch vor, dass dieser Zug niemals endet. Die Schienen, auf denen er Fährt verlaufen im Kreis und der letzte Wagon ist direkt vorne an die Lok angekoppelt. Spürt den kreischenden Lärm in euren Ohren, der gleichzeitig monoton und doch nie gleichbleibend ist, so dass er sich ins Gehirn hämmert wie ein Presslufthammer. Wenn ihr euch das vorstellt, dann wisst ihr, wie hier eine Autobahn aufgebaut ist. Man kann es nicht anders sagen, aber der Asphalt in England ist mit Abstand der schlechteste, den wir in ganz Europa miterleben durften. Und das schließt Moldawien, die Ukraine und Albanien mit ein. Normalerweise ist eine Autobahn unangenehm, aber hier klingen sie auf 300m Entfernung noch immer wie ein Güterzug, der direkt neben einem fährt. Selbst mit 5km Entfernung kann man sie noch immer so laut hören, dass es einen ganz duselig im Kopf macht.

Und von diesen Autobahnen hatten wir nicht nur eine, sondern gleich zwei, die beide rund drei Mal lauter waren als eine gewöhnliche Autobahn. Dazwischen erstreckte sich ein dichtes Netz aus Schnellstraßen, die nicht ganz so stark befahren waren, aber den gleichen Asphalt und die gleiche Lautstärke hatten. Es war also vollkommen unmöglich, sich irgendwo hin zurückzuziehen und einen Ort zu finden, an dem man vor dem Lärm flüchten konnte. In einem der Orte, die zur Wahl standen, musste man einen schmalen Trampelpfad zwischen den Bäumen hindurch gehen um ganz am hintersten Punkt des Dorfes zur Kirche zu gelangen. Fast schon waren wir überzeugt, dass dies der erste ruhige Ort werden würde, doch als wir die Kirche erreichten, stellten wir fest dass direkt hinter ihr schon wieder eien Hauptstraße verlief. Hier Konzentration oder Schlaf zu finden war vollkommen unmöglich. Stattdessen fanden wir aber etwas Reis und ein Indische Sauce in einer Box mit der Aufschrift „Foot-Sharing“. Dies war eine Sache die hier in der Region wirklich positiv war. Menschen, die das Gefühl hatten, irgendetwas beitragen zu wollen und die zusätzlich auch noch ein paar Lebensmittel über hatten, konnten diese in der Kirche in eine Kiste legen, so dass sie jeder nehmen konnte, der sie brauchte. Im Normalfall lagen fast nur Süßigkeiten oder Nudeln darin, aber manchmal hatte man auch etwas Glück.

Um dem Straßenwirrwarr zumindest ein bisschen zu entkommen folgten wir einem Wanderweg um einen See herum. Hier konnte man gegen eine stolze Mitgliedsgebühr im Monat Angeln oder Segeln um so den Soundtrack des Dauerrauschens im Hintergrund optimal genießen zu können.

Der Ort der auf der anderen Seite des Sees lag, wurde dann zu unserem persönlichen Tageshighlight. Es ist lange her, dass wir bei einem Gespräch mit einem potentiellen Schlafplatzspender so ausgestiegen sind wie hier. Und selten war es so begründet.

Die Situation war folgende: Die Gemeinde hatte vor zwei Wochen eine neue Pastorin bekommen, die zwar bereits hier wohnte aber noch nicht offiziell in ihr Amt aufgenommen wurde. Theoretisch wohnte sie direkt neben der Kirche, weshalb man dort auch ein großes Schild mit der Aufschrift „Pfarramt“ und einem unmissverständlichen Pfeil finden konnte. Dieser führte nun jedoch zu einer verschlossenen Tür. Später erfuhren wir, dass diese Tür immer für die Gemeindemitglieder und alle Gläubigen oder Hilfesuchenden offen gestanden hatte. Nun jedoch hatte die Pastorin sie verschlossen, da sie zwei kleine Kinder hatte und nicht wollte, dass irgendjemand in ihrem Garten herum lief. Ihr Haus befand sich noch immer im Umzugschaos und als sie mir öffnete kamen mir als erstes ihre beiden Kinder und ihr Hund entgegen. Der kleinere von beiden war etwa zwei Jahre alt und befand sich auf dem Arm der Pastorin. Der größere war fünf und stürmte neben ihr hervor. Die beiden waren nicht allzu begeistert davon, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Mutter mit einem Fremden teilen sollten und so setzten sie alles daran, sie wieder auf sich selbst zu lenken. Der große kickte Schuhe umher, quengelte oder polterte mit einem Roller herum und der kleine hatte den Türklopfer für sich entdeckt, den er ununterbrochen direkt neben dem Ohr seiner Mutter ans Holz schlug.

Bei all den Widrigkeiten gelang es der Pastorin trotzdem, einige Informationen zu übermitteln. Und die konnten einen schon einmal etwas vom Glauben abfallen ließen. Sie lebte nun drei Wochen hier und stand kurz davor, ihre Arbeit aufzunehmen, hatte sich aber noch nicht im geringsten über irgendetwas informiert. Sie besaß weder Telefonnummern noch Adressen von Kirchenmitarbeitern und konnte sich kaum an deren Namen erinnern. Sie hatte in den vergangenen drei Wochen nicht einmal die Kirche von innen gesehen. Ihre Aussage dazu lautete: „Wir haben sogar Toiletten in der Kirche! Glaube ich. Man sagt das jedenfalls, denn gesehen habe ich sie noch nicht, weil ich es noch nicht hinein geschafft habe.“

Wie ernsthaft und gewissenhaft kann ein Mensch seiner Berufung nachgehen, wenn das seine Arbeitsvorbereitung ist? Hätte sie eine neue Beamtenstelle im Arbeitsamt angenommen, könnte man es ja noch irgendwie nachvollziehen, aber als Pastorin? Klar konnte man es nachvollziehen, dass sie mit diesen Kindern und mit all dem Umzugsstress kaum ein Bein an den Boden brachte, aber hatte sie sich dann wirklich den richtigen Beruf ausgewählt? Zum ersten Mal kam in mir der Gedanke auf, dass das katholische System mit dem Familien-Verbot für Pfarrer durchaus sinnvoller war, als man es vielleicht vermuten könnte. Ein Pfarrer oder Pastor war in erster Linie ein Mensch für die Gemeinschaft. Wer diesem Beruf nachgeht weiß, dass es kein Job sondern eine Berufung, also eine Lebensaufgabe ist. Wenn man sie ernst nimmt, muss man bereit sein, immer und zu jeder Zeit für die Menschen da zu sein, die einen brauchen. Das heißt nicht, dass man sich aufopfert, kein eigenes Leben mehr haben darf und sich von den Menschen kaputt machen lässt. Wie ein Heiler auch gibt es natürlich „Bürozeiten“ und eine „Notfallbereitschaft“, also Zeiten in denen jeder einfach kommen kann, der ein Anliegen hat und Zeiten in denen man sich mit Notsituationen an ihn wenden kann. Die bedeutet aber, dass man bereit sein muss, mitten in der Nacht für jemanden da zu sein, der vielleicht kurz vor dem Selbstmord steht, der eine Vergewaltigung erlebt hat oder der von einem anderen Schicksalsschlag getroffen wurde. Es bedeutet auch, dass man bereit sein muss, spontan eine Lösung zu finden, wenn jemand unvermittelt mit einem ungewöhnlichen Anliegen vor der Tür steht. Wie aber will man dazu bereit sein, wenn einen die eigene Familie vollkommen einspannt und man nicht einmal mehr in der Lage ist, in Ruhe ein einfaches Gespräch zu führen. Wenn ich nun wirklich ein heikles Thema gehabt hätte, hätte ich mich in dieser Situation kaum öffnen können. Die Idee, dass Pfarrer sein rein den Männern vorbehalten wird, ist wohl etwas überholt, aber das Konzept, dass ein Pfarrer oder eine Pfarrerin keine eigene Familie hat, ist durchaus sinnvoll, wenn ihr mich fragt.

Gemeinsam mit ihren beiden Söhnen begleitete mich die Pastorin in die Kirche, um dort nach der Nummer des Kirchenverwalters zu suchen. Sie erreichte seine Frau, die versprach, ihn zu informieren und direkt zu uns zu senden. Aus den versprochenen fünf Minuten wurde eine halbe Stunde, die wir damit verbrachten, dem kleinen Jungen beim Weinen, Schreien und Schlüsselklappern zuzuhören. Nach dem lärmerfüllten Tag also genau das, was wir uns gewünscht hatten.

Der Kirchenverwalter war ein kleiner, schüchterner Mann, der selbst nicht den Mut hatte, um die Entscheidung alleine zu treffen. Aus diesem Grund hatte er gleich als erste Reaktion nach dem Anruf seiner Frau einen Nachbarn angerufen, der vor ihm den Posten des Verwalters hatte. Und dieser Mann war derjenige, der uns zur Weißglut brachte.

Er traf kurz nach dem Verwalter ein, der uns bereits vorgewarnt hatte, dass sein Kollege wahrscheinlich nicht einverstanden war. Ich war gerade dabei, ihm unsere Präsentationsmappe zu zeigen, als besagter Kollege auftauchte und die Situation an sich riss. Er unterbrach unser Gespräch, schlug die Mappe zu und begann sofort damit, uns Vorwürfe zu machen. Wie wir denn darauf kämen, genau hier schlafen zu wollen und warum wir uns dazu nicht zuvor bei der Diözese angemeldet hatten. Die Kirche sei voller Wertgegenstände und wir könnten ja schließlich irgendwer sein.

Bei allem was er sagte, blieb er oberflächlich freundlich, zeigte jedoch nichts als Herablassung und und Geringschätzung. Er war mit der Einstellung gekommen, Vagabunden und Verbrecher vertreiben zu müssen und diese Einstellung vermittelte er auch deutlich. Er stellte keine Fragen und hörte keine Sekunde zu. Es interessierte ihn nicht im geringsten, wer wir waren und was wir taten. Er hatte beschlossen, uns zu vertreiben und dies dann auch noch wie einen Akt der Nächstenliebe zu präsentieren. Ich selbst hörte Heikos Worte aus unserem Gespräch in Frankreich in meinem Kopf. „Es geht nicht ums Recht behalten, sondern darum, das Gespräch zum Erfolg zu bringen.“ Dies war das einzige, was mich zurückhalten ließ. Heiko hingegen war dieses Mal anderer Meinung. Klar war es spät und wurde bald dunkel, aber der Platz war es trotzdem nicht wert, uns von dem Mann so nieder machen zu lassen.

„Wir brauchen eine klare Antwort!“ sagte er, „Ein einfaches Ja oder Nein und keine Ausschweifungen darüber, warum die Situation gerade schwierig ist!“

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Wenn das wirklich alles real wäre, müsste man ja durchdrehen

Höhenmeter: 260 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 22.329,27 km

Wetter: Sonnig, später bewölkt und windig

Etappenziel: Gemeindehalle, Broad Hinton, England

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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