Tag 1228: Der erste Tag in Wales

von Franz Bujor
21.08.2017 04:46 Uhr

14.05.2017

Rückschritt durch Technik

Ist euch schon einmal aufgefallen, wie viele praktische Erfindungen wir im Laufe unserer Geschichte gemacht haben, die nicht richtig funktionieren und daher vollkommen unpraktikabel sind? Klo-Spülungen zum Beispiel. Im Rahmen der Planung für unseres Begleitfahrzeugs für Amerika haben wir uns vor kurzem einmal verschiedene Toilettensysteme angeschaut, und festgestellt, das es ganz hervorragende Trockensysteme gibt, die weitaus besser, hygienischer und geruchsärmer sind als unser herkömmlichen Wassertoiletten. Vor allem hier in England ist es beeindruckend, wie schlecht das Spülsystem funktioniert.

Gestern in der Kirche hatten wir wieder einen riesigen Spülkasten mit der Power eines pustenden Marienkäfers. Pro Spülgang flossen locker 20 bis 25 Liter den Abfluss hinunter und um seine Hinterlassenschaften damit beseitigen zu können, brauchte man pro Toilettengang im Schnitt drei Spülungen. Damit es nicht stinkt hat man in der Toilette wie so oft einen Entlüfter eingebaut, der mit der Lautstärke eines vorbeifahrenden Autos zu brummen beginnt, sobald man den Lichtschalter betätigt. Der Erfolg war, dass wir stets nur mit Taschenlampe aufs Klo gingen.

Der Strom- und Wasserzähler quietschte alle paar Minuten wie ein Meerschweinchen, dem man auf den Fuß getreten war und selbst die Wasserheizung startete heute morgen nicht ohne ein konstantes Pfeifen. Hier in der Kirche gab es sie nicht, aber viele Male zuvor hatten wir Räume mit Leuchtstoffröhren als Lampen bekommen, die ebenfalls ein statisches Surren von sich gaben, das man nicht abschalten konnte. Früher einmal hatte es in diese Kirche ein unterirdisches Heizsystem gegeben, durch das warme Luft einfach aus dem Boden zu den Menschen geströmt war, ohne dabei irgendein Geräusch zu verursachen. Auch die ersten Glühlampen waren vollkommen lautlos. Heute hingegen füllt man gerade die Orte, an denen man Stille finden oder konzentriert arbeiten und sich austauschen will mit lauter Technik, die einen stört. Was nützt einem eine Heizung, wenn sie den Raum zwar etwas wärmer macht, einem dabei aber jedes Mal das Gefühl gibt, ihn so schnell wie möglich verlassen zu wollen, damit man dieses Pfeifen endlich aus dem Kopf bekommt? Das ist doch nicht sinnvoll!

Spürbare Umbrüche

Trotz des Umstandes, dass unsere Toilette nur mit Taschenlampe nutzbar war, waren wir aber doch froh sie zu haben. Bei mir spielte mein Darm ein wenig verrückt und verursachte einen inneren Druck der sich anfühlte, als wollte er Platzen. Heiko bekam nach dem Abendessen ein fieses Kratzen im Hals, das ihm das Gefühl gab, nicht mehr frei Atmen zu können. Beides schien irgendwie mit der Krafttierreise in Verbindung zu stehen, die Shania kurz zuvor gemacht hatte. Ich weiß nicht genau, was gerade passiert, aber irgendetwas tut sich wieder. Erst die beiden identischen Träume von Shania, dann das Auftauchen der beiden Rabenkrähen in der gleichen Situation, kurz darauf ihre Krafttierreise und nun unsere Reaktion auf der körperlichen Ebene, für die es eigentlich keinen erkennbaren Grund gab.

Da wir nach der letzten Nacht beide nicht übermäßig vor Energie sprudelten, beendeten wir die Wanderung heute etwas früher als geplant. Dennoch erreichten wir Wales und übernachten nun in einem winzigen Dorf direkt hinter der Grenze. Winzig ist dabei nicht übertrieben, denn es besteht tatsächlich nur aus einer einzigen Farm, einem Landhaus und unserer Kirche. Den Kirchenverwalter ausfindig zu machen war daher nicht schwer, denn er war der einzige Mann, der mit seiner Familie hier lebte. Spannend war, dass es hier wieder überhaupt kein Problem war, unter zu kommen. Die Farmer sagten zu, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern und versorgten uns mit allem was wir für den Tag brauchten. Gestern waren wir in einem Ort mit Minimarkt und rund 800 Einwohnern der oberen Gesellschaftsschicht und alles was wir an Nahrung auftrieben war Dosenfutter und ein paar Eier. Heute gab es genau einen Haushalt, der auch noch damit zu kämpfen hatte, als Bauernhof in der heutigen Zeit zu bestehen und wir bekamen reichlich frisches Gemüse, Eier und sogar noch eine Spende für unsere Partnerprojekte.

Wassereinlagerungen durch einen Geborgenheitskonflikt

Nach dem Ankommen nutzten wir die wärmende Sonne um auf dem Friedhof eine Pause und eine Fußreflexzonenmassage zu machen. Dabei wurden wir noch einmal verstärkt auf die Wassereinlagerungen aufmerksam, die vor allen in meinen Füßen besonders deutlich erkennbar sind. Sie sind die Folge von einer Kombination aus einem Geborgenheitskonflikt und einem Existenzangstkonflikt, die ich in mir trage. Soweit ich es verstanden habe, finden die Prozesse dazu auf mehreren Ebenen statt. Der Geborgenheitskonflikt kommt daher, dass ich noch immer Angst habe, von der Gruppe verstoßen zu werden, weil ich mich selbst als Klotz am Bein empfinde. Ich fühle mich nicht hilfreich, nicht lichtvoll nicht positiv.

Warum?

Weil ich dieses Bild von mir fiele Jahre lang in Matrix-Filmen gesehen und als wahr angenommen habe. Ich bin nicht gut, ich kann nichts, ich bin ein Depp, den niemand mag. Ich glaube noch immer, dieser Mensch zu sein, empfinde ihn als falsch und will ihn ändern und etwas Neues erschaffen. Doch das kommt mir schwer und mühevoll vor, weshalb das freie Leben für mich ein anstrengender Kampf ist, bei dem ich stets das Gefühl habe, ihn zu verlieren. Darum kann ich mich nicht geborgen fühlen. In Wirklichkeit geht es jedoch nicht darum, etwas Neues zu erschaffen, sondern nur etwas freizulegen, das schon immer da war. Ich halte mich für die Oberfläche die mir durch den Film als Maske übergestülpt wurde und habe keine Ahnung, wer ich darunter wirklich bin. Es geht also nicht darum, jemand zu werden oder etwas neues zu lernen oder zu erschaffen, sondern nur darum zu erkennen, wer ich schon immer war und alles abzustreifen, was nicht dazu gehört. Es ist also kein Kampf, sondern nur in Loslassen.

Angst vor dem Allein-Sein

Doch das will mir noch nicht gelingen, weil ich nicht weiß, dass es darum geht. Denn genau an dieser Stelle kommt das zweite Problem hinzu. Ich habe das Gefühl, nicht hinterher zu kommen und meine Aufgaben nicht bewältigen zu können. Fühle mich daher unnütz und nicht hilfreich, sondern wie ein Klotz am Bein. Dies ist mein Existenzangstkonflikt. Es geht mir dabei nicht mehr um Geld, sondern darum, dass ich das Gefühl habe, nicht so hilfreich sein zu können, wie ich es möchte und dadurch meinen Beitrag zum Gemeinwohl nicht leisten zu können. Ohne diesen Beitrag habe ich in der Gemeinschaft aber keine Daseinsberechtigung und dies wiederum führt zu meiner Angst, verhungern zu müssen. Mein Glaube ist, dass ich ohne die Präsenz der Gruppe alleine nicht überleben könnte, da ich meine Präsenz nicht halten kann, vom Weg abkomme und verassle. Von Shania weiß ich, dass sie ein ähnliches Gefühl hat. Obwohl sie alles alleine macht, da sie ja rund 1000km von uns entfernt ist, hat auch sie das Gefühl, ohne unsere Rückendeckung nicht auf Kurs bleiben zu können. Verrückt, oder?

Das Kernsystem dahinter: Ich habe noch immer das Gefühl, mich ohne die Nähe zu meinen Eltern und ohne ihr Wohlwollen nicht ernähren zu können und dadurch verhungern zu müssen (Ernährungskonflikt) Ich bin ein Nestling, der die Hilfe seiner Elten braucht um an Nahrung zu kommen. Daher ist permanent das Gefühl von „Ich will, ich will, ich will!“ in mir, weil ich Angst habe, übersehen zu werden, zu kurz zu kommen und dann zu sterben. Um diese Angst loslassen zu können muss ich flügge werden, doch davor habe ich auch schon wieder Angst. Denn in meiner Vorstellung, die durch die Filme impliziert wurde, muss ich hart und stark sein, um flügge werden zu können. Worauf es jedoch ankommt ist das Feingefühl und die Fähigkeit, den leichten, effektiven Weg zu finden. Ich bin wie die Rabenkrähen, die wir gesehen haben. Ich strample wie wild und bin unzufrieden mit dem Ergebnis, weil ich den leichten, effektiven Weg nicht erkennen kann. Hier also schließt sich der Kreis. Der leichte Weg ist es, alles loszulassen, was nicht zu mir gehört und anzuerkennen, dass ich über Jahre hinweg eine Filmrolle gespielt habe, die ich nicht bin, die aber wichtig war, um an diesen Punkt zu gelangen. Der schwere Weg, den ich erfolglos die ganze Zeit zu gehen versuche und bei dem ich mich halb tot strample ist es, mein aktuelles Ich zu verurteilen und zu versuchen jemand neues zu werden, von dem ich glaube, dass ich es nicht bin, aber eigentlich sein sollte.

   

Die Botschaft des Kaninchens

Gerade wo ich das schreibe werde ich hier auf dem Friedhof von einigen Schafen und einem Wildkaninchen besucht. Wieder war es das Kaninchen, das mich auch den Umgang mit meiner Angst hinwies. Dieses mal wurde seine Botschaft sogar noch klarer. Es saß einige Minuten neben mir und schaute mich an. Dann machte es einen Sprung mitten durch den Zaun und hüpfte davon. Der Zaun hatte relativ große Maschen, aber sie waren noch immer kleiner als das Kaninchen selbst. Vorsichtig hindurchhuschen wäre kein Problem gewesen, aber mit voller Geschwindigkeit hindurchspringen hätte so auf die Art nicht funktionieren dürfen. Dem Kaninchen aber war es egal. Es war als wollte es sagen: „Finde das Schlupfloch und geh den Weg, der dich ohne Kampf und Strampelei ans Ziel führt.“

 

Spruch des Tages: Finde das Schlupfloch und geh den Weg, der dich ohne Kampf und Strampelei ans Ziel führt

Höhenmeter: 190 m         

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 22.498,27 km

Wetter: bewölkt, teilweise etwas Sonne

Etappenziel: Kirche, Gladestry HR5 3NR, Wales

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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