Tag 1229: Unter Schafen

von Heiko Gärtner
21.08.2017 05:17 Uhr

15.05.2017

Wenn man eine Sache über Wales sagen kann, ohne viel über das Land zu wissen, dann dass es ein Paradies für Schafe ist. Die Anzahl der Schafe muss die der Menschen hier um ein vielfaches, vielleicht sogar um das Hundertfache übersteigen. Und das ist vorsichtig geschätzt.

Wales ist, soweit wir es bislang beurteilen können, weitaus ruhiger und entspannter als England. Sogar die Hauptstraßen sind hier so, dass man rund fünfhundert Meter an ihnen wandern kann, ohne durchzudrehen. Was im Verhältnis wirklich viel ist. Landschaftlich entscheidet es sich hingegen kaum von seinem größeren Nachbarn. Auch hier gibt es Hügel, Hecken, Wiesen und Bäume soweit das Auge reicht. Das sind eigentlich dann auch schon alle Worte, die man benötigt, um das Land zu beschreiben: Hügel, Hecken, Wiesen und Bäume. Und zwar in dieser Reihenfolge. Und natürlich Schafe.

Wales – Das Land der Schafe

Nachdem das permanente Hintergrundrauschen der Autos und Flugzeuge nun abgenommen hat oder gar völlig verschwunden ist, hört man nun ein konstantes Mähen aus allen Richtungen. Spannend dabei ist, dass sich die Stimmung und Lautstärke der Schafe sehr stark unterscheidet, je nachdem wie viele von ihnen sich eine Weide teilen. Wenige Schafe unterhalten sich auch nur wenig und wenn sie Mähen dann mit einem bestimmten Grund. Ihre Grundstimmung dabei ist friedlich und entspannt. Viele Schafe auf engerem Raum hingegen sorgen dafür, dass ein fast permanentes Plappern und Schnattern stattfindet, das nur noch wenig mit Idylle und Friedlichkeit zu tun hat. Es ist wirklich wie bei uns Menschen. Wenn wir ausreichend Raum haben, kommen wir zur Ruhe und leben weitgehend im Einklang mit unserer Umwelt. Je mehr wir uns jedoch zusammenballen, desto lauter, hektischer, feindseliger und nerviger werden wir.

Wenn man so lange Zeit zwischen Schafen hindurch wandert, beginnt man irgendwann, sich die einzelnen Tiere genauer zu betrachten. Eine durchaus lohnende Beschäftigung, denn wenn man genauer hinschaut sieht man, dass Schafe genau wie wir Menschen nicht gleich Schafe sind. Jedes ist einzigartig und hat ein ganz eigenes, individuelles Gesicht, das sich nicht nur von allen anderen unterscheidet, sondern auch die Charakterzüge des Tieres offenbart. Teilweise reicht ein einziger Blick in das Gesicht eines Schafes um zu erkennen: „Aha, du bist hier also der Lausbub, der nur Döneken im Kopf hat!“ Oder: „Du bist dann wohl eher die besonnenere, die lieber drei Mal abwegt, ob sie das Gras an einem neuen Ort probiert, denn man weiß ja nie!“

Schaf in Not

Im Laufe der Wanderung erhielten wir sogar die Chance, einige der wolligen Freunde näher kennenzulernen. Eine junge, zottelige Dame hatte es geschafft, sich durch den Weidezaun zu schmuggeln und ihre Freiheit auf der Straße zu finden. Dann hatte sie jedoch festgestellt, dass der Rest ihrer Familie noch immer auf der Weide stand und dass sie einfach nicht für die Einsamkeit geschaffen war. Also wollte sie wieder zurück, doch nun konnte sie den Eingang nicht mehr finden. Der Erfolg der ganzen Aktion war, dass sie sich ein neues, noch kleineres Gefängnis zwischen einem Zaun und einer Brombeerhecke schuf, aus dem sie nicht mehr hinaus kam. Panisch versuchte sie nun durch den Zaun zu kommen, in dem sie immer wieder mit dem Kopf dagegen sprang. Den Zaun störte das wenig, aber ihr tat es auf Dauer nicht besonders gut.

„Keine Angst, junge Dame!“ meinte Heiko beruhigend, als wir sie in ihrer misslichen Lage auffanden, „Hilfe naht!“

Das Problem bei der Rettungsaktion bestand darin, dass wir zunächst einmal durch die Dornenhecke auf die andere Seite kommen mussten. Heiko versuchte es von links, ich näherte mich von rechts. Die junge Schäfin übernahm derzeit die verantwortungsvolle Aufgabe, panisch in der Mitte hin und her zu laufen und sich dabei immer tiefer und noch tiefer in den Dornen zu verfangen. Immerhin hielt sie das aber schon einmal davon ab, ihren Kopf gegen einen Gitterzaun zu trümmern. Anders als das Schaf waren Heiko und ich nicht mit einem dichten, flauschigen Fell ausgestattet, das uns vor den Dornen schützte. Ohne verschrammte Beine ging es also nicht. Dennoch gelang es uns schließlich, das Schäfchen zu erreichen. Einen Moment lang versuchte sie nun noch ängstlicher die Flucht zu ergreifen, doch als ich die Hand nach ihr ausstreckte um sie im Genick zu packen, wurde sie plötzlich ganz ruhig. Ich hatte befürchtet, dass sie nun zu strampeln und zu zappeln anfangen würde, doch das war nicht der Fall. Fremde Menschen, die auf sie zukamen waren ihr nicht geheuer, aber diesen Griff kannte sie. Es war der gleiche, den ihr Schäfer anwandte wenn sie geschoren wurde und dann hatte sie ebenfalls den Auftrag, vollkommen ruhig zu sein. Ich konnte sie nun also mit einer Hand hochheben und mit der anderen die Dornen aus ihrem Fell ziehen. Sie hatten sich ordentlich darin verwoben, aber keine Ranke war auch nur im Ansatz nah genug an ihre Haut gelangt, um sie zu verletzen. Nachdem sie befreit war konnte ich sie sogar noch auf den Arm nehmen. Ich weiß nicht, ob ihr schon einmal ein Schaf auf dem Arm hattet, aber bei mir war es das erste Mal. Und sie sind wirklich flauschig! Bei diesem miesen Wetter hier, wo es immer kalt, nass und windig ist, fiel es mir richtig schwer, sie wieder herzugeben. Am liebsten hätte ich sie gleich als Kuchelwärmflasche behalten.

Zurück bei der Familie

Ich setzte sie über den Zaun und sofort rannte sie davon, bis sie den höchsten Punkt des Hügels erreicht hatte. Der Gedanke, der ihr ins Gesicht geschrieben stand lautete nicht: „Gott sei Dank, ich bin gerettet!“ sondern „Oh, nein! Verdammter Mist wo sind denn nur alle hin?“

Wenig später, als wir um eine kleine Biegung gegangen waren, sahen wir sie im Kreise ihrer Herde wieder. Jetzt sah sie tatsächlich entspannt und zufrieden aus.

Doch nicht alle Ausreißer wollen so dringend wieder zu ihrer Herde und auf ihre Weide zurück. Einige Kilometer weiter trafen wir auf eine Mutter mit ihrem Jungen, die gemeinsam über die Straße trotteten. Es war ein Bereich, in dem es keinen Zaun gab, da die Straße selbst mit zur Weide gehörte. Die Barriere bestand daher aus diesem Stahlgitter, das über die Straße verläuft und von dem man sagt, dass Huftiere nicht darüber hinweg gehen können. Diese beiden hier sahen das jedoch etwas anders. Nicht, dass sie vorsichtig auf den Stahlbalken entlang balancierten um nicht in die Zwischenräume zu stürzen. Sie standen einen Moment zögernd davor, setzten dann zum Sprung an und landeten mit zwei gekonnten Sätzen auf der anderen Seite. Warum auch nicht? Wenn man bedenkt, auf was für schmalen Felskanten sie klettern und balancieren können, stellt sich tatsächlich die Frage, warum ein solcher Gitterrost sie aufhalten sollte. Es ist wohl weit weniger eine Barriere, als mehr eine freundliche Bitte, doch innerhalb des markierten Bereichs zu bleiben. Hier in den Bereichen mit den kleinen, nahezu unbefahrenen Straßen ist dies ja auch kein Thema.

Etwas besorgter waren wir später hingegen, als wir an eine Hauptstraße kamen, die ebenfalls von den Schafen als Teil ihrer Weide genutzt wurde. In Sachen Unaufmerksamkeit kenne ich mich ja bekanntlich ein bisschen aus, aber was die Schafe hier veranstalteten, war durchaus noch einmal eine Nummer härter. Es kam durchaus nicht selten vor, dass man gemütlich und seelenruhig am Straßenrand graste und dann, wenn ein Auto kam, plötzlich aufsprang und wie wild über die Straße rannte, gerade so, dass man nicht erfasst wurde. Ich will gar nicht wissen, wie oft das schief geht und wie viele Schafunfälle es hier gibt.

Auch an unserem Schlafplatz waren die Schafe unsere Nachbarn. Es war ein kleines, gemütliches Dörfchen mit einer alten Kirche, die sogar über eine beheizbare Toilette verfügte.

Spruch des Tages: Schäfchen, bleib bei deiner Herde!

Höhenmeter: 240 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 22.510,27 km

Wetter: bewölkt, teilweise etwas Sonne

Etappenziel: Kirche, Glascwm LD1 5SE, Wales

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

 
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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