Tag 125: Kleine Abschiede

von Franz Bujor
07.05.2014 22:26 Uhr

 

Die Nacht in der Kathedrale verbringen zu dürfen, war ein besonderes Glück. In der Herberge hätten wir uns niemals so erholen können und unser Raum war vielleicht sogar der einzig ruhige Ort in ganz Santander. Auch heute dauerte es noch Stunden, bis wir die Stadt wirklich hinter uns gelassen hatten. Nach fünf Kilometern kam das Ortsausgangsschild am Ende eines großen Industriegebietes. Danach begann gleich der nächste Ort, der nicht minder Laut und Industriegeprägt war. Schließlich führte uns der Jakobsweg jedoch von der Hauptstraße weg über eine Wiese mit meterhohem Gras und unter einer Eisenbahnbrücke hindurch. Hier hörten die Spuren der Großstadt auf und es begann eine ländlichere Gegend mit vielen kleinen Dörfern.

Mit dem Abschied von Santander kamen jedoch noch zwei weitere Abschiede, die uns näher ans Herz gingen als die Großstadt. Nach langem Suchen am Vortag hatten wir doch endlich einen Pullover für Heiko gefunden. Um genau zu sein war es eine dünne Jacke, die er nun anstelle des Pullovers tragen konnte. Damit war der Pullover, der ihm so lange treu gedient hatte nun überflüssig geworden. Zusammen mit seinem Lieblings-T-Shirt, dass inzwischen nur noch aus Löchern bestand, verschwand er in einer städtischen Mülltonne. Mein T-Shirt ist wohl morgen dran, denn es besteht ebenfalls nur noch aus Löchern.

Auf halbem Weg aus der Stadt kamen wir an einer Frau vorbei, die in einem Vollprotektionsanzug mit Atemmaske Gift auf den Gehweg sprühte. Etwa zwei Meter von ihr entfernt stand ein Mann in einer Uniform für Straßenarbeiter, der aufpasste, dass die Fußgänger nicht direkt über die Giftspritzerin stolperten. Dass er selbst dabei ununterbrochen giftigen Sprühnebel einatmete, nahm er mit würdevoller Gelassenheit. Auch die anderen Passanten störten sich nicht besonders an der schädlichen Arbeit. Gesundheit im Allgemeinen stand hier ganz offensichtlich nicht allzu hoch im Kurs.

Beim verlassen der Stadt viel uns noch einmal auf, wie oft es in den Straßen der spanischen Städte nach Gras riecht. Kiffen schien hier wirklich zur absoluten Tagesordnung zu gehören und es gab einfach niemanden, der sich etwas darum scherte. Sogar in der Sakristei der Kathedrale lag uns der Duft von Joints in der Nase. Die Geistlichen hier nutzen die Pflanze also wohl auch hin und wieder, um ihre Verbindung zu Gott zu stärken. So viel wie hier gekifft wurde konnten wir nur nicht verstehen, warum die Spanier im Allgemeinen nicht viel entspannter waren.

Als wir die ländlichere Gegend erreichten tauchten etwa hundert Meter vor uns zwei weibliche Pilger auf. Sie gingen nebeneinander her und hatten jeweils eine große Jakobsmuschel an ihren Rucksäcken befestigt. Als wir sie schließlich eingeholt hatten, stellten wir fest, dass sie ebenfalls aus Deutschland stammten. Sie lebten in der Nähe von Düsseldorf und waren nach Jahren des gemeinsamen Träumens nun endlich für eine Woche zum Jakobsweg aufgebrochen. Vor sechs Tagen waren sie in Bilbao angekommen und von dort aus gewandert. Heute war also ihr letzter Tag. Die beiden Frauen waren uns sofort sympathisch und es war das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, dass wir wieder tiefe und interessante Gespräch mit jemandem führen konnten. Anders als die beiden Damen aus München hatten diese Frauen ihren Fokus auf das positive gelegt und steckten voller schöner Erinnerungen an ihren Weg. Und das obwohl sie sich mit einem Start in Bilbao, der Durchquerung des kilometerlangen Industriegebiets und der Dreitagesstrecke entlang der Autobahn das wohl mit Abstand unattraktivste Stück des ganzen Weges ausgesucht hatten. In Mompia meinten sie dann, dass sie hier nun das Ende ihres Weges erreicht hatten. Von hier aus wollten sie mit der Bahn zurück nach Santander und dann weiter nach Bilbao, um dort morgen ihren Flug zu erwischen. Nach kurzer Überlegung entschieden sie sich dann jedoch, uns noch ein Stückchen weiter zu begleiten und den Zug am nächsten Bahnhof zu nehmen. Je länger sie sich mit uns unterhielten, desto mehr wurde ihnen bewusst, dass sie in ihrem Leben etwas verändern mussten. Ihr Jakobsweg war auch ein Weg gewesen, auf dem sie gehofft hatten, etwas über sich selbst und ihre Lebenspläne zu erfahren. Bei unserer Begegnung hatten sie diese Hoffnung bereits aufgegeben, doch jetzt war dieser Moment doch noch gekommen. Als sie schließlich den zweiten Bahnhof erreichten, viel es ihnen unsagbar schwer, nun wirklich die Heimreise anzutreten. Am liebsten wären sie einfach weiter gelaufen um irgendwann in Santiago anzukommen. Wir konnten ihre Schwermut gut nachvollziehen, denn an dem Ort, der das Ziel ihrer Reise wurde gab es nichts. Es war ein schmuckloser Bahnhof, der keinerlei Empfang für die Reisenden bereithielt. Es musste sich für sie nach aufhören oder vielmehr nach abbrechen aus Zeitmangel als nach einer Ankunft an einem Ziel anfühlen.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten folgten wir den Muschelwegweisern des Jakobsweges alleine weiter in Richtung Santiago. Jedenfalls glaubten wir, dass uns die Wegweiser dorthin führten. In Wirklichkeit führten sie uns nach Süden um dort einen vollkommen unnötigen Schlenker durch ein kleines Dorf ohne besondere Fähigkeiten zu machen. Von hier aus führte er dann an einer Hauptstraße entlang wieder nach Norden und landete circa hundert Meter östlich von dem Punkt, an dem wir rund drei Stunden zuvor eine Pause gemacht hatten.

Zwei der drei Stunden waren tatsächlich beim Wandern des Umweges verstrichen. Eine hatten wir damit verbracht, einen Pfarrer zu suchen und ihn nach einem Schlafplatz zu fragen. Dass er nicht der sozialste unter den Vertretern der christlichen Kirche war, hätten wir allein schon daran erkennen können, dass niemand im Ort wusste wo er wohnte. Viele wussten es ungefähr, doch genau konnte es nicht einmal der Mann im Haus neben ihm sagen. Selbst die beiden Frauen, die eine Etage höher Wohnten konnten mir nach gründlicher Überlegung keine genauere Angabe machen als „Wahrscheinlich im Erdgeschoss Wohnung A!“

Das stimmte sogar tatsächlich, doch letztlich half es mir nicht wirklich weiter. Denn der Pfarrer hatte sich dazu entschlossen, niemandem auch nur ein bisschen weiterzuhelfen. Zunächst erklärte er mir, dass es in seiner Gemeinde keinen einzigen Raum gäbe, der in Frage kam. Bei genauerem Nachfragen gab er zu, dass es zwar Räume gab, er jedoch niemanden dort hineinlassen wollte. Auch sonst könne er uns nicht helfen, was er bedauere aber nicht ändern könne. Ich wollte es nun noch einmal ganz genau wissen und fragte ihn, ob er sich bewusst sei, dass es seine Aufgabe als Pfarrer war, Geistesreisende auf ihrem Weg zu unterstützen. Er sagte es nicht direkt, doch er machte deutlich, dass es ihm sowohl bewusst als auch egal war. Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als unser Glück an einem anderen Ort zu versuchen. Der nächstliegende würde uns jedoch nicht weiterbringen, denn für den war der gleiche Pfarrer zuständig, mit dem wir gerade gesprochen hatten.

Wieder einmal waren wir entsetzt darüber, wie viel Leere oft hinter dem Namen der christlichen Nächstenliebe verborgen lag. Der Pfarrer beispielsweise hatte mit seinem Amt nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz sondern auch ein Pfarrhaus mit Grundstück und Swimmingpool bekommen. Dafür hatte er wie alle Pfarrer geschworen, sie um das Wohl der Menschen zu kümmern. Davon merkten die Menschen jedoch nichts. Mit den Klöstern in Santander oder im Wattenmeer war es das gleiche. Sie lebten von den Spenden der Menschen, die sie in dem Vertrauen unterstützen, dass sie damit anderen Bedürftigen halfen. Doch in beiden fällen schien es, als würden sie sich vor allem um sich selbst kümmern und versuchen jeden anderen so fern wie möglich zu halten.

Heiko erinnerte sich an eine Begegnung, die er vor Jahren auf dem Heimflug von Thailand nach Deutschland hatte. Damals hatte er einen Pfarrer getroffen, der in Begleitung von zwei jungen, thailändischen Frauen zurück in seine Heimatgemeinde flog. Er hatte ganz offen erzählt, dass er diese Frauen mitgenommen hatte, weil er eine davon als Köchin einstellen wollte. Er müsse natürlich ausprobieren, welche besser sei und dann würde er die zweite zurückschicken. Dass es dabei nicht nur ums Kochen ging, brauche ich wahrscheinlich niemandem zu erklären. Heiko war damals schockiert gewesen von dem unverhohlenen Menschenhandel und der Kaltherzigkeit, die der Mann an den Tag legte. Doch wenn wir uns die Menschen hier so anschauen, dann schein es nicht selten so, als sei dieses Verhalten weiter verbreitet als gedacht.

Den Rest des Nachmittages versuchten wir in den umliegenden Ortschaften einen Schlafplatz aufzutreiben. Dabei stießen wir abermals auf das Phänomen, dass es viele hilfsbereite aber keine hilfreichen Menschen gab. Es war das gleiche wie bei dem Autounfall, den wir gestern beobachtet hatten. In der Innenstadt von Santander waren zwei Autos aneinander gestoßen. Die Fahrerin des einen Wagens weinte sogar deswegen, obwohl es keinen Personenschaden gegeben hatte. Um die Unfallwagen herum stand eine riesige Menschentraube, die gaffte aber nichts zur Klärung der Situation beitrug. Klar gibt es diese Sensationslust überall auf der Welt, doch hier scheint sie noch einmal stärker und intensiver zu sein, als an den meisten anderen Orten. Für uns war es zwar etwas nervig, weil wir wieder einmal von einer Adresse zur nächsten geschickt wurden, doch es brachte uns nicht um. Wie aber musste es für die Menschen selbst sein, die hier lebten? Ihnen war ja bewusst, dass sie von niemandem Hilfe zu erwarten hatten. Wieder mussten wir an Natascha Kampusch denken, die nach ihrer Flucht ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Viele Jahre war sie von einem Entführer gefangen gehalten worden und als sie endlich endkommen konnte, war niemand bereit ihr zuzuhören und sie auch nur so lange aufzunehmen, bis die Polizei kam. Das konnte einfach nicht gut für eine Gesellschaft sein.

Vielleicht war dies auch einer der Gründe, warum es hier fast keine fröhlichen Menschen gab. Geben ist bekommen. Wenn man niemanden zu dessen Glück unterstützt, wie will man dann selbst glücklich werden?

Im Gedanken zurück an Santander fiel uns noch etwas anderes auf. Wir hatten zuvor geglaubt, dass die Menschen hier aus der Sicht eines kapitalistischen Systems nicht gut funktionieren, weil sie nicht bereit sind, so viel zu arbeiten. Doch je länger wir hier sind, desto mehr fällt uns auf, dass sie hervorragend funktionieren. Nur eben aus einer anderen Perspektive. Das gesamte Leben spielt sich auf der Straße ab und jede freie Minute verbringen die Menschen in den Bars. Das bedeutet auch, dass sie fast ihr ganzes Geld dort lassen. Geld von dem sie eh nicht viel besitzen, weil es fast keine gut bezahlten Jobs gibt. Besser kann man eine Gesellschaft gar nicht kontrollieren! Es wird so viel konsumiert wie möglich und dazu ist jeder aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage bereit, jeden unterbezahlten Job anzunehmen.

Da es langsam dunkel wurde und wir noch immer keine Unterkunft hatten, suchten wir uns einen Platz an dem wir unser Zelt aufbauen konnten. Wir wanden eine einigermaßen gerade Wiese hinter einer Hecke. Hier verbringen wir nach 125 Tagen nun also unsere erste Nacht im Freien.

Spruch des Tages: Mutter Erde wollte uns heute ohne trennende Mauern in ihren Armen haben.

 

Höhenmeter: 180m

Tagesetappe 26 km

Gesamtstrecke: 2547,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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