Tag 1270: Die ersten Lektionen

von Franz Bujor
01.11.2017 16:21 Uhr
Lektion 2: Alles ist richtig, wie es ist

Die Unsymetrie war jedoch nicht die einzige Schwierigkeit, die beim Übertragen der Vorlage auf meine Haut entstanden war. So ein Rücken ist keine gerade, ebene Fläche, und meiner schon erst recht nicht. Der Versuch, hier ein gerades Stück Papier aufzubringen, führte dazu, dass der Mittelteil, also der Bär als Krafttier im Zentrum so sehr verschmierte, dass er fast nicht zu erkennen war. Doch auch daran konnten wir zunächst nichts ändern. Shania begann ihre Arbeit daher mit den Bereichen des Tattooos, die man deutlich und klar sehen konnte. Zunächst waren die Umrandungen für die roten Flächen an der Reihe. Dann sollten die schwarzen Bereiche kommen. Doch kaum hatte sie die Farbe gewechselt, standen wir vor dem nächsten Problem. Die schwarze Farbe war so flüssig, dass sie ums Biegen und Brechen nicht an der Nadel haften, geschweige denn in meine Haut einfließen wollte. Ebenso gut hätten wir versuchen können, ein Tattoo mit reinem Wasser zu stechen. Mit anderen Worten: Die schwarze Farbe war vollkommen nutzlos, was ungünstig war, da schwarz eigentlich den Löwenanteil des Tattoos ausmachen sollte. Befanden wir uns also bereits wieder in einer Manipulationsschleife? Wurden wir, aufgrund unserer eigenen Unaufmerksamkeit von irgendetwas oder irgendjemandem manipuliert und sabotiert, sodass mein Tattoo seine Wirkung nicht entfalten konnte? Ja, definitiv! Aber nicht in Bezug auf die Farbe. Denn dass diese nicht funktionierte, hatte ebenfalls wieder einen wichtigen Grund und war Teil des Prozesses.

Die natürliche Freiheit wiedergewinnen

Als mir bewusst wurde, dass das Schwarz keine Option war und dass die einzige Möglichkeit, das Tattoo dennoch zu stechen, darin bestand, die schwarzen Bereiche blau zu machen, verstand ich plötzlich einige Entwicklungen der letzten Tage, die mich zuvor verwirrt hatten. Als wir die Farben ausgetestet haben, fiel das Ergebnis bei Rot und Blau sehr eindeutig aus, wobei uns der Blauton zunächst etwas erstaunte. Es war kein klares, strahlendes Blau, wie in unserer Vorlage, sondern ein gräulich gedecktes mit einem sehr eigenen, individuellen Ton. Schwarz hingegen blieb immer etwas schwammig und zunächst kamen wir dabei auf überhaupt kein Ergebnis. Aus irgendeinem Grund sollte diese Farbe dann letztlich auch von einem ganz anderen Hersteller sein, obwohl wir zuvor getestet hatten, welchem Farbenhersteller wir hierbei vertrauen sollten. Das Ergebnis am Ende lautete in etwa wie folgt: „Rot und Blau sind zu 100 % die Farben, die es sein sollen. Schwarz hat deutlich weniger Kraft, darf aber ausgewählt werden. Damals dachte ich, dass es darum ging, eine schwarze Farbe für das Tattoo zu wählen. Wir haben aber nie getestet, ob schwarz überhaupt ein Bestandteil sein soll und so fiel das Ergebnis nicht auf die gewünschte Farbe, sondern auf eine Farbe, die wir gefahrlos nehmen konnten, da sie das Tattoo wegen der Flüssigkeit nicht zerstören konnte. Alles Schwarze sollte tatsächlich blau werden.

Und auch das Blau war nicht grundlos gewählt worden. Es war, wie wir herausfanden, genau der Farbton, den meine Augen eigentlich haben sollten, wenn sie sich nach meiner Geburt nicht verfärbt hätten. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass alle Babys mit blauen Augen zur Welt kommen. Die blaue Farbe ist dabei direkt mit dem inneren Freiheitsgefühl verbunden. Kinder, die sich dieses Gefühl erhalten können, behalten auch ihre blauen Augen. Spüren sie jedoch, dass sie unfrei und eingesperrt sind, weil sie, wie beispielsweise in meinem Fall, das Gefühl haben, dem Wunschbild ihrer Mutter entsprechen zu müssen, so verfärben sich die Augen und werden je nach Grad der gefühlten Freiheitseinschränkung grau oder braun. Wichtig dabei ist, dass es um die innere Freiheit geht, die nicht von äußeren Umständen abhängig ist. Man kann durchaus in einem Gefängnis geboren werden, ohne das Gefühl der Freiheit zu verlieren, weil man stets die Freiheit spürt, auf alles äußere mit dem eigenen freien Willen reagieren zu können. Und man kann wie in meinem Fall nach außen hin alle Freiheiten genießen, sich dabei aber trotzdem wie ein Gefangener im eigenen Geist fühlen.

Die Natur reagiert bereits

Das Blau auf meinem Rücken war nun also ein Stellvertreter für das fehlende Blau in meinen Augen und damit auch ein erster Schritt in Richtung Wiedererlangung der inneren Freiheit. Es war also wahrscheinlich auch kein Zufall, dass wir gerade jetzt, da mir dieser Zwiespalt zwischen dem inneren Gefangen-Sein und der offensichtlichen Freiheit im Außen bewusst wurde, durch ein Land wanderten, das genau dies widerspiegelte. Auf den ersten Blick war Großbritannien mit seinen weiten, hügeligen Wiesenflächen ein unheimlich freies und offenes Land. Schaute man jedoch genauer hin, stellte man fest, dass alles von kleinen Zäunen umgeben war, die einen an wenige, eingefahrene Wege fesselten, sodass man sich stets nur in denselben Bahnen bewegen konnte, während einem die eigentliche Freiheit, Offenheit und Weite des Landes verwehrt blieb. Nicht anders war auch das Gefühl in mir. Seit dreieinhalb Jahren lebte ich nun bereits komplett frei und konnte tun und lassen, was immer ich wollte. Und doch war ich in mir an meine alten Muster gefesselt, durch die ich die Freiheit immer nur aus der Ferne sehen konnte. Es war jetzt also an der Zeit, diese Fesseln zu lösen. Und genau aus diesem Grund war „Freiheit“ in meinem Tattoo auch eines der zentralsten Themen. Zum einen durch die blaue Farbe, zum anderen durch die großen Adlerschwingen, die nun schon bald meine Schultern zieren würden. Die Adler waren auch das erste, auf das die Natur um uns herum reagierte. Genau in dem Moment, als Shania begann, die Schwingen und Köpfe der Adler zu stechen, fingen draußen vor dem Fenster die Vögel zu zwitschern und laut zu rufen. Sie endeten erst, als Shania zu einem anderen Bereich des Tattoos überging.

Manipulation der Zeit

Die Manipulationen, die wir von außen zuließen oder in Form von Sabotage selbst erzeugten, bezogen sich hingegen vor allem auf die Zeit. Shania kämpfte immer wieder mit einem Gefühl der Versagensangst, das aus den alten Filmen stammte, in denen sie stets vermittelt bekommen hatte, dass sie nicht gut genug war. Ihre Angst war es, dass sie Fehler machte, das Tattoo nicht richtig stach oder meinen Rücken damit aus Versehen so verschandelte, dass ich später sauer auf sie sein würde. Es war eine unbewusste Angst, die Heiko erst durch ein paar markante Beispiele deutlich machen musste, damit wir sie erkennen konnten.

Lektion 3: Grenzenloses Vertrauen

„Du versuchst noch immer selbst zu bestimmen, was auf diesem Rücken entstehen soll. Du nimmst dich viel zu wichtig und glaubst, dass du entscheidest, was hier passiert. Es ist ein Ritual und du bist nicht der Heiler, sondern nur die ausführende Hand. Die Heilung fließt durch dich hindurch und sie fließt so wie sie benötigt wird. Du aber willst sie manipulieren und selbst bestimmen, was auf dem Rücken entstehen soll. Deshalb hast du auch Angst, dass es nicht gut werden könnte. Es ist dir nicht egal, was kommt, du glaubst, es bewerten und verändern zu müssen.“

Zunächst protestierte Shania, da sie der Ansicht war, den Fluss zuzulassen und wirklich nur durch sich hindurch arbeiten zu lassen. Doch Heiko schaffte es, das Bild klarer zu machen: „Was wäre, wenn du ihm einen Schweinepimmel auf den Rücken tätowieren solltest? Du lässt dich einfach treiben, es kommt, was kommen soll und plötzlich hat er einen dicken Penis auf dem Rücken, von dem du nicht einmal genau weißt, wie er dahin gekommen ist. Wäre das für dich in Ordnung?“

Shania stockte und ich musste ebenfalls schlucken, denn sowohl für sie als auch für mich war das ganz und gar nicht in Ordnung.

 

„Seht ihr!“, meinte Heiko nur knapp, „daran merkt ihr, dass ihr nicht offen seid. Wenn ihr euch ganz dem Prozess hingeben könntet, wäre es vollkommen egal was entsteht, da ihr wissen würdet, dass immer alles richtig ist. Es würde kein Schweinepimmel entstehen, wenn dieser keine Bewandtnis hätte und wenn er doch entsteht, dann ist genau er das Symbol, das die größtmögliche Heilung bringt. Ihr glaubt aber, dass ihr besser wisst als das Universum, was in diesem Prozess das richtige ist. Also, es gibt ja nur DAS EINE und ihr seit das Universum selbst. Aber ihr glaubt, dass euer Ego entscheiden müsste, was dort entstehen soll und nicht der göttliche Teil in euch. Für euch ist das Tattoo noch immer ein modisches Accessoire, vor allem für dich Franz. Es geht euch darum, wie es aussieht, nicht was es für eine tiefe Bedeutung und Kraft hat.“

Damit traf er den Nagel auf den Kopf, wenngleich es noch eine ganze Weile dauerte, bis wir es annehmen konnten.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Alles ist richtig, wie es ist

Höhenmeter: 130 m

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 23.318,27 km

Wetter: Regen, Wind oder beides, teilweise sogar etwas sonnig und warm

Etappenziel: Kirchensaal, Carluke, Schottland

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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