Tag 1288: Ordnung ins Chaos bringen

von Heiko Gärtner
19.11.2017 16:11 Uhr

06.07.2017

Gestern hatten wir ja bereits einen Ausblick auf das bekommen, was wir heute durchwandern durften. Von einem Hügel aus hatten wir in einen beeindruckenden Blick in eine weite Ebene, in der es nichts anderes gab als Häuser, Hallen, Straßen und Fabriken. Jetzt befanden wir uns mitten in dieser Ebene. Schön war das natürlich nicht, doch es gelang uns erstaunlich gut, uns so hindurchzuschlängeln, dass wir die Hauptstraßen und die besonders unangenehmen Bereiche vermieden. Fast überall gab es Fahrradwege und kleinere oder größere Stadtparks in denen man dem Verkehr und dem Großstadtwahnsinn ausweichen konnte. Wir konnten sogar eine Picknickpause einlegen, in der wir nur von einer einzigen Straße und dem statischen Brummen einer einzigen Fabrikanlage gestört wurden. Das war ja fast schon harmonisch!

Die unbesiedelten Ecken von Schottland sind noch immer die schönsten

Die unbesiedelten Ecken von Schottland sind noch immer die schönsten

Konzentrationsschwäche

Auf dem Weg durch den Wahnsinn machte ich eine Übung zum Thema Konzentrationssteigerung, von der ich kurz zuvor gelesen hatte. Sie war so einfach, dass ich sie zunächst als lächerlich empfand und mir nicht einmal vorstellen konnte, wie sie bei der Steigerung der Konzentration helfen sollte. Die Übung lautete: „Schritte zählen“ und war damit bereits vollständig erklärt. „Zählen Sie beim Wandern, Spazierengehen oder Joggen Ihre Schritte.“

Noch ist die Besiedelung überschaubar...

Noch ist die Besiedelung überschaubar...

Kein Thema dachte ich und weil es mir auf diese Weise doch ein bisschen zu einfach erschien, fügte ich ein paar kleine Zusatzregeln hinzu: Ziel war es, einmal am Stück 500 Schritte zu zählen, ohne dabei einen Fehler zu machen. Wenn man einen Fehler machte, sich also verzählte, aus dem Takt kam, sich beim Denken der Zahl verhaspelte oder ähnliches, musste von vorne begonnen werden.

Das Ergebnis war erschreckend! Ich schaffte es nicht einmal für hundert Schritte so im Fokus zu bleiben, dass ich mich nicht verhaspelte oder verzählte. Meistens kam ich fehlerfrei bis 60 oder 70 und machte dann Dinge wie „79, 90“ oder „dreiensiebzig, viernsiebzig, fünfnsieblirsng, verdammt!“

Gott, das erklärte natürlich einiges! Wenn ich nicht einmal ein paar Zahlen aneinander Reihen konnte, ohne komplett aus dem Konzept zu kommen, wie wollte ich dann den Fokus halten, wenn ich beispielsweise etwas visualisierte oder einen komplexen Sachverhalt im Kopf vorstrukturierte, um ihn klar und Zielführend niederschreiben zu können?

Offensichtlich gab es hier noch viel für mich zu lernen!

Heilung durch zweifelsfreien Glauben

Bei unserer Pause im Park war es mir gelungen, einen Pfarrer telefonisch zu erreichen, der uns einen Schlafplatz zusicherte. Als wir zweieinhalb Stunden später sein Kirche erreichten, wartete er bereits auf uns. Er kochte uns einen Tee und wir saßen für einige Zeit in einem Besprechungsraum zusammen, um uns auszutauschen. Dabei lernten wir auch einen Mann kennen, der gerade dabei war, einen Fehler im Stromnetz auszumerzen. Als man die Kirche und das angegliederte Gemeindezentrum gebaut hatte, hatte man sich mit einem Plus- und einem Minus-Pol in der Stromversorgung zufrieden gegeben. Nun aufgefallen, dass es keine Erdung gab und dass dies ein Sicherheitsrisiko darstellte. Das Erdungskabel in allen Räumen in jeder Steckdose zu verlegen wäre zu aufwendig gewesen, aber man konnte es immerhin vom Hauptverteiler aus einbauen. Nicht dass dies etwas gebracht hätte, aber es beruhigte das Gewissen der Verantwortlichen.

Ein Blockhütte als Rückzugsort.

Ein Blockhütte als Rückzugsort.

Wie sich zeigte, war der Elektriker ein weitaus spirituellerer Mann als der Pfarrer und das nicht nur, weil er täglich mit fließenden Energien arbeitete. Er erzählte uns, dass er vor einiger Zeit ein Schlüsselerlebnis hatte, das ihn sehr stark beschäftigte und teilweise kaum mehr los ließ. Irgendwie war er einmal durch Zufall an eine Übungsgruppe für Geistheilung und spirituelle Praxis geraten, die ihn irgendwie fasziniert hatte. Zuvor hatte er mit diesen Themen nicht viel anfangen können und dass er sich überhaupt dafür interessierte war ihm zunächst so unangenehm und peinlich, dass er nicht einmal seiner Frau davon erzählte. Es ging darum, eine energetische Verbindung zum göttlichen aufzubauen und die kosmische Energie durch sich hindurchströmen zu lassen. Er selbst empfand dabei zunächst einmal gar nichts, außer vielleicht etwas Fremdscham für die anderen Teilnehmer, die in ihren Empfindungen ein bisschen übertrieben und theatralisch zu sein schienen, so dass es mehr nach Hokuspokus als nach einem echten Kontakt aussah. Etwas enttäuscht ging er wieder nach hause, wobei ihn zwei unterschiedliche Gefühle begleiteten. Auf der einen Seite empfand er das, was dort geschehen war zu großen Teilen als unauthentisch und hatte das Gefühl, dass dies nicht der Weg war. Zum anderen spürte er nun aber deutlich, dass es da etwas gab, wenngleich er nicht sagen konnte, was es war.

Auf den ersten Blick sieht alles ordentlich aus - aber was ist darunter?

Auf den ersten Blick sieht alles ordentlich aus - aber was ist darunter?

Ein oder zwei Tage später hatte er einen heftigen Sturz mit dem Fahrrad, wobei er sich den kompletten Unterkiefer aufschlug. Sein Kinn blutete wie verrückt und tropfte auch sein Hemd voll, doch er wollte damit weder zum Arzt noch ins Krankenhaus. Stattdessen fuhr er nach hause, legte sich selbst einen verband an und ging ins Bett, ehe seine Frau ihn auch nur zu Gesicht bekam. Vor dem Einschlafen erinnerte er sich an die Übungen aus seinem Heilungskurs und versuchte, sein Kinn im gesunden Zustand zu visualisieren. Zunächst verfiel er in einen Dämmerschlaf, dann war er ganz weg. Am nächsten morgen löste er den Verband von seinem Kinn, um sich das Desaster noch einmal in Ruhe zu betrachten. Doch es gab keines. Wo am Vortag noch eine klaffende Platzwunde zu sehen gewesen war, hatte er nun nicht einmal mehr eine Narbe. Sein Hemd und auch der Verband waren noch voller Blut, aber sein Körper zeigte keine Spuren mehr von der Stelle, aus der es geflossen war. Seit diesem Moment war es nicht mehr ein Gefühl, dass es da mehr gab, sondern eine Gewissheit.

Ordnung ins Chaos bringen

Doch was als Wunder begonnen hatte, wurde nun schnell zur Belastung, denn er hatte das Gefühl, dass Gott ihm, nun da sie eine Verbindung hatten, vor allem Negatives schenkte. Es war, als würde er nur noch Chaos und Unordnung in sein Leben bringen und als hätte er keine Chance mehr, sich davon wieder abzuwenden. Er hatte einmal die Augen geöffnet und egal ob ihm gefiel was er sah oder nicht, er konnte sie nicht mehr schließen.

Bei diesen Worten war er den Tränen nahe und man konnte die Trauer und die Verzweiflung in seiner Stimme hören. Ich kannte das Gefühl.

„Die Phase, in der du dich befindest kenne ich gut,“ sagte ich, „denn darin befinde ich mich auch gerad

Um Aufräumen zu können muss alles ans Tageslicht

Um Aufräumen zu können muss alles ans Tageslicht

e. Es fühlt sich oft schwer und entmutigend an, aber es ist eine wichtige Phase und sie ist bereits Teil der Heilung. Du hast gehofft, dass Gott, wenn du dich mit ihm verbindest, Klarheit in dein Leben bringt und dir hilft, deine Gefühle und Erlebnisse zu ordnen, so dass du in deine Kraft kommst und nun hast du das Gefühl, dass alles nur noch schlimmer ist als zuvor und dass du immer weniger verstehst, wer oder was du eigentlich bist. Das ist ganz natürlich. Du musst dir das ein bisschen so vorstellen, wie wenn du dein Werkzeug in deiner Werkstatt aufräumst. Dein Leben lang hast du immer nur alles irgendwo in eine Schublade geworfen und nicht einmal darüber nachgedacht, dass es hier vielleicht ein sinnvolles System geben könnte. Nun hast du Gott getroffen, der dir gezeigt hat, dass eine Werkstatt auch ordentlich und schön eingerichtet sein kann, so dass man effektiv und entspannt in ihr arbeiten kann. Zuvor hast du nicht gewusst, dass du im Chaos versinkst, da es dir normal vorkam, aber nun merkst du es uns spürst es daher in jeder Sekunde. Das ist der erste Punkt, der dich fertig macht.

Wer bereit ist, alle Schattenseiten zu betrachten, kann das Chaos auflösen.

Wer bereit ist, alle Schattenseiten zu betrachten, kann das Chaos auflösen.

Der Zweite ist jedoch noch etwas stärker. Denn du hast nun erwartet, dass Gott alles für dich aufräumt und dafür sorgt, dass du Lichts ins Dunkel deiner Werkstatt bringst und stattdessen wird das Chaos immer schlimmer und schlimmer und du weißt nicht warum. Aber es ist ganz einfach und auch absolut notwendig, dass es so ist. Denn solange sich dein Gerümpel irgendwo in den Schränken und Schubladen versteckt befindet, kannst du es nicht aufräumen. Es muss erst einmal ans Tageslicht kommen und hier gesichtet werden. Das heißt, das was du gerade erlebst ist, wie Gott all deine Schranktüren aufreißt und das Chaos darin über dem Boden verteilt. Dadurch glaubst du nun natürlich überhaupt kein Bein mehr an den Boden zu bekommen was ja zum Teil auch stimmt. Aber es ist keine Verschlechterung, sondern ein Teil des Aufräumens. Nur das, was sichtbar am Boden liegt kann auch sortiert, geordnet und strukturiert werden. Nur bei diesen Dingen kannst du feststellen, was du noch benötigst und was weggeworfen, also losgelassen werden kann. Es dauert eine Weile und es sieht schlimm aus, aber nun kannst du wirklich aufräumen und Schritt für Schritt an den Punkt gelangen, an dem du deine Werkstatt genau so hast, wie sie sein soll, damit du optimal und in Freude darin arbeiten kannst!“

Spruch des Tages: Um Ordnung schaffen zu können, muss man manchmal erst alles auf dem Boden verteilen.

Höhenmeter: 160 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 23.914,27 km

Wetter: Windig, Regnerisch, Ungemütlich

Etappenziel: Karavan im Port Bàn Holiday Park, Coulaghailtro, Schottland

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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