Tag 129: Über Stock und Stein

von Franz Bujor
10.05.2014 22:07 Uhr

Die Rollenverteilung unter den Herbergsleitern war ganz klar aufgeteilt. Wenn man das Glück hatte, von ihm empfangen zu werden, kam man in die familiäre Herberge eines älteren, grauhaarigen Herren, der ein freundliches und leicht schüchternes Gemüt hatte und den man sofort gernhaben musste. Traf man jedoch auf sie, befand man sich automatisch in der Höhle eines Hausdrachens, der einen grimmig und feindselig anfunkelte und dem man lieber nicht zu viele Fragen stellte. Genau das hatte auch der alte Herr im Laufe der Jahre gelernt und verwies einen daher mit jeder Frage, von der er nicht hundertprozentig sicher war, dass er sie entscheiden durfte, an seine Frau. Außer den beiden Großeltern lebte auch noch die Tochter mit ihrem Mann und der Enkelin in der Herberge. Der Aufenthaltsraum für die Pilger war gleichzeitig das Wohnzimmer dieser Familie und das kleine Mädchen betrachtete daher alles als ihr Spielzeug, was in diesem Raum herumstand. Das Gepäck der Pilger eingeschlossen.

An der Wand der Herberge hingen Unmengen von Fotos, die frühere Pilger zusammen mit den Herbergsleitern zeigten. In den Wanderführern wurde dieser Ort als besonders freundlich und familiär angepriesen und galt daher als eine der besten Herbergen auf dem ganzen Camino del Norte. Die Fotos an der Wand zeigten, dass er das Früher sicher auch einmal gewesen war. Auf den ersten Bildern konnte man die Freude der Herbergseltern über ihre Gäste noch deutlich sehen. Die Idee war ebenso schön wie nobel gewesen: Eine Herberge zu erschaffen, in der man gemeinsam zu Abend essen konnte und in der das ältere Ehepaar sich mit den Reisenden austauschen konnte. Doch mit der Zeit hatte sich gezeigt, dass diese Idee eine weit weniger ansprechende Realität mit sich brachte. Der Pilgerstrom hatte stetig zugenommen und immer mehr Reisende kamen um zu übernachten. Gleichzeitig wurden diejenigen, die wirklich den ganzen Weg wanderten immer seltener und die Touristenpilger, die sich nur eine Woche auf den Weg begaben immer häufiger. Die Geschichten begannen sich zu wiederholen und irgendwann waren die interessanten Gäste nichts anderes mehr als Nummern in einem großen Buch der Pilger. Die wenigen, die für die Herbergseltern wirklich interessant gewesen wären, konnte man über das Jahr verteilt an einer Hand abzählen und auch sie verschwanden so schnell, dass nichts von ihnen blieb, als eine kurze Erinnerung an den Abschied. Es war kein Wunder, dass die Herbergseltern irgendwann begonnen hatten, sich nicht mehr auf ihre Gäste einzulassen sondern ihre Herberge nur noch als das anzusehen, was sie letztlich inzwischen war: Ein reines Business. In unserem Wanderführer stand noch immer, dass man als Pilger am Abend mit den Herbergseltern gemeinsam essen würde. Doch damit hatten sie bereits vor Jahren aufgehört.

Uns war das ganz recht, denn wir hatten eh keine Lust auf eine Speisung in einem großen Raum mit 60 anderen Menschen. Wir gingen stattdessen lieber wieder in die Stadt und fragten dort nach einem Essen. Auf dem Marktplatz trafen wir Javier wieder, der eine Jakobsmuschel zum Betteln aufgestellt hatte. Wir setzten uns zu ihm und teilten unser Essen mit ihm. Er staunte nicht schlecht, was wir alles aufgetrieben hatten. Insgesamt saß er über zwei Stunden an diesem Platz und er bekam nicht mehr zusammen als zwei oder drei Euro in Centstücken. Nach einer Fragetour durch die Läden und Bars von insgesamt 10 Minuten hatte ich so viel teure Seranoschinken, guten Käse und Baguette zusammen, dass wir uns zu dritt davon sattessen konnten und hinterher noch immer etwas übrig hatten. Javier erzählte uns, dass er früher ebenfalls viel nach Nahrung gefragt hatte. Auch seine Straßenkunst war immer auf eine Art auch eine Bittstellerei gewesen, denn er verbrachte die meiste Zeit damit, Passanten für seine Kunst zu gewinnen. Das Malen selbst machte hingegen nur den geringsten Teil der Arbeit aus. All dem war er überdrüssig geworden und dies war auch ein Grund für seine Reise nach Santiago. Er sah sie als einen Urlaub an und hatte daher beschlossen niemanden mehr zu fragen, ob er etwas bekam, sondern nur noch von dem zu leben, was ihm die Menschen freiwillig gaben. Es war deutlich zu hören, dass er von der Menschheit an sich endtäuscht war. Er sprach wie jemand, der in seinem Leben zu viele Ablehnungen bekommen hatte, um sich noch einmal offenen Herzens nach vorne zu wagen. Er erzählte uns, dass er auf dem Jakobsweg viele Menschen kennengelernt hatte. Die meisten waren nett gewesen und hatten ihm geholfen, doch wirklich tiefe Begegnungen waren nur wenige dabei. Vielleicht drei oder vier. Pläne für die Zukunft hatte er nicht. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, was ihm der Morgen bringen würde und sah daher auch keinen Grund, warum er es jetzt anders halten sollte. Vielleicht würde ihm Santiago eine Erkenntnis bringen. Sicher war nur, dass er nicht wieder in seine alte Arbeit als Straßenmaler in der Stadt zurück wollte. Nach dem Essen gingen wir gemeinsam in einen kleinen Supermarkt, wo er sich von seinem Bettelgeld etwas für die Nacht kaufen wollten. In einer Eisdiele hatte ich ebenfalls zwei Euro geschenkt bekommen, obwohl ich eigentlich ein Eis haben wollte. Diese verwendeten wir nun, um im Supermarkt ein kaltes Getränk und ein paar Rescue-Kekse für den nächsten Wandertag zu kaufen. Rescue-Kekse hatten uns in der Vergangenheit schon oft den Arsch gerettet, wenn wir frustriert oder von steilen Anstiegen erschöpft waren. Javier kaufte sich zu unserer Überraschung jedoch kein Esse sondern eine Flasche Wein und eine Flasche Bier, um sich damit einen gemütlichen Abend irgendwo außerhalb der Stadt zu machen. Man sah ihm an, dass ihm die Einsamkeit doch mehr zu schaffen machte, als er sich selbst eingestehen wollte.

Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung und zum ersten Mal an diesem Tag, war es Javier unangenehm, dass er so schlecht roch. Er hatte sich ewig nicht gewaschen und wusste um seinen Körpergeruch, doch bei den meisten Menschen war es ihm nicht wichtig, was sie von ihm hielten. Bei uns jedoch schon. Wir beruhigten ihn und meinten, dass es auch uns oft nicht besser ging, je nachdem wie häufig wir eine Dusche auftreiben konnten oder nicht. Doch das Unwohlsein von seiner Seite blieb. In der Herberge gab es nur einen einzigen Schlafraum für alle Gäste, weshalb Privatsphäre wieder einmal eine absolute Fehlanzeige war. Wir schnappten unsere Computer und setzten uns im Freien an eine Burgmauer um eine Folge von „How I met your mother“ zu schauen, doch auch das war keine abendfüllende Beschäftigung. Um 22:00 schloss die Herberge und da mussten wir spätestens in unserem Zimmer sein. Da es zu früh zum Einschlafen war, nutzten wir die Zeit um mal wieder etwas zu lesen. Wir entschieden uns für die Tagebücher eines sibirischen Schamanen, die wir auf einer beliebigen Seite aufschlugen. Spannender Weise landeten wir dabei beim Thema Sexualität. Der Schamane beschreibt, dass die Sexualität in unserer Gesellschaft zu einer Sucht verkommen ist, einer Droge, die wir einsetzen, um uns lebendig zu fühlen. Im Alltag vermissen wir das Gefühl, wirklich zu leben, sehr häufig und suchen daher nach Momenten, in denen wir es erleben können. Sex ist eine Methode, um sich das Gefühl zu erschaffen, doch wenn wir unsere Sexualität vor allem aus diesem Grund ausleben, fühlen wir uns danach umso schlechter, weil der Moment dann vorbei ist. Genauso ist es auch mit anderen Süchten, die wir vor allem deswegen aufbauen, weil uns eine andere wichtige Sache im leben fehlt. Je stärker es uns gelingt, das Gefühl der Lebendigkeit auch im alltäglichen Leben zu verspüren, desto geringer wird unser Verlangen nach Ersatzbefriedigungen. Im Falle von Sexualität geht dann ebenfalls das Verlangen zurück, gleichzeitig steigt aber auch die Fähigkeit, sich hinzugeben und die Momente der Intimität wirklich zu genießen. Heiko fiel dabei eine Studie ein, von der er vor kurzem gelesen hatte. Danach waren die Spanier im internationalen Vergleich das Volk mit dem wenigsten und kürzesten Sex, und das obwohl sie gleichzeitig als eines der temperametvollsten und leidenschaftlichsten galten. Ein Fakt, der auf jeden Fall für die Theorie des Schamanen spricht. Am nächsten Morgen wurden wir um kurz vor acht aus den Betten geschmissen. Die meisten anderen Pilger waren bereits aufgebrochen und nur ein Rentnerpärchen aus Deutschland frühstückte noch mit uns gemeinsam. Das Frühstück bestand diesmal aus Zwieback mit Marmelade, Keksen und Kaffee, Tee oder Kakao. Es war noch immer kein Frühstück, aber es ging zumindest schon einmal in diese Richtung. Das deutsche Pärchen erzählte uns, dass dies die erste Herberge seit drei Tagen war, in der sie hatten schlafen können. Und das vor allem deswegen, weil sie inzwischen so müde waren, dass sie überall eingeschlafen wären. Der Mann hatte eine Armbanduhr mit Pulsmesser und war besorgt darüber, dass er bereits jetzt einen Ruhepuls von über 80 hatte. Normalerweise lag er bei 60, doch die Aufregung über die Herberge tat ihm ganz offensichtlich nicht gut. Warum sich die beiden den Herbergswahnsinn antaten obwohl sie sich eine günstige Pension mit Doppelzimmer ebenfalls locker hätten leisten können verstanden wir nicht. Dafür wurde uns aber klar, dass es niemanden gab, der sich in den Herbergen wohl fühlte. Es war nicht nur ein Problem von uns. Vor allem Heiko spürte, dass es auch auf energetischer Ebene ein Ort war, der einen eher krank machte als gesund. Seine Ohrgeräusche waren in der Früh wieder deutlich lauter als an den vergangenen Tagen. Durch das frühe Aufbrechen gerieten wir heute Morgen in einen saftigen Frühnebel, der so dicht war, dass er sich fast wie Regen anfühlte. Wir steckten mitten in einer Wolke, in der die Wassertropfen einfach so in der Luft standen, ohne herunterzufallen. Gleichzeitig war es so schwül und warm, dass wir vor Schweiß fast zerflossen.

Der Jakobsweg führte ein gutes Stück ins Landesinnere und versuchte dabei wieder einmal so viele Berge wie möglich mitzunehmen. Wir entschieden uns daher für einen anderen Weg, der im Nachhinein betrachtet zwar nicht weniger anstrengend dafür aber wahrscheinlich bedeutend schöner war. Auf der kleinen Karte im Wanderführer waren Sträßchen eingezeichnet, die nördlich der Autobahn an der Küste entlang liefen. Wir entschieden uns dafür, diese einzuschlagen. Zum glück kamen wir jedoch auf die Idee, einen Bauern um Rat zu fragen und so fanden wir heraus, dass diese Straße nicht existierte. Dafür gab es einige andere, die ebenfalls in unsere Richtung führten, jedoch zum Teil nur mit Trampelpfaden verbunden waren. Von dem kleinen Ort mit dem Bauern aus führte uns die Straße zu einer kleinen Bucht, die absolut unberührt zwischen den schroffen Felsen lag. Nicht einmal ein Trampelpfad führte zum Strand hinunter. Selbst die Wellen wirkten hier friedlicher und harmonischer als an allen Touristenstränden, die wir bislang gesehen haben. „Was meinst du,“ fragte Heiko, „wie sich das Meer wohl fühlt, wenn es hier ankommt. Und wie es sich im Vergleich dazu fühlt, wenn es an die Betonfassade einer Stadt klatscht? Kannst du den Unterschied fühlen?“ Ich versuchte hinzuspüren, ob ich wirklich einen Unterschied wahrnahm und tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass auch das Meer eine Harmonie ausstrahlte, die ich in den Städten nicht gespürt hatte. Dort wirkten die Wellen aggressiver und gewaltiger, so als wollten sie Zeigen, dass der Mensch nichts gegen sie ausrichten konnte. Wenn sie ihn zerstören wollten, dann konnte sie niemand aufhalten. Egal für wie mächtig er sich auch hielt. Hier jedoch wirkte es, als würden sie das Land sanft streicheln. Allein hierfür hatte sich der Weg auf jeden Fall gelohnt. Das einzige Anzeichen von menschlicher Zivilisation, war eine Plastiktüte, die in den azurblauen Wellen trieb. Und ein kleines Häuschen, das etwas oberhalb der Bucht in Grünen stand. Es war ein kleines Steinhaus mit einem Wasserfall direkt unter der Terrasse. Schöner konnte man nicht wohnen! Und dennoch stand das Haus leer. Hinter dem Haus jedoch wurde es erst richtig abenteuerlich. Hier endete die Straße und wir mussten mitten über eine große Kuhweide auf die andere Seite des Hügels. Zwei mal mussten wir dazu einen Zaun überwinden und einmal einen steilen Abhang hinunter der nur aus Lehm und Gras bestand. Der Bauer hatte also nicht übertrieben, als er gesagt hat, dass es mit unseren Wagen schwierig werden könnte, hier durchzukommen. Doch wieder wurden wir belohnt. Die Bucht auf der anderen Seite war sogar noch schöner, als die erste. Es gab einen kleinen Strand, der mitten zwischen den Felsen verborgen lag. Zum offenen Meer hin wurde die Bucht von einem Felsen geschützt, der ein großes Tor bildete. Hier legten wir eine längere Mittagspause ein, um die Aussicht gebührend zu genießen. Hin und wieder kamen Touristen mit dem Auto, die kurz hielten, zwei oder drei Fotos machten und dann wieder verschwanden. Ansonsten waren wir allein. Pünktlich zu beginn unserer Pause kam auch die Sonne durch und verdrängte den Nebel.

Der Platz war perfekt, um etwas für unsere Gesundheit zu tun. Zunächst massierten wir unsere komplett verspannten Bein- und Rückenmuskeln, was jedoch eher eine Tortur als eine Entspannungsphase wurde, so verbacken wie unser Gewebe war. Wahrscheinlich war dies auch einer der Gründe, warum mir die Zehen ständig einschliefen. Anschließend machten wir eine Feueratmung und eine Meditation, um herauszufinden, welche Aufgabe hinter der Überempfindlichkeit von Heikos Hörsinn steckte. Als wir uns danach noch etwas auf dem Felsen umsahen um einige Fotos zu machen, entdeckten wir eine Smaragdeidechse, die sich auf einem kleinen Weg sonnte. Kurz darauf verschwand sie und kam mit einer Partnerin wieder. Zu zweit kuschelten sie sich aneinander und legten sich in Pose für die Kamera. Dann verschwanden sie im Gebüsch. So schön die Bucht auch war, irgendwann war dennoch die Zeit gekommen, um weiterzuziehen. Wir verabschiedeten uns von dem kraftvollen Ort und bedankten uns dafür, dass wir ihn sehen und fühlen durften. Von hier aus führte die Straße zunächst in ein kleines Dorf und dann auf die Hauptstraße, die uns weiter nach Westen brachte. Wir kamen an einigen Tankstellen und Geschäften vorbei, die für die Fernfahrer hier errichtet worden waren. „Weißt du, was mir gerade bewusst wird?“ fragte Heiko. Ich schüttelte den Kopf.

„Das wir unsere Pilgerwagen so gut haben reparieren können, war ein absolutes Wunder. Schau dich mal um! Hier etwas aufzutreiben wäre absolut unmöglich gewesen. Auch in den nächsten Ortschaften glaube ich nicht, dass wir so etwas wie Bremskltze finden würden. Oder eine Industrienäherei, die unsere Deichselaufhängungen erneuert hätte!“ fuhr er fort. „Stimmt“, sagte ich, „und in Frankreich gab es auch so gut wie keine Möglichkeiten. Es hätte wirklich zu keiner anderen Zeit passieren dürfen! Und dazu mussten wir uns sogar noch verlaufen, um an den richtigen Helfern vorbeizukommen!“ „Genau das meine ich!“ bestätigte Heiko, „Wir haben uns zum Teil echt geärgert und waren genervt, weil wir arbeiten mussten, aber dass dürfen wir auf keinen Fall verkennen. Wir müssen wirklich dankbar dafür sein, wie viel Hilfe wir von allen seiten bekommen und unter was für einem guten Stern unsere Reise steht. Wie oft uns die Fügungen auf unserem Weg weiterhelfen wurde kurz darauf ein weiteres Mal bewiesen. In Santander hatte ich einen Franziskanermönch auf der Straße angesprochen, weil ich dachte, dass er zu dem dort ansässigen Kloster gehört. Damals hatte er mir erklärt, dass er in einem Projekt ca. 150km von Santander entfernt lebe, dass wir ihn aber gerne besuchen könnten, wenn wir in der Gegend ankämen. Sein Haus sei nicht direkt am Weg und es wäre schwierig dort hin zu wandern, deshalb sollten wir ihn anrufen, wenn wir in der Nähe von Unquera wären. Von dort könne er uns mit dem Auto abholen. Nun lag Unquera noch circa 8 Kilometer von uns entfernt und wir nahmen erneut Kontakt zu ihm auf. Er freute sich von uns zu hören und wir verabredeten uns für 17:00 vor der Kirche im Ort. Das einzige Problem war nun, dass wir unsere Wagen irgendwo abstellen mussten, da diese nicht ins Auto passten. Doch auch dieses Problem war schneller gelöst, als erwartet. Der Besitzer einer Bar, den wir um Rat und Hilfe baten, bot uns an, unser Gepäck in einem kleinen Laden unterzustellen, der ihm ebenfalls gehörte. Morgen war Sonntag und daher wurde der Laden nicht geöffnet. Bis morgen Abend um 21:30Uhr konnten wir alles dort einlagern was wir wollten.

Um 17:00 fuhr dann ein weißes Auto mit Bruder Arturo und einem anderen Mann vor. Später fanden wir heraus, dass der zweite einer der Männer war, die in Arturos Projekt lebten. Der Mönch führte eine Einrichtung für Immigranten und Spanier, die aus irgend einem Grund in Probleme geraten waren. Bei den Immigranten handelte es sich meist um Flüchtlinge ohne Papiere, die anders nicht in Spanien bleiben dürften. Die Männer, die nun bei ihm lebten waren bereits Volljährig, doch früher hatte er Schützlinge vom Kindesalter angenommen. Ein Junge war vier gewesen, als er zu ihm kam, andere fünf oder sechs. Die meisten waren inzwischen Verheiratet und lebten mit ihren Familien irgendwo im Umkreis. Doch bevor wir das Haus des Bruders erreichten hatten wir noch eine lange Fahrt vor uns. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit saßen wir wieder in einem Auto. Und in was für einem. Es war ein alter Opel, ein Hochdachkombi, an dem fast nichts mehr funktionierte. Die Stoßstange hing zur Hälfte herunter und überall waren Dellen und Beulen. Doch das Beste was die Batterie. Auf der ganzen Fahrt, die eine Länge von 50 Kilometern hatte, durfte der Motor nicht ausgehen, weil der Wagen sonst nicht wieder starten würde. Um zu verstehen, dass das eine wirklich große Herausforderung war, muss ich euch von der Fahrt erzählen. Zunächst einmal fuhren wir von der Küste ab ins Landesinnere, wodurch wir wirklich in die Berge kamen. Die Straße folgte einem kleinen Fluss, der sich einen tiefen Canyon mitten in die steilen Felswände gegraben hatte. Der Anblick war atemberaubend. Wir fragten uns, wie dieser Canyon wohl entstanden war. Hatte er sich wirklich nach und nach durch die Kraft des kleinen Flusses in den Harten Fels gegraben? Wenn ja, warum geschah das dann an dieser Stelle, an der das Gestein wirklich hart war und an so vielen anderen Stellen mit weicherem Gestein nicht? Oder hatte es vielleicht einige große Katastrophen gegeben, die die Schlucht auf einmal in die Berge gerissen hatten? Dafür würde sprechen, dass die Bäume, die hier wuchsen, und die definitiv niemand angepflanzt hatte, alle etwa gleich alt waren. Es war unvorstellbar, dass sie ohne jede Erde auf den schroffen Felsen wachsen konnten. Und doch waren sie irgendwann dort entstanden. Zuvor hatte es nur kahlen Fels gegeben, der sicher aus einem guten Grund kahl gewesen war. Noch atemberaubender als die Sicht auf den Canyon war jedoch Arturos Fahrstil. Der Mönch heizte mit so einem Affenzahn um die engen Kurven, dass Heiko, der im hinteren Teil des Wagens saß ganz schlecht wurde.

Als sich die Schlucht etwas öffnete und die Berge flacher wurden kamen wir in einen kleinen Ort namens Potes. Hier hielten wir an, da der Mönch für das Abendessen noch etwas einkaufen musste. Heiko und ich hatten 20 Minuten Zeit, um uns den Ort anzusehen, Arturo ging in den Supermarkt und der zweite Mann bewachte das Auto, das die ganze Zeit über weiterlief. Als wir uns wieder auf dem Parkplatz trafen, hatte der Mönch noch nicht alles bekommen, was er brauchte. Wir fuhren an eine andere Stelle des Ortes, er sprang heraus und kam kurz darauf ohne weitere Einkäufe zurück. Der Laden hatte geschlossen. Also ging es noch ein Stück weiter. Diesmal war es der zweite, der heraussprang um die Besorgungen zu machen. Arturo fuhr indessen zu einem Kiosk um eine Zeitung zu holen. Dabei hätte er um ein Haar den Motor ausgemacht, konnte sich aber gerade noch bremsen. Dann sammelten wir den Einkäufer wieder ein und fuhren in den nächsten Ort. Nicht jedoch ohne noch drei Mal anzuhalten, um jemanden zu grüßen oder kurz noch etwas abzuklären. Arturo kannte hier wirklich jeden. Der nächste Halt war ein Haus in einem Nachbardorf, in dessen Garten einige der Jungs Zwiebeln pflanzten. „Ich muss nur kurz schauen, ob die Jungs auch wirklich arbeiten!“ sagte Arturo und sprang abermals aus dem Auto. Die Jungs hatten tatsächlich ordentliche Arbeit geleistet. Der ganze Garten war voll von frisch gepflanzten Zwiebeln, die nun noch gegossen wurden.

Weiter ging es in den nächsten Ort, um dort Tierfutter in einer Zoohandlung und Tabak in einer Bar zu kaufen. Dann kamen wir wirklich in Arturos Haus an. Ursprünglich hatten wir gedacht, dass sich der Ausflug vor allem deshalb lohnte, weil wir morgen ein Kloster in der Nähe besuchen konnten, in dem ein Stück des Kreuzes von Jesus Christus aufbewahrt wurde. Doch allein die Fahrt war bereits so interessant und eindrucksvoll gewesen, dass sich das Kloster echt anstrengen musste, wenn es damit konkurrieren wollte. Das Haus in dem Arturo und seine Jungs wohnten war ein altes Steingebäude aus dem Mittelalter, dass sie renoviert und weiter ausgebaut hatten. Im Garten pflanzten sie alles an, was sie zum Leben brauchten und noch etwas mehr, dass sie verkaufen konnten. Außerdem hielten sie Hühner und Schweine. Nicht irgendwelche Schweine, sondern die größten, die ich je gesehen habe.

Früher hatten sie jeden Freitag ihr eigenes Brot gebacken, doch Arturo hat einige Probleme mit dem Rücken und seit dem machen sie es nicht mehr. Normalerweise leben 8 junge Männer hier, von denen einer jedoch in Santander arbeitet und zwei außer Haus in der Umgebung wohnen. Die anderen fünf lernten wir beim Abendessen kennen. Doch davon berichte ich morgen.

Spruch des Tages: Es ist unglaublich, was alles in einen einzigen Tag passt.

Höhenmeter: 530 m Tagesetappe 16,5 km Gesamtstrecke: 2618,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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