Tag 1297: Rannoch Moore

von Heiko Gärtner
27.12.2017 07:55 Uhr

Was für ein Tag!

Heute war definitiv wieder einer jener Tage, die in unsere Memoiren eingehen! Nicht unbedingt als besonders positiv, aber als besonders ereignisreich und als einer der anstrengendsten und härtesten unserer Reise. Hinter uns liegen rund 45km Wegstrecke, von denen uns 5km mitten durch einen Sumpf, 10km auf einer steil auf- und abführenden Schotterstraße und 13km entlang einer vielbefahrenen Hauptstraße. Unsere Ankunftszeit in unserem Zielort betrug 20:15 Uhr, unsere gesamte Ausrüstung ist nass und schlammig und unsere Beine fühlen sich an, als wäre ein LKW darüber gefahren. Obwohl ich nun schon mehrere Stunden geschlafen habe, bin ich noch immer so müde und fertig, dass ich beim Schreiben kaum die Augen offen halten kann. Man kann also sagen, der Tag war nicht ohne!

der echte Hogwardsexpress

Dabei begann er wie die meisten unserer Hadcore-Tage ganz entspannt mit einem Frühstück bei Jenny und Bill im Café der Rannoch Station. Jenny war auf dem Sprung um den Zug nach Glasgow zu nehmen, von wo aus sie nach London weiter musste. Bill hingegen war in die Vorbereitungen für ein Event am Abend vertieft, bei dem sich rund 60 Personen in der kleinen Teestube versammeln sollten, um traditioneller, schottischer Dudelsackmusik zu lauschen. Man sah sie nicht mehr oft und wenn dann meist als Touristen Attraktion, aber so hin und wieder gab es die alten Traditionen hier doch noch. Auch Schottenröcke wurden von den Männern noch immer zu besonderen Anlässen, wie Hochzeiten, Konfirmationen oder Beerdigungen getragen.

FernwanderungZum Abschied durften wir noch einige Stücke des berühmten Kuchens mitnehmen, die einige Stunden später zum Highlight des Tages werden sollten.

     

Die Straße, die uns hier her geführt hatte, endete direkt am Bahnhof. Von nun an mussten wir zunächst auf einem Forstweg weiter, der uns durch ein langgezogenes Waldstück oberhalb eines Sees führte. Dieser Wegabschnitt war einer der schönsten in ganz Großbritannien. Die dichten Fichten boten Schutz vor dem Wind, der Boden war verziert von Tierspuren und hin und wieder tauchten kleine, versteckte Tümpel und Teiche im Unterholz auf. Es war kaum vorstellbar, dass dieses letzte Stück lebende Natur bereits in einem Jahr verschwunden sein sollte. Bill hatte uns erzählt, dass die Abholzung des letzten Waldes in der Gegend bereits fest geplant war. Dank ihm verstanden wir nun auch das System etwas besser, das hinter dem ganzen Wahnsinn steckte, dem wir in diesem Land auf so vielfältige Weise immer wieder begegneten.

wald

Haltet euch fest!

Schottland befindet sich zu knapp 90% im Privatbesitz von nur etwa 200 Menschen!

Praktisch das ganze Land mit Ausnahmen der Städte und der regulären Straßen ist also in privater Hand und wird unter einer kleinen Gruppe von Elitefamilien aufgeteilt, die alle zusammen nicht einmal ein durchschnittliches Dorf hier füllen würden! Der Grund dafür ist das alte, königliche Rechtssystem, nach dem der Besitz einer Familie immer vom Vater an den ältesten Sohn weiter gegeben wurde. Dabei achtete man hier in Schottland offenbar penibel darauf, keine Ländereien zu zerteilen, sondern den Grundbesitz eher durch gezielte Vermählungen noch weiter zu vergrößern. Ist das nicht Wahnsinn? Dies erklärte nun so ziemlich alles, was wir an Kuriositäten erlebt hatten. In jedem anderen Land wurden Straßen so gebaut, dass sie sich ins Gelände einfügten. Man wählte also stets die kürzeste, ebenste und pratischste Strecke aus, um eine Straße zu legen. Hier hingegen achtete man auf keines dieser Kriterien. Wenn jedes Land, durch das eine Straße führte einem einflussreichen Privatmenschen gehörte war das natürlich auch klar, denn dieser wollte so wenig von seinem Land opfern wie möglich. Also verlaufen die Straßen hier nicht so, dass es für den Nutzer am angenehmsten ist, sondern für den Grundstücksbesitzer am wenigsten Nachteile hat. Es erklärt auch, warum die Fahrradwege an einigen Stellen so großartig gelegt wurden und dann plötzlich und unvermittelt aufhören und auf die Hauptstraße zurückführen, obwohl sich am Gelände selbst nichts verändert hat und es keinen erkennbaren Grund dafür gibt. Offensichtlich mussten immer wieder einige Gutsbesitzer dabei sein, die sich gegen ein Wegerecht auf ihrem Land vollkommen versperrten. Es erklärte, warum es hier so immens riesige Areale gibt, die vollkommen unzugänglich sind, während sich die Menschen auf winzigen Flächen zusammen pferchen.

Und es erklärt, warum es möglich ist, dass das Land Schritt für Schritt nahezu komplett entwaldet wird, ohne dass jemand etwas dagegen sagt. In ganz Europa macht man sich Gedanken über die Zerstörung des Regenwaldes, die illegalen Rodungen in Rumänien und die Massenabholzung in Kanada. Das sich die Schottischen Highlands innerhalb von ein paar Jahrzehnten von einem dicht bewaldeten Naturreservat in ein karges, lebloses Ödland verwandeln, darüber hingegen spricht kein Mensch. Warum die Großgrundbesitzer hier so rücksichtslos wüteten, war uns jedoch noch immer nicht klar. Es waren Ländereien, die sich seit vielen Generationen im Familienbesitz befanden und stets vom Vater an den ältesten Sohn weiter gegeben werden. Und nun holzt man sie vollständig ab, obwohl man weiß, dass Wind und Regen, jede fruchtbare Erde für immer oder zumindest für Jahrtausende abtragen und womit jede neue Aufforstung unmöglich machen würden. Nach mehreren Jahrhunderten, in denen diese Landareale gehegt und gepflegt wurden, bist du also nun derjenige, der sie vernichtet und für alle zukünftigen Generationen nahezu wertlos macht. Und das alles nur, um noch ein paar Millionen Pfund mehr mit dem Holzverkauf auf einen Schlag zu machen, als man es mit einer selektiven und nachhaltigen Forstwirtschaft tun könnte? Das ergibt doch keinen Sinn? Wenn es einige der Großgrundbesitzer tun, kann man es vielleicht noch als fahrlässige Dummheit ansehen und akzeptieren. Aber alle? Und das obwohl man die Negativfolgen dieses Wahnsinns bereits seit Jahrzehnten genau beobachten kann? Das legt ja fast den Schluss nahe, als wollten die Verantwortlichen die Zerstörung ganz bewusst herbei führen. Als ginge es ihnen gerade darum, das Land karg und unwirtlich zu machen und die lebendige Natur so gut wie möglich zu zerstören. Die Frage war nur: Warum sollte jemand so etwas bewusst wollen?

Nach etwa 5km stießen wir an einen Punkt, der die zweite Form des Privatbesitz-Wahnsinns deutlich machte. Denn der Besitzer des nun vor uns liegenden Areals mochte nicht nur keinen Wald, er mochte offensichtlich auch keine Menschen. Obwohl es hier bereits Straßen und Rüttegassen gegeben hatte, um die gerodeten Bäume abzutransportieren, hatte es sich dazu entschlossen, keinen Weg und keine Straße in seinem Gelände zuzulassen. Für die nächsten 5km gab es nun nur noch die Strommasten, als Orientierungspunkte, an denen man sich querfeldein mitten durch den Sumpf schlagen musste. Hin und wieder gab es Jeep-Spuren, oder Trampelpfade an die man sich halten konnte, doch diese führten meist nur dazu, dass der Untergrund noch tiefer und stärker aufgeweicht war, so dass man noch mehr im Schlamm versank. Bereits nach zehn Metern sahen wir aus wie die Sumpfmonster. Die Füße schwammen im Wasser, der Schlamm hatte bis auf die Oberseiten unserer Wagen gespritzt und überall baumelten Torfreste und halb verweste Pflanzenfasern von uns herab. Das gute daran war, dass es nun egal wurde, wohin wir traten. Nasser und schlammiger konnte man einfach nicht mehr werden. Hin und wieder wurde der Untergrung so glitschig, dass man den Halt unter den Füßen verlor, ausrutschte und in den Schlamm fiel. Weite Strecken kamen wir nur voran, wenn wir einen Wagen stehen ließen und den anderen zu Zweit durch Schlammlöcher und über Rinnsale, Steine und Erdhuckel wuchteten. An einigen Passagen mussten wir die Wagen sogar über kleine Flüsse hinweg tragen was meist nicht möglich war, ohne mindestens einmal knöcheltief ins eiskalte Wasser zu treten.

Nach rund zwei Kilometern waren wir so fertig, wie sonst nach einem 30km Marsch durch die Berge ohne Pause. Dadurch ließ langsam auch die Konzentration nach und je mehr ich meine Kraft schwinden spürte, desto öfter kam es vor, dass ich die Kontrolle über meinen Wagen verlor und gemeinsam mit ihm seitlich ins Moorwasser stürzte. Einen kleinen Streckenabschnitt krabbelte ich sogar auf Knien weiter, da meine Beine nachgegeben hatten und es zu glatt und zu steil war, um wieder aufzustehen. Aber was ein echter Mönch ist, legt seine Pilgerreiche auch schonmal auf Knien zurück.

Es dauerte rund drei Stunden, bis wir zum ersten Mal etwas in der Ferne erblicken konnten, das wie der Anfang unserer Straße wirkte. Jetzt mussten wir nur noch an einem steilen Abhang entlang und einen ebenso steilen Hügel hinauf und schon waren wir am Ziel. Auf die letzten 50 Meter wäre ich dann allerdings fast noch im Moor versunken. Man soll eben nicht schon seinen Sieg feiern, wenn man noch nicht an der Ziellinie angekommen ist. Und man soll vor allem nicht unaufmerksam werden, nur weil man glaubt, es gleich geschafft zu haben.

Aus meinem „Juchu!“ wurde ein „Juch-Ouuuu!“ und ich steckte mit beiden Füßen bis zu den Waden im Morast, während mein Wagen hinter mir unheilsverheißende Gluckergeräusche von sich gab und langsam immer kleiner wurde. Gut dass wir vor einigen Jahren für einen Fernsehauftritt schon ein paar Erfahrungen im Umgang mit Sumpf und Moor machen konnten und ich noch gut genug wusste, wie ich mich befreien konnte.

Als wir die kleine, steinige Schotterstraße erreicht hatten, war es, als hätten wir den Gipfel des Mount Everest erklommen. Vollkommen durchnässt, schlammig und erschossen aber glücklich ließen wir uns auf den kleinen Parkplatz fallen, der das Ende der Straße markierte und packten unseren Gipfelkuchen aus. Hier schmeckte er sogar noch besser als am Vorabend in der Teestube. Hinter uns lag nun das schier endlose Sumpfgebiet und um uns herum befand sich nichts als die Berge. Wir waren im Niemandsland und für einen Moment hatten wir das Gefühl, als hätten wir die Herausforderungen des Tages nun gemeistert. Der Rest war ein Kinderspiel. Nur noch etwa 10km auf der Schotterstraße bis zu einer Gaststätte im Tal, wo wir mit etwas Glück vielleicht wieder genauso gut aufgenommen werden würden, wie gestern von Bill und Jenny. Wenn nicht, mussten wir eben noch einmal 15km und 500 Höhenmeter überwinden, um in den nächsten Ort zu kommen. Doch im Moment schien es, als könnten wir alles schaffen.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Ab durch den Sumpf

Höhenmeter: 240 m

Tagesetappe: 23 km

Gesamtstrecke: 24.101,27 km

Wetter: Bedeckt und regnerisch

Etappenziel: Pfarrhaus des Katholischen Pfarrers, Magherafelt, Nordirland

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare