Tag 1298: Glencoe
Fortsetzung von Tag 1297:
Womit wir jedoch nicht gerechnet hatten, war die immer wieder überraschende Ambivalenz dieses Landes. Denn nach der Gewalttour durchs Niemandsland kamen wir nicht etwa in eine ruhige und abgeschiedene Gegend, sondern mitten in ein Hardcore-Touristengebiet. Die Gaststätte am Ende unseres Weges, auf dessen Unterstützung wir gebaut hatten, lag direkt am Westhighland Way, der auch hier oben noch immer nichts an seiner Popularität eingebüßt hatte. Direkt hinter der Wirtschaft verlief die Hauptstraße, auf der die Autos vorbeischossen wie motorisierte Pfeile. Der Lärm war bereits hier nahezu unerträglich, da sich jedes noch so feine Geräusch von den Berghängen widerspiegelte. Und doch war der Platz übersät mit Zelten. Seit wir den Westhighlandway verlassen hatten, hatte er sich nun rund 120km fortgesetzt und doch konnte man noch immer keine Verbesserung erkennen. Noch immer war er überlaufen und noch immer führte er über jede Bergspitze, nur damit man am Ende doch wieder an der Hauptstraße landete. Nach dem, was wir hier sahen, konnten wir gleich noch weniger verstehen, warum er so populär war.
Fest stand jedenfalls, das wir hier in der Wirtschaft nicht einmal nach einem Glas Wasser fragen brauchten. Einen Schlafplatz zu bekommen war vollkommen unmöglich und auch eine Frage nach Essen wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Blieb also nur noch die Wanderung ins 15km entfernte Dorf. Doch auch die machte Bedenken, denn wenn dieses Dorf ebenfalls direkt am Wanderweg lag, standen unsere Chancen, dort einen entspannten, hilfsbereiten Menschen zu finden, der nicht bereits vollkommen genervt vom Wandertourismus war, auch nicht gerade gut.
Da uns die Aktion im Sumpf deutlich mehr Zeit gekostet hatte als geplant, war es nun bereits 17:00 Uhr. Mit dem heftigen Anstieg in der Mitte lag die voraussichtliche Ankunftszeit also irgendwo zwischen 20:30 und 21:00 Uhr. Mit anderen Worten: Wir kamen spät an, hatten kaum Aussicht auf Erfolg und befanden uns in einer Gegend, die so Touristisch war, dass einem schon beim Zusehen schlecht wurde. Optimal, also! Das einzige was jetzt noch fehlte war Regen. Oh, nein, da war er ja schon!
Laut Karte sollte uns der Wer einen guten Kilometer vor Erreichen der Hauptstraße auf auf der alten, stillgelegten Militärstraße durch das Tal führen, bis wir die Fahrradroute erreichten, die uns dann in schmalen Serpentinen über den Bergpass führen sollte. Soweit die Theorie. Denn in der Praxis sah das leider ganz anders aus. Die Militärstraße war nichts mehr als ein Trampelpfad mit einigen halb verrotteten Pflastersteinen, die ihn nur noch unebener und unzugänglicher machten. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu pflegen und instand zu halten, doch das wollte man ganz offensichtlich nicht. Aus irgendeinem Grund schien es den Schotten ganz besonders am Herzen zu liegen, ihren Gästen und Touristen nicht das geringste zu bieten. Wo es in anderen Ländern Wanderwege, Aussichtspunkte, Picknickplätze und Freizeitangebote gab, gab es hier Hauptstraßen mit bewusst lautem Asphalt an denen kleine Parkplätze zum Anhalten und Fotografieren lagen. Das war alles, was wir an Touristenattraktionen erkennen konnten.
Nachdem die Militärstraße für uns aus dem Rennen war, blieb uns nichts anderes übrig, als die nächsten drei Kilometer direkt an der Straße entlang zu wandern. Heiko setzte sich die Kopfhörer auf, um den Lärm etwas ausblenden zu können und dann ging es los.
Das Tal selbst war ein Traum. Es war ein enger Canyon zwischen steilen und beeindruckend geformten Basaltfelsen, die teilweise die bekannten Basaltsäulen ausgebildet hatten. Von allen Ecken und Enden schoss das Wasser in größeren und kleineren Wasserfällen heran strömte dann im Fluss in Richtung Meer. Man konnte sich noch gut vorstellen, wie schön es hier einmal gewesen sein musste, als nur das kleine Militärsträßchen existiert hatte. Heute jedoch, war das Tal durch den Dauerverkehr vollständig zerstört worden. Der permanente Lärm trieb sofort einen Fluchtinstinkt in uns an, der nur noch sagte: „Raus hier! Raus hier! Bloß raus hier!“
Dabei wäre der Verkehr an sich gar nicht nötig gewesen, denn er bestand zu rund neunzig Prozent aus gelangweilten Touristen, die in Ermangelung an Alternativen hier auf und abfuhren um Fotos von den Felsen zu machen. Menschen aus aller Welt waren dabei. Deutsche, Holländer, Österreicher und Schweizer zum Beispiel. Warum Schweizer und Österreicher hier Urlaub machen war sogar Jenny vom Bahnhofscafé ein Rätsel gewesen. „Die Schweiz unterscheidet sich eigentlich kaum von unseren Highlands“, meinte sie dazu, „Nur dass es dort echte Berge gibt und nicht nur Hügel wie bei uns und dass das Wetter dort deutlich besser und angenehmer ist. Ich habe nie verstanden, was die Menschen antreibt, trotzdem hier ihren Sommerurlaub zu verbringen!“ Langsam stellten wir uns diese Frage ebenfalls.
Doch nicht nur die Schweizer waren für uns unerwartet. In den Autos sahen wir auch Chinesen, die mit ihren typischen Gesichtsmasken zum Schutz vor gefährlichen Keimen und Bakterien reisten. Wir sahen Araber mit langen Bärten und Muslimische Frauen mit Burka, die aus ihren Autos heraus Handyfotos von den Felsen oder besser gesagt vom Nebel und von ihren beschlagenen Autoscheiben machten. Einige, wenige Touristen stiegen an den Parkplätzen aus, wanderten vierzig Meter weit zu einem Wasserfall, machten ein schnelles Selfie mit dem Handy und eilten in ihr Auto zurück, um der Nasskälte zu entfliehen. Niemand hier sah aus, als würde er auch nur eine Sekunde davon genießen. Es ging rein um die Beweisfotos, mit denen man später vor den Freunden prahlen konnte, was für tolle Orte man bereist hatte. Verstehen konnten wir dieses Konzept nicht. Wenn wir dabei noch einmal an unsere vergangenen Erfahrungen in Touristenregionen dachten, fiel auf, dass der Grundmechanismus immer sehr ähnlich war. Sobald eine Gegend touristisch war, wurde sie unangenehm, stressig und freudlos. Verschwand der Tourismus wurde es wieder schöner. Langsam drängte sich uns die Frage auf, ob man als Tourist dann überhaupt irgendetwas genießen konnte, oder ob es immer nur um die Idee des Urlaubs ging, die in der Umsetzung aber keine Freude, keine Entspannung und keinen Genuss brachte. Lohnte es sich da überhaupt in den Urlaub zu fahren, wenn man am Ende genervter und gestresster war, als durch die Arbeit. Wie oft hatte man schon den Satz gehört: „Eigentlich bräuchte ich jetzt gleich noch einmal Urlaub, um mich von dem letzten zu erholen!“ Das ist doch eigentlich absurd, oder?
Nachdem wir die drei Kilometer Dauerbeschallung durch die vorbeirasenden Autos überstanden hatten, erwartete uns gleich die nächste Überraschung. Die Fahrradstraße, die über den Bergpass in unser Zieldorf führen sollte, war nichts weiter als ein Trampelpfad, der mit unseren Wagen ganz und gar unpassierbar war. Es blieb uns also keine Wahl, als den Plan zu verwerfen und weiter der angenehmen Hauptstraße zu folgen. Erst nach weiteren 10 Kilometern in denen wir uns ein gutes Dutzend mal anhupen und fast überfahren lassen mussten, konnten wir seitlich in eine Nebenstraße abbiegen. Auch hieran konnte man noch einmal erkennen, dass diese Art von Urlaub nicht ganz so ideal sein kann, wie man glauben mag, denn obwohl die Fahrer ja nirgendwo hin wollten, sonden der Fahrt selbst wegen unterwegs waren, rasten sie als wäre der Teufel hinter ihnen her. Wer hier als Radfahrer oder Fußgänger auf Umsicht, Rücksicht oder Vorsicht hoffte, musste wahrscheinlich bis zum nächsten Winter warten.
Rund 100m vor unserer Ausfahrt tauchten bereits die ersten Schilder auf, die ankündigten dass auch unser neuer Zielort nur so vor Tourismus wimmelte. Drei Campingplätze, zwei Hostels, vier Bed & Breakfast und eine Jugendherberge sollten allein auf dem Weg in den Ort liegen. Und wieder mussten wir feststellen, dass die Grundhaltung der Einheimischen gegenüber Gästen vor allem eine geschäftige, aber ganz und gar keine freundliche war. Drei Menschen boten den Reisenden ein Stückchen Wiese für 12 bis 15 Pfund pro Nacht an und schon war im kompletten Umkreis das Zelten strikt verboten. Nicht nur dass man es einmal erwähnte, nein an jedem Zaun, an jedem Tor, und an jedem fünften Baum hingen große Schilder mit „Betreten, Feuer machen und Zelten verboten!“ Einem ankommenden Gast so eine Schilderflut hinzuwerfen gab sofort das Gefühl, hier wirklich gerne gesehen und willkommen geheißen zu sein.
Vor einigen Wochen hatten wir einen jungen Engländer getroffen, der von John o`Groats nach Landsend, also vom nördlichsten zum südlichsten Punkt Britanniens wanderte. Er war körperlich wie mental ziemlich am Limit gewesen und man konnte ihm ansehen, dass er eine sehr harte Zeit hinter sich hatte. Er hatte uns erzählt, dass er stets alleine unterwegs war und dass die anderen nichts mit ihm zu tun haben wollten, weil er anders war als sie. Damals hatten wir nicht verstanden, was er damit meinte, doch nun leuchtete es uns langsam ein. Er und auch wir gehörten einfach nicht zu dem campenden Volk, das von Zeltplatz zu Zeltplatz reiste um sich neben der Hauptstraße zwischen all die anderen Zelte zu quetschen, sich zu betrinken und auf die Suche nach einem schnellen Urlaubsflirt zu machen. Auf der einen Seite war es ja klasse, dass die Menschen trotz allem überhaupt noch rausgingen und sich zumindest ein bisschen mit der Natur beschäftigten. Und vieles am Camperleben hatte ja auch etwas sehr positives. Das gemeinsame Grillen zum Beispiel oder das sitzen am Lagerfeuer am Abend. Und doch spürten wir hier keinen Bezug. Es war vor allem die Vorstellung, die einen Urlaub auf diese Weise romantisch erscheinen ließ. Umgeben von schöner Natur in der schottischen Wildnis, ausgedehnte Spaziergänge in trauter Zweisamkeit und abends gemütlich am Lagerfeuer sitzen und die Sterne beobachten. Was man hingegen bekam war ein Land in dem man zwischen Zäunen, Straßen und Verbotsschildern eingesperrt war, in dem es nahezu immer regnete und in dem man allein für das Feuerholz so viel Geld zahlen musste, dass es nicht für mehr als ein winziges Feuerchen reichte, dass keine Wärme, dafür aber jede Menge Rauch abgab. Und bei all dem war man umringt von Mücken, Bremsen und diesen kleinen Minifliegen, die ebenfalls einen fiesen Juckreiz auslösten. So richtig romantisch kam uns das noch nicht vor.
Trotz der vielen Übernachtungsmöglichkeiten war Glencoe kein echter Touristenort. Er war ein Dorf, das außer einem alten Schuppen mit der Aufschrift „Museum“ nichts zu bieten hatte. Nicht einmal Essen gehen konnte man hier richtig.
Für uns wurde er jedoch zur Rettung des Tages, denn auch wenn die Einheimischen nicht gerade freundlich waren und man uns am liebsten abgelehnt hätte, war das Gefühl moralischer Verpflichtung am Ende doch größer und wir bekamen einen alten Gemeindesaal zum Übernachten. Ohne verkäuferisches Geschick hätte es dieses Mal allerdings nicht funktioniert, da die Dame, die für die Kirche zuständig war, die Meinung hatte, dass kurz vor neun Uhr etwas zu spät sei, um noch nach Hilfe zu fragen. Entgegen ihrer festen Überzeugung und mit dem einzigen Hinweis, dass wir morgen um 9:30 Verschwunden sein mussten, schloss sie uns aber dennoch die Tür auf.
Spruch des Tages: Bei so viel Verkehr ist auch der schönste Canyon kein Genuss.
Höhenmeter: 390 m
Tagesetappe: 44 km
Gesamtstrecke: 24.145,27 km
Wetter: Bedeckt und regnerisch
Etappenziel: Pfarrhaus des Katholischen Pfarrers, Pomeroy, Nordirland
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