Gijón

von Franz Bujor
18.05.2014 20:55 Uhr

 

Zunächst einmal möchte ich mich gleich vorweg dafür entschuldigen, dass dieser Bericht wahrscheinlich wieder etwas länger wird. In den letzten Tagen haben sich viele Leser über die langen Berichte beschwert, weil es so viel Zeit kostet, sie zu lesen. Das Problem ist, dass hier in Spanien einfach viel mehr passiert als in Frankreich, so dass es auch mehr zu erzählen gibt. Die Schuld trifft also nicht uns, sondern Spanien und bei ihm haben wir uns auch schon darüber beschwert.

Unsere Nacht in Peon in der Sakristei der Kirche war gut, wenngleich wir recht früh aufstehen mussten, um rechtzeitig nach Gijon zu gelangen. Das spannende an diesem Schlafplatz war, dass wir tatsächlich in der Kirche schliefen, quasi direkt neben dem Altar. Einen So heiligen Schlafplatz hatten wir selbst auf unserer Reise bislang noch nicht. Direkt über unseren Köpfen hing ein Apparat, der über Funk die Kirchenglocken steuerte. Hier konnte man digital die Zeit des Bimmelns einprogrammieren und dann gab es jedes Mal ein leises Knackgeräusch, bevor das Signal den Glockenschlag auslöste. Da sag nochmal einer, die Kirche sei nicht modern!

Universitä Gijon

Universitä Gijon.

 

Pfarrer Enrique hatte am Vorabend seinen alten Studienkollegen in Gijon angerufen und ihm von unserer Reise erzählt. Unser Schlafplatz war damit sicher, nur mussten wir dafür vor 14:00 in der Iglesia de Jove in Gijon sein. Danach hatte der Pfarrer einen Termin nach dem nächsten und war kaum mehr zu erreichen. Laut unserem Wanderführer waren es nach Gijon noch ca. 9km und von dort aus brauchten wir noch einiges an Zeit, um die Kirche zu finden. Wenn wir um 9:00 das haus verließen, müssten wir also gut hinkommen. Soweit der Plan.

Die Realität sah etwas anders aus. Die 9km von Peon bis zur Stadtgrenze von Gijon führten über einen Berg, der fast genauso hoch war wie der, den wir gestern überwunden hatten. Doch damit waren wir noch lange nicht in der Stadt, sondern lediglich an einem Campingplatz, der zum äußersten Randbezirk gehörte. Bis ins Zentrum waren es von hier aus noch einmal gute 7 Kilometer Luftlinie, wobei sich der Jakobsweg kreuz und quer durch Parkanlagen, Golfplätze und Vororte schlängelte. Es war ein schöner Weg, der lange Zeit nicht vermuten ließ, dass man gerade dabei war, ins Zentrum der größten Stadt Asturiens zu wandern. Doch langsam hatten wir die Befürchtung, dass es zeitlich doch etwas knapp werden könnte.

Auf halbem Wege zwischen Campingplatz und Innenstadt lag die chemische Universität der Stadt, ein riesiger, schlossartiger Komplex, der erst in den 1970ger Jahren gebaut wurde, jedoch aussah, als stammte er aus dem Mittelalter. Der Bau musste hunderte von Millionen gekostet haben und das in einem Land, von dem jeder sagte, es lebe komplett an der Armutsgrenze. Ein bisschen wunderten wir uns darüber schon, doch viel Zeit zum Nachdenken blieb uns leider nicht.

 

Als wir den Stadtkern erreichten, fragten wir eine ältere Dame nach dem Weg zur Iglesia de Jove. Die Frau bekam fast einen Herzinfarkt und teilte uns entsetzt mit, dass es viel zu weit zum Laufen sei. Das könne niemand schaffen! Wir sollten lieber den Bus nehmen. Es kostete mich einiges an Überzeugungskraft, sie dazu zu bringen, uns den Weg zu erklären. Letztlich mussten wir einfach nur immer weiter am Strand entlang bis zum Hafen. Es seien etwa vier Kilometer, sagte sie. Am Ende des Strandes fragten wir erneut nach dem Weg und wieder hieß es, dass es von nun an noch mindestens vier Kilometer waren. Die gleiche Information erhielten wir dann eine gute halbe Stunde später noch einmal. Schließlich hieß es jedoch: „Nur noch ein Stück weiter die Straße entlang!“ Wir erreichten eine Kirche, in der gerade der Gottesdienst beendet war. Freudig und erleichtert suchte ich den Pfarrer und musste feststellen, dass es sich um die falsch Kirche handelte. Die richtige wäre aber nur zwei oder drei Kilometer weiter am Hafen entlang.

Um Punkt 14:00 kamen wir dann an der richtigen Kirche an. Die Beerdigung, die hier abgehalten wurde, stand kurz vor dem Ende. Der Leichenwagen stand bereits mit geöffnetem Kofferraum vor der Tür und einige Trauergäste waren bereits im Freien. Uns fiel auf, dass die meisten Anwesenden farbenfrohe Alltagskleidung trugen. Später erzählte uns der Pfarrer, dass es in Spanien üblich war, dass nur die engsten Familienangehörigen schwarz trugen. Diese hatten während der Beerdigung meist auch große Sonnenbrillen auf, damit man nicht sehen konnte, wenn sie weinten. Es überraschte uns nicht, dass es hier zur Tradition gehörte, selbst bei einer Beerdigung seine Gefühle so gut es ging zu verbergen. Als sich die Menge etwas verteilt hatte hielten wir Ausschau nach dem Pfarrer. Er war ein kleiner, freundlicher Mann um die 50 und konnte uns sofort zuordnen. Er selbst musste die Trauergemeinde jedoch noch zum Friedhof begleiten und so bat er eine Dame, sich um uns zu kümmern. Diese gab uns einen Raum, in dem wir unsere Wagen unterstellen konnten und führte uns dann in eine nahegelegene Bar, wo wir gemeinsam auf den Pfarrer warteten. Sie war die Mutter des Barbesitzers und gleichzeitig die Chefin der Caritas in diesem Stadtteil. Nach rund zwanzig Minuten fuhr der Leichenwagen vor und der Pfarrer stieg aus. Er lud uns zum Essen in ein nahegelegenes Restaurant ein und wir unterhielten uns für die nächsten zweieinhalb Stunden. Unser Gastgeber hieß Juan und war aus genau den gleichen Gründen Pfarrer geworden, wie der Geistliche, den wir in Castro getroffen haben. Es war nie sein Plan gewesen, Pfarrer zu werden, doch irgendwann hatte er eine Sinnkriese und suchte die Lösung im Pfarrerseminar. Auch er war zuerst wieder weggeschickt worden um sich noch einmal zu überlegen, ob er wirklich davon überzeugt war, dass dies sein Weg sei. Anschließend hatte er sich von seiner Freundin getrennt und hatte die Ausbildung zum Pfarrer absolviert.

In den darauffolgenden Jahren war er als Missionar und Wohltäter nach Afrika gegangen. Er hatte in Togo, im Congo und in einigen anderen Ländern gelebt und dort getan, was er tun konnte. Von der Arbeit im Altenheim, über Hilfsprojekte zur Wasserversorgung und Armenspeisungen bis hin zur Pflege im Krankenhaus hatte er alles übernommen, was nötig war um den Menschen zu helfen. Dabei hatte er auch versucht, ihnen den Weg von Jesus aufzuzeigen, doch dies war eher eine sekundäre Arbeit gewesen. Nach zehn Jahren, in denen er sich um alles uns jeden gekümmert hatte, außer um sich selbst, musste er schließlich nach Spanien zurückkehren. Seit Körper schickte ihm deutliche Signale, dass es an der Zeit war, damit aufzuhören, sich immer und überall für andere aufzuopfern. Er hatte sich so gut wie jede Krankheit eingefangen, die man in Afrika bekommen konnte, angefangen bei Malaria, über Typhus und Cholera bis hin zu Parasiten und Ruhr. Als er zurück nach Spanien kam, brauchte er zunächst eine Kur um sich von all dem wieder zu erholen. Hier in Jove, dem Hafenbezirk von Gijon hatte er die Möglichkeit, eine Teilstelle anzunehmen, so dass er wieder arbeiten, sich aber weiterhin auskurieren konnte. Inzwischen arbeitete er wieder vollständig und dass mit einem Termindruck, der auch nicht gesund sein konnte. Allein Heute hatte er bereits eine Messe und eine Beerdigung abgehalten. Nach dem Essen mit uns hatte er Kommunionsunterricht, anschließend zwei weitere Beerdigungen, dann eine Konferenz, dann die Abendmesse und schließlich eine weitere Versammlung. Vor 22:00 oder 22:30 würde er nicht zu hause sein.

Panorama-Blick über die bergige Küstenlandschaft von Asturgien

Panorama-Blick über die bergige Küstenlandschaft von Asturgien.

 

Juan war bei seiner Gemeinde mehr als nur beliebt und dass war gut verständlich. Er war lustig, hilfsbereit, sehr sympathisch und hatte für jeden immer ein offenes Ohr. Erst später wurde uns klar, wie sehr auch er uns spiegelte. Die vielen Krankheiten in Afrika hatte er nicht umsonst bekommen. Sie waren ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es nicht der Sinn seines Lebens sein konnte, nur für andere zu leben und ihr Leid mitzutragen. Auch wir ertappten uns immer wieder dabei, dass wir die Verantwortung für das Leben anderer übernehmen wollten. Sobald wir jemanden sahen, der nicht glücklich war, nicht seinen Lebensweg ging oder aus irgendeinem Grund litt, wollten wir ihm auf irgendeine Art helfen. Das war natürlich meist nicht möglich und daher begnügten wir uns dann damit, uns ebenfalls schlecht zu fühlen. Doch das half weder den anderen noch uns. Mitleid ist und bleibt einfach nicht sinnvoll. Im Gegenteil, es führt dazu, dass man am Ende überhaupt nicht mehr Hilfreich sein kann. Auch für uns galt es zu lernen, im Mitgefühl zu bleiben, ohne das Leid der anderen als unser eigenes zu übernehmen.

Plötzlich sah der Pfarrer auf seine Uhr und erschrak dabei so sehr, dass er sich fast verschluckte. Bereits vor einer halben Stunde hätte er beim Kommunionsunterricht sein müssen. Doch nach dem ersten Schrecken entspannte er sich sofort wieder. Er rief die Mutter eines Schülers an und gab bescheid, dass er noch etwas brauchte. Dann bezahlte er in aller Ruhe und wir gingen gemütlich zur Kirche zurück. Auch dort stresste er sich nicht im Geringsten, sondern schäkerte zunächst noch mit einem Jungen, bevor er die Tür aufschloss. Die Eltern, die auf ihn hatten warten müssen waren leicht gnietschig. Man erkannte jedoch auch, dass es nicht das erste Mal war, dass er sie warten ließ. Sie schienen sich bereits daran gewöhnt zu haben. Als alle Kinder in der Kirche waren, wandte er sich wieder uns zu, versorgte und mit Klopapier und allem was wir sonst noch brauchten und wünschte uns dann einen schönen Stadtaufenthalt.

Um in die Innenstadt zu gelangen mussten wir nun wieder rund 6 Kilometer zurückwandern, wofür wir uns diesmal jedoch etwas mehr Zeit nahmen. An einer Statue wurden wir von einer Frau mit einem Hund begrüßt. Genauer gesagt, waren wir der Frau relativ egal, aber ihr sibirischer Wolfshund freute sich so sehr uns zu sehen, dass er gleich an mir hochsprang und seine Vorderpfoten gegen meine Brust stemmte. In dieser Haltung war er fast genauso groß wie ich und sah mir direkt in die Augen. Er war ein wunderschönes und absolut ungezähmtes Tier und ließ keinen Zweifel daran, dass er mich ohne mit der Wimper zu zucken umwerfen konnte, wenn er es wollte. Doch er verhielt sich so sanft, dass ich seine Pfoten kaum spüren konnte.

Kurze Zeit später lernten wir auf einem Berg etwas oberhalb der Altstadt eine Frau namens Izina kennen. Wieder war es Heikos Intuition, die uns zu dieser Begegnung führte. Irgendetwas an ihr schien anders zu sein, als an allen anderen Menschen in der Umgebung und wir hatten sofort den Impuls sie anzusprechen. Zunächst hielten wir sie für eine deutsche Pilgerin und fragten sie daher, woher sie den komme. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass sie hier lebte. Sie machte zurzeit ein Sabbatjahr und hatte daher nichts weiter zu tun, als das Leben zu genießen und sich selbst besser kennenzulernen. Da sie keine Pläne hatte, bot sie uns an, uns durch die Stadt zu begleiten und uns die schönsten Flecken zu zeigen. Viele waren das nicht, aber da es bereits recht spät war, waren wir darüber auch nicht böse. Zunächst führte sie uns zu einer großen Kirche in der Altstadt. Weil gerade Gottesdienst war, schlich Heiko sich unauffällig hinein, um ein Foto von innen zu machen. Dabei viel ihm die Schutzkappe der Kamera nach unten auf den Steinboden und schepperte so laut, dass sich die komplette Kirchengemeinde nach ihm umsah. Eine Französin kam auf ihn zu und fragte, ob etwas passiert sei. Heiko verneinte, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Frau ein angeregtes Gespräch mit ihm begann und dabei die anderen Anwesenden vollkommen ignorierte. Sie erzählte, dass sie sich ebenfalls auf dem Jakobsweg befand, diesen morgen jedoch beenden musste. Am Montag musste sie wieder zur Arbeit und weiter hatte sie es einfach nicht geschafft. Auch sie war aufgebrochen, um mehr über sich selbst zu lernen. Gerade jetzt hatte sie den Eindruck, dass sie kurz vor einer wichtigen Erkenntnis stand, doch da sie morgen Früh würde abreisen müssen, würde sie wohl nie ganz darauf kommen. Als sie von Heiko erfuhr, dass wir ohne Zeitbegrenzung wanderten und unsere Arbeit einfach mitgenommen hatten, sah sie ihn sehnsüchtig an. So kurz stand sie davor, zu erfahren, wer sie wirklich war und wohin sie ihr Herz führen wollte. Und doch war ihr bewusst, dass sie wahrscheinlich immer so weiterleben würde wie bisher, ohne es je ganz zu erfahren.

Unserer Stadtführerin ging es in dieser Beziehung etwas ähnlich. Nur war in ihrem Fall nicht die Zeit das Problem. Zumindest noch nicht. Ein ganzes Jahr hatte sie sich freigeschaufelt um es ganz der Frage zu widmen, wer sie wirklich vom Herzen her war. Im Laufe des Nachmittages erfuhren wir ihre Lebensgeschichte rückwärts.

Bevor sie nach Gijon gezogen war, hatte sie in einem kleinen Ort auf dem Land gelebt, um dort ihre innere Stille zu finden. Diese Stille war noch immer ein wichtiger Punkt nach dem sie suchte. Doch in der kleinen Ortschaft war es ihr anscheinend dann doch etwas zu still gewesen, so dass sie hier her gezogen war. Warum sie in einer lauten Metropole lebte, die niemals schlief, um hier ihre Innere Stimme und die Stille zu finden, verstanden wir nicht ganz.

Vor dieser Zeit hatte sie eine Therapie gemacht, bei der es darum ging alte Kindheitstraumata aufzulösen. Und noch etwas früher war sie zu ihrer Mutter gezogen um diese besser kennenzulernen und dadurch auch sich selbst besser verstehen zu können.

Dies war der Zeitpunkt, an dem wir nach den Anfängen ihrer Geschichte fragten, um sie wirklich verstehen zu können. Als sie 1 Jahr alt war, war ihr Vater gestorben. Ihre Mutter lebte ein Hippie-Leben und zog ständig von einer Kommune zur nächsten. Izina erzählte uns keine Details, aber in einigen dieser Kommunen musste sie wirklich heftige und traumatische Erlebnisse gemacht haben. Als sie sieben war, zog sie zu ihren Großeltern und wuchs von da an bei diesen auf. Irgendwann begann sie ein Studium, dass sie jedoch unvollendet wieder abbrach und später arbeitete sie als Pädagogin. Dabei stellte sie jedoch fest, dass sie den Kindern nichts mitgeben konnte, solange sie selbst nicht wusste, wer sie war. Also besuchte sie ihre Mutter um mehr über sicht zu erfahren. Das klappte zum Teil, doch nach kurzer Zeit kamen so viele Konfliktthemen auf, dass es die beiden nicht mehr gemeinsam aushielten. Erst in der Therapie gelang es ihr anschließend, einige Themen zu klären und einige alte Ängste loszulassen. Doch die Frage nach ihrer Lebenspassion und dem Ziel auf das sie hinarbeiten konnte, war noch immer genauso unklar, wie die Frage nach ihrer wahren Identität. „Dies ist die vielleicht wichtigste Arbeit, die ein Mensch machen kann!“ sagte sie, „Die Arbeit an sich selbst!“ Sie war davon überzeugt, dass sie frei leben konnte, wenn sie all ihre Kindheitstraumata verstanden und aufgelöst hatte. Dies war auch ein Weg, der in vielen Naturvölkern als Weg zu sich selbst angesehen wurde. Doch normalerweise wurde man dabei von einem Mentor oder mehreren Personen begleitet und unterstützt, die einem auf diesem schwierigen und schmerzhaften Weg weiterhelfen konnten. Wie aber wollte sie es alleine in einer großen und lauten Stadt schaffen, die niemals zur Ruhe kam?

Von der Kirche aus führte sie uns durch die Stadt in einen großen Park. Auf dem Weg dorthin trafen wir einen der beiden deutschen Pilger wieder, die wir mit Blasenpflastern versorgt hatten. Von allen Pilgern, die wir kennengelernt hatten, hätten wir mit ihm hier am wenigsten gerechnet. Die Schöpfung musste wirklich Humor haben, wenn sie uns in einer Stadt mit einer halben Million Einwohnern ausgerechnet ihn vor die Füße schickte. Er war noch immer erschöpft und mit den Kräften am Ende, behauptete jedoch, bereits seit drei Tagen in Gijon zu sein. Seine Füße waren zwar noch immer voller Blasen, doch diese waren nun bereits so klein, dass er damit wieder 40km und mehr am Tag laufen konnte. Das hatten sie die letzten vier Tage dann auch getan und waren daher bereits vor zwei Tagen hier angekommen. Da sein Kumpel am Montag jedoch wieder arbeiten musste, war Gijon ihr Endziel. Morgen würden sie den Zug zum Flughafen und dann den Flieger zurück nach Hannover nehmen. Dass er bei den 40km und den zwei Erholungstagen in Gijon geflunkert hatte sah ein Blinder mit Krückstock. Doch noch faszinierender war, dass sie bereits hier ihre Reise beenden mussten, obwohl sie uns bei unserer ersten Begegnung noch erzählt hatten, dass sie locker in Santiago einmarschieren würden. Von hier bis zum beliebten Pilgerziel sind es laut unserem Reiseführer noch 365km. Selbst wenn sie jeden Tag 10km weiter gelaufen wären, als sie es gemacht hatten, hätten sie Santiago also niemals erreichen können.

Vom Park hatte Izina nicht zu viel versprochen. Die Stadt war insgesamt alles andere als schön oder einladend und bestand nur aus hohen Wohnblöcken, Hotelbunkern und dem Industriehafen, doch der Park war eine angenehme Oase inmitten dieser Betonwüste. Es enthielt sogar einen kleinen Tierpark mit Sträußen, Pfauen, Goldfasanen und einigen anderen interessanten Vögeln. Einige von ihren waren ausgebrochen und verbrachten ihre Zeit nun damit, vor den Touristen davonzulaufen, die versuchten Fotos von ihnen zu machen. Heiko trat beim Spazierengehen fast auf eine Taube, die sich weigerte, auch nur einen Schritt zur Seite zu machen. Dass Tauben, die in einer Großstadt leben nicht unbedingt die hellsten sind, ist ja allgemein bekannt. Doch in Spanien sind sie gleich noch einmal viel dümmer als in Deutschland Erst vor kurzem hätte ich fast eine überfahren, die ihren Flügel unter meinen Wagen gelegt hatte, nachdem sie meinen Schuhen ausgewichen war. Durch den permanenten Trubel und die immense Lautstärke waren die Tiere in den Städten hier so abgestumpft, dass sie kaum mehr lebensfähig waren. Überall sonst wären sie innerhalb von Sekunden gefressen worden.

Am Abend lud uns Izina noch auf ein Abendessen in ihre Wohnung ein. Es war das erste Mal, dass wir eine spanische Wohnung von innen sehen durften. Anders als von dem deutschen Einwanderer prophezeit handelte es sich dabei nicht um ein Höllenloch sondern um eine schöne und gemütliche WG. Der einzige Haken an der Geschichte war, dass es langsam wirklich spät wurde und wir noch den ganzen Weg zurück zu unserer Kirche finden mussten. Das wäre an sich nicht einmal so schwierig gewesen, wenn sich die Einheimischen die wir immer wieder nach dem Weg fragten, in ihrer eigenen Stadt auch nur ein bisschen ausgekannt hätten. Stattdessen erklärte uns wieder jeder, dass der Weg zu weit zum Laufen war und dass wir lieber den Bus nehmen sollten. Wenn wir dann doch eine Wegbeschreibung bekamen, dann wurde uns meist haargenau erklärt, wie wir die letzten Meder vom Kreisverkehr zur Kirche gehen mussten. Die Informationen über die nächsten hundert Meter waren hingegen so spärlich, dass wir mit der ganzen Beschreibung so gut wie nie etwas anfangen konnten. Zu allem Überfluss kam hinzu, dass uns jeder auch noch in eine andere Richtung schickte. Als wir schließlich eine Straße erreichten, von der aus wir den Weg kannten, war es bereits 22:45Uhr. Vorsichtshalber rief ich unsere Pfarrer an, um bescheid zu geben, dass wir noch einige Zeit brauchten, bis wir bei ihm ankamen. Bereits am Telefon wirkte er seltsam abwesend und hatte Probleme damit, sich überhaupt an uns zu erinnern. Als wir dann vor seiner Tür standen wussten wir auch den Grund dafür.

Bereits bei unserem Treffen am Mittag hatte er den ersten Wein getrunken. Zum Essen dann einen zweiten und zum Abschluss noch einen Verdauungsschnaps. Den ganzen Tag über musste es in ähnlicher Geschwindigkeit so weitergegangen sein, denn jetzt war er so betrunken, dass er kaum mehr gerade stehen konnte. Den Schlüssel ins Schloss zu stecken um nach uns die Tür abzuschließen, war eine Herausforderung, die er kaum noch meistern konnte. Er brauchte rund vier Minuten dafür. Fast ebenso viel Kraft, Zeit und Anstrengung kostete es ihn, auf den Lichtschalter in unserem Zimmer zu drücken. Uns war bereits am Mittag aufgefallen, dass seine rote Nase auf ein Alkoholproblem hindeutete, doch dass es so schlimm war, hatten wir nicht vermutet. Der Stress in der Kirche und die Erfahrungen in Afrika mussten ihm doch mehr zugesetzt haben, als wir dachten. Er war wirklich ein liebenswerter Mann und es tat weh, ihn in diesem Zustand zu sehen. Schlagartig wurde uns bewusst, wie oft wir in Kirchen und Pfarrhäusern große Vorräte an Alkohol und Zigarren gesehen hatten. Und wie oft hatte es in den Büros der Pfarrer nach Gras gerochen? Das Problem war also offenbar ein weitverbreitetes unter den Geistlichen. Es schien fast so, als wären wir zumindest in diesem Bereich weit näher an der Idee eines Mönches oder Pfarrers, als die meisten Geistlichen, die wirklich von der Kirche anerkannt wurden.

Spruch des Tages: Ich habe nur eine Seele und die werde ich nicht verkaufen, indem ich in einem Job arbeite, der mir keinen Spaß macht. Eher würde ich eine Niere verkaufen, denn davon habe ich immerhin zwei. (Johannes Scheider)

 

Höhenmeter: 600 m

Tagesetappe 43 km

Gesamtstrecke: 2781,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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