Schwerindustrie

von Franz Bujor
20.05.2014 18:44 Uhr

Als wir zu Beginn unseres Spanienaufenthaltes das Industriegebiet von San Sebastian durchqueren mussten, waren wir von der grausamen Verunstaltung der Welt an dieser Stelle entsetzt. Die Fabrikhölle von Bilbao hatte uns gleich noch mehr schockiert, allein aus dem Grund, dass sie uns unendlich vorkam. Dann hatten wir Gijón erreicht und waren an der Feinstaubspuckenden Industrieanlage vorübergekommen, die wir einfach nicht mehr begreifen konnten. Doch all diese Eindrücke, die wir als Wanderer in diesen Gebieten aufnehmen durften, waren nichts im Vergleich zu dem, was wir heute auf dem Weg nach Avilés erlebten. Hier war die Grausamkeit von all den anderen Orten zu einer skurrilen Gesamtkomposition vereint worden. Es war die ungeschminkte Fratze des Fundamentes, auf dem unsere moderne Zivilisation mit ihrer vielfältigen Technik aufgebaut ist.

Dieses Gebiet war mit nichts zu vergleichen, dass wir an Industrieanlagen in unserem Leben je zuvor gesehen haben. Die Fabriken hatten hier nicht einmal Firmennamen auf den Gebäuden stehen, da jedem bewusst war, das man hiermit keine Werbung machen konnte. Das ganze Gebiet hatte eine Länge von rund 15km und beherbergte vor allem Großunternehmen, die Rohstoffe für die Weiterverarbeitung aufbereiteten. Hier wurden Rohteile für Autokarosserien gegossen, Stahlplatten wurden zu Blechen verarbeitet und viele andere Dinge geschahen, die wir hinter den verschlossenen Mauern nicht näher ausmachen konnten. Das Ganze Ausmaß der Industriegiganten zu beschreiben ist schier unmöglich, doch es gab einige Details, die das Bild relativ deutlich veranschaulichen dürften. So kamen wir an einer Fabrikhalle vorbei, die drei Kilometer lang war. Falls ihr glaubt, ich hätte mich verschrieben, sage ich es lieber noch einmal: Drei Kilometer!

Der Boden war ebenso mit Kohlestaub bedeckt wie gestern kurz hinter Gijón. An mehreren Stellen loderten riesige Gasflammen, mit denen der Gasüberdruck in den Pipelines in Schach gehalten wurde. Förderbänder, die in rostigen Blechtunneln versteckt lagen, führten Kilometerweit von A nach B und die riesigen Schornsteine veranstalteten einen Wettkampf darin, wer am meisten Abgase in den Himmel pusten konnte. Die besorgniserregendsten waren jedoch diejenigen, die nur wenig Rauch aussendeten. Die dicken Wolken waren Wasserdampf, dass konnte man unschwer erkennen, doch die kleinen Rauchfahnen aus den anderen Schornsteinen waren gelblich, braun oder schwarz und machten überhaupt kein gutes Gefühl.

„Es ist oft neblig und diesig hier, deshalb merkt man bei uns die Sonne nicht ganz so stark!“ hatte Mercedes am Vorabend gesagt. Sie hatte uns auch erzählt, dass sie hier aufgewachsen war und dass sowohl sie als auch ihr Mann eine starke Krebserkrankung hatten überstehen müssen. Jetzt, wo wir ihre Nachbarschaft kennengelernt hatten, wunderte uns ihre Krankheitsgeschichte kaum noch. Alles in dieser Gegend war angeraut. Jede Fassade, jede Straßenlaterne und sogar die Fenster der Fabrikhallen. Und doch lebten auch hier Menschen. Nicht einmal wenige. Mercedes hatte erzählt, dass wir an Wohnhäusern vorbeikommen würden, die alle gleich aussahen. Dies waren die Häuser, die von den Firmen für ihre Arbeiter gebaut worden waren, um ihnen das Arbeiten hier zu ermöglichen. Im Gespräch am Essenstisch schien uns dass noch eine recht positive Geste der Arbeitgeber zu sein. Doch jetzt, wo wir selbst Zeugen davon wurden, wurde uns die Perversion bewusst, die dahinter stand. Die Menschen verbrachten den ganzen Tag in den dunklen Hallen der Fabriken um dann nach Feierabend noch immer direkt in den Abgasen der gleichen Firma vor sich hinzuvegetieren. Doch nicht nur sie, sondern auch ihre Familie lebte hier. Neben dem Feinstaub, dem Rauch und den stinkenden Gasen war vor allem die Lärmbelästigung unerträglich. Die Fabriken arbeiteten zum Teil 24 Stunden am Tag. Direkt dahinter verlief die Autobahn, dann kam die Schnellstraße und etwas weiter oben kam die Bahnlinie. Wie konnte man hier leben? Oder besser: Wie konnte man hier leben wollen? Denn es gab nicht nur die Arbeiterbaracken sondern auch normale Wohnhäuser mit Gärten und noblen Eingangstoren, in denen Menschen lebten, die sich locker eine andere Bleibe leisten konnten. Wir fragten uns, ob es in Spanien vielleicht eine Art Contest gab, bei dem derjenige gewann, der es schaffte, sich den hässlichsten Platz zum Leben auszusuchen, den das Land zu bieten hatte.

Wie oft hatten wir in der letzten Zeit gehört, dass die Arbeitslosigkeit das größte Problem in Spanien war. Die Industrie sei so sehr zurückgegangen und es wurden immer mehr Jobs eingespart. Waren dies also die Jobs, denen jeder nachtrauerte? Ging es wirklich darum, dass die Menschen litten, weil sie sich nicht mehr in diesen Höllenkäfigen zu Tode arbeiten durften? Weil es ihnen verwehrt war, eine Staublunge zu bekommen, giftige Gase einzuatmen und sich einem permanenten Lärmpegel auszusetzen, der dazu führte, dass sie bereits mit dreißig Schwerhörig wurden?

Müsste nicht eigentlich jeder einen Freudentanz aufführen, der die Kündigung erhält und damit das Recht bekommt ein Leben zu führen, dass definitiv gesünder ist, egal wie er es auch verbringt? Selbst wenn man nie wieder eine Arbeit findet und seine Familie mit Sozialhilfe und Bettelgeld durchbringen muss, ist das doch noch immer besser, als hier seinen bezahlten Selbstmord auf Raten zu vollführen.

Plötzlich kamen wir in eine dicke Nebelwolke, die so dicht war, dass man die Fabrikgebäude auf der anderen Straßenseite kaum noch erkennen konnte. Atmen war nun fast nicht mehr möglich. Es stank nach Teer und Lösungsmitteln. Wir pressten uns unsere Halstücher vors Gesicht und versuchten so schnell wie möglich wieder aus dem Nebel herauszukommen. Ungläubig sahen wir zu den Einheimischen herüber, die am Straßenrand standen und sich weiter unterhielten, als wäre nichts geschehen. Für uns war es schon zu viel, nur hier durchzulaufen, doch diese Menschen wohnten hier.

Das zweite, was wir nicht begreifen konnten, war die unglaubliche Menge an Dingen, die hier produziert wurde. Allein die Lager waren so gigantisch, dass man ganze Nationen mit dem Material versorgen konnte. Wir erinnerten uns daran, dass wir vor kurzem einen Artikel über Überproduktion gelesen hatten. Vor allem in der Autoindustrie aber auch in jedem anderen Industriezweig produzieren wir laut dem Artikel, deutlich mehr, als auf der Welt überhaupt benötigt wird. Der Absatzmarkt für Fahrzeuge steigt nur in Asien und ist überall sonst auf der Welt rückläufig. Dennoch produzieren wir immer effektiver und dadurch auch stetig mehr, so dass ein Großteil der Produkte am Ende ungenutzt wieder verschrottet wird. So unglaublich das auch klingen mag, dass was wir hier sahen, passte dazu wie die Faust aufs Auge. Dass es bei Lebensmitteln und Kleidung das gleiche Prinzip war, wussten wir ja bereits. Auch in Sachen Immobilien sah es nicht anders aus. In Frankreich hatten mindestens 40% aller Häuser auf dem Land leer gestanden. In Spanien war es sogar noch schlimmer. Von Mercedes und Jesus hatten wir erfahren, dass nahezu alle jungen Menschen in die Städte abwanderten, so dass die Häuser ihrer Eltern und Großeltern nach deren Tod leer blieben. Wir selbst hatten im Haus ihrer Eltern übernachten dürfen, dass komplett ungenutzt dastand. Es war vollkommen eingerichtet, wurde geputzt und gepflegt, doch außer gelegentlichen Besuchern nutzte es niemand.

Es heißt, wenn wir uns als Menschheit weiterhin so verhalten, wie wir es heute tun, dann brauchen wir im Jahr 2040 mehr als sechs Erdkugeln um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Da wir diese nicht haben, wird früher oder später ein Umdenken stattfinden müssen. Doch wie es aussieht brauchen wir uns dafür nicht einmal großartig einschränken, wenn wir nur einfach damit aufhören, direkt für die Mülltonnen zu produzieren.

Inmitten des Industriegebietes stand plötzlich ein Einkaufskomplex, der den Fabrikanlagen an Größe in nichts nachstand. Hier konnte man von der Unterwäsche über den Salatkopf bis hin zur Rosenschere und zum Autoreifen alles kaufen, was man irgendwann in seinem Leben brauchen konnte. Die Container auf der Rückseite verrieten auch hier, dass wir mit unseren Gedanken über die Überproduktion nicht falsch lagen. Täglich mussten wie mehrere LKW-Ladungen an Wahren weggeworfen werden.

An sich wollten wir uns in Sachen Ernährung ja vor allem an gesunde Kost halten, doch da die meiste Kost, die wir in Spanien geschenkt bekamen, noch unter der Qualität von Fastfood lag, zählte in diesem Fall McDonalds schon fast mit dazu. Außerdem gab es im ganzen Einkaufskomplex in Sachen Restaurant keine wirklichen Alternativen und so versuchten wir unser Glück beim größten Fastfoodgiganten der Welt. Wir bekamen wirklich zwei komplette Menus geschenkt. Mit Orangensaft anstelle von Cola, denn Zucker wollten wir ja nicht.

Als wir uns zum Essen an die Wand des Einkaufszentrums setzten, kam sofort eine Security-Frau, die der Meinung war, dass man sie hier nicht hinsetzen konnte. Wir waren anderer Meinung, zogen aber im Endeffekt doch den Kürzeren und verlegten unser Picknick an die nächste Bushaltestelle.

Bis ins Zentrum von Avilés waren es noch immer etliche Kilometer, in denen immer mehr Häuser auftauchten, ohne dass die Industrie deswegen weniger wurde.

Erst als wir die Altstadt erreichten, war auch die letzte Spur der Großindustrie verschwunden. Wenn man hier als Tourist herkam, gab es nichts, woran man erkennen konnte, dass Avilés auch noch eine andere, weit weniger sehenswerte Seite hatte.

Einen Schlafplatz zu finden war hier vor allem deswegen schwierig, weil wie niemanden antrafen, der uns weiterhelfen konnte. Kein Pfarrer war zu finden und der Herbergsleiter kam erst am späten Nachmittag. Doch wenn der Prophet den Berg nicht finden kann, findet manchmal der Berg den Propheten. In diesem Fall wurden wir vor der Kirche von Freia entdeckt, einer Medizinstudentin aus Berlin, die für zwei Monate ein Praktikum in einem Krankenhaus in Avilés machte. Sie wohnte etwas außerhalb der Stadt gemeinsam mit ihrem Freund und ihrer Tochter. Sie hatten eine kleine Wohnung mit Gästezimmer und dieses durften wir heute beziehen.

Spruch des Tages: Wenn mir das hier und die Hölle gehören würde, würde ich diesen Ort vermieten und in der Hölle wohnen.

Höhenmeter: 600 m

Tagesetappe 16,5 km

Gesamtstrecke: 2813,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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