Das wundert mich nicht

von Franz Bujor
27.05.2014 19:28 Uhr

Alberto klopfte an unsere Apartmenttür. „Lebt ihr noch?“ fragte er. „Ja,“ antwortete ich, „wir sind schon fast wach!“ Es war kurz nach 9:00 und wir hatten eigentlich gesagt, dass wir zwischen 8:30 und 9:00 zum Frühstücken kommen würden. Doch die Betten und die Müdigkeit hatten uns einfach nicht aufstehen lassen. Als wir kurze Zeit später die Treppe zu Albertos Wohnung hinaufstiegen, saß er bereits auf dem Balkon und sonnte sich. Er lachte als er uns sah und begrüßte uns mit einer Umarmung. Man merkte deutlich, wie sehr es sich über unseren Besuch freute.

Zum Frühstück gab es Baguette und eine große Auswahl an frischem Obst, wenngleich Alberto etwas irritiert war, dass wir das traditionelle spanische Frühstück, dass er zunächst vorgeschlagen hatte, ablehnten. Es bestand aus Keksen, die in Milch eingetaucht wurden. Wir meinten jedoch, dass wir keinen Zucker essen und so war das Obst eine gute Alternative. Trotzdem war Alberto der Meinung, dass die Kekse bestimmt keinen, oder fast keinen Zucker enthielten. Beim Essen erzählte uns Alberto noch etwas über die bewegte Geschichte Spaniens. Das Land wurde durch so viele unterschiedliche Eindrücke geprägt, dass es kein Wunder ist, dass sich zum Teil so skurrile Traditionen ergeben haben.

Er erzählte uns auch, dass Asturgien die erste Region in ganz Europa war, in der Mülltrennung eingeführt wurde. Und das, obwohl die Region als umweltfeindlichste überhaupt gilt. Nirgendwo sind die Menschen mehr dafür bekannt, dass sie auf die Natur keinen Wert legen. Dass diese Region trotzdem zum Vorreiter der Mülltrennung wurde, ist wahrscheinlich kein Zufall. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Mülltrennung für die Umwelt keinerlei Vorteil bringt. Es wirkt fast so, als wollte man testen, wie leicht es ist, die Menschen zu diesem scheinbar positiven aber doch sinnlosen Schritt zu bewegen, der den Verantwortlichen sehr viel Profit einbringt. Wenn man es hier schaffte, dann musste es überall in Europa möglich sein! Wenn das die Idee war, dann hatte sie zu 100% funktioniert.

Schließlich war es Zeit für den Abschied. Alberto fiel es sichtlich schwer, uns gehen zu lassen und er wollte die Verabschiedung daher so kurz wie möglich machen. Am Ortsausgang überholte er uns dann noch einmal auf einem Motorroller. Er hupte kurz und winkte uns zu.

Der Weg führte recht unspektakulär an der Hauptstraße entlang und da wir noch immer langsam machen mussten, kehrten wir im 12km entfernten Tapia de Casariego ein. Hier gab es zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder eine Herberge, die wirklich kostenfrei war. Um hier übernachten zu dürfen musste man sich lediglich einen Schlüssel in der Touristeninformation abholen und sich ein Bett aussuchen. Das war alles. Spannenderweise bot die Herberge den gleichen Service, wie alle kostenpflichtigen, die wir zuvor gesehen hatten. Der einzige Unterschied war, dass hier nur wenige Pilger stoppten und dass der Ort die Pilgersteuer daher sinnvoll einsetzte, um die Wanderer hier zu halten.

In der Herberge trafen wir eine belgische Pilgerin. „Ich gehe den Weg auf Zen-Art!“ sagte sie und erklärte damit, dass sie sich dem Pilgerwettrennen nicht anschloss. Sie ging so weit wie sie wollte und blieb wo es ihr gefiel. Wir setzten uns gemeinsam vor die Herberge in die Sonne und aßen Kirschen. Als wir ihr von unserem Gespräch mit Alberto und unseren Beobachtungen über die Stimmung der Einheimischen berichteten, erzählte sie uns, dass die Wirtschaftskriese über die sich hier jeder beklagte, bereits seit 10 Jahren anhielt. Wir hatten bereits so etwas vermutet, aber es noch einmal bestätigt zu bekommen, war doch noch einmal etwas anderes. 10 Jahre! Seit zehn Jahren warteten die Menschen hier auf eine Erlösung von einer Krise. Laut Definition ist eine Kriese eigentlich ein kurzfristiges negatives Ereignis, nach dem es dann wieder bergauf gehen sollte. Doch davon war hier nicht wirklich etwas zu spüren.

Nach dem Essen wanderten wir durch die kleine Ortschaft und suchten nach einem Friseur, der unsere Haare wieder einmal in Form bringen konnte. Gegen jede Erwartung hatten wir tatsächlich Erfolg. Gleich der erste Friseur erklärte sich bereit, uns kostenlos die Haare zu schneiden. Dazu benutzte er spannenderweise ein japanisches Barbiermesser. Das klingt ungewöhnlich und fühlt sich auch genauso an. Die Prozedur war etwas ruppig und einige Male hatten wir das Gefühl, dass uns der Mann die Kopfhaut abreißen wollte, aber am Ende war das Ergebnis durchaus ansehnlich.

Zurück in der Herberge trafen wir auf zwei weitere Pilger. Beide stammten aus Deutschland und hatten sich bereits zuvor auf dem Weg kennengelernt.

Einer von ihnen erzählte uns, dass er die letzte Nacht im Freien verbracht hatte, weil er sich so sehr über die überteuerten Herbergspreise aufgeregt hatte. „Wenn man keine von diesen Massenherbergen erwischt, dann braucht man hier mit Übernachtung und Essen locker 50€ am Tag. Das kann sich doch kein Mensch leisten!“

Wir kamen ins Gespräch und erzählten unter anderem auch von der steigenden Unfruchtbarkeit in Spanien und in anderen Ländern. „Das wundert mich nicht!“ sagte einer der beiden und meinte, dass er sich dies aufgrund der vielen Gifte in unserem Alltag gut vorstellen konnte. Erst später fiel uns auf, wie hart diese Aussage eigentlich war. „Es wundert mich nicht!“ Im Klartext heißt dieser Satz: Ja, ich sehe all die Anzeichen und all die Warnungen, aber ich stelle mir deswegen keine Fragen. Ich nehme mir nicht die Zeit, um mich darüber zu wundern. Ich will nicht darüber nachdenken.

Es war keine Aussage, die speziell diesen einen Mann auszeichnete. Viel mehr stand sie beispielhaft für die Einstellung einer ganzen Gesellschaft. Jeder weiß, dass unendlich viele Dinge in unserer Zivilisation schief laufen. Jeder weiß, dass all die Zusatzstoffe in den Lebensmitteln schädlich sind, dass uns die Weichmacher im Plastik nicht gut tun, dass wir uns durch den übermäßigen Stress selbst schädigen und der gleichen mehr. Aber niemand zieht daraus Schlüsse und Konsequenzen. Wir wollen nichts darüber wissen, weil wir dann etwas ändern müssten. Also hören wir auf uns zu wundern und uns Fragen zu stellen.

Da wir keine Lust auf noch mehr Bocadillos und Tortillas hatten, machten wir noch einen Spaziergang zum nahegelegenen Supermarkt, um ein bisschen Bettelgeld für ein kulinarisches Highlight zu opfern. Doch der Einkauf war noch endtäuschender als unsere Frageerfolge. Der ganze Supermarkt enthielt nichts als Süßigkeiten, überteuerte Wurst- und Käsewaren, die wir uns nicht leisten konnten und Unmengen an Fertigprodukten. Leckereien fanden wir nicht. Zumindest keine, die man nicht in den Ofen oder auf den Herd tun musste. Denn unsere Herbergsküche bestand aus einer Mikrowelle und drei Tellern. Zum Kochen war das etwas wenig.

Am Ende entschieden wir uns für Oliven, eine Salami und etwas Brot. Ein wirkliches Highlight war das zwar nicht, aber es war zumindest einmal eine Abwechslung.

Spruch des Tages: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!

 

Höhenmeter: 180 m

Tagesetappe 12 km

Gesamtstrecke: 2954,07 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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