Der letzte Tag in Spanien

von Franz Bujor
17.06.2014 23:53 Uhr

Bei genauerer Betrachtung bot Tui doch mehr, das uns in der Stadt hielt, als wir ursprünglich dachten. Der Plan war, dass wir uns kurz die Kathedrale anschauen, ein paar Fotos machen und dann möglichst schnell über die Brücke nach Portugal einwandern. Doch ein Plan ist dafür da, um gebrochen zu werden.

Auf dem Weg zur Kathedrale kamen wir an einem Pilger mit einem lustig behangenen, riesigen Wanderstab vorbei, der in einer Bar saß. Wir sagten zunächst nichts außer „Hola!“ und nahmen uns nur gegenseitig wahr.

In der Kathedrale stand ein riesiges Schild mit „Fotografieren verboten“, welches Anlass zu einem spannungsreichen Katz- und Mausspiel mit den grimmigen Wachleuten gab. Zum Glück haben Kirchen so viele Säulen, hinter denen man sich immer wieder verstecken kann. So gelang es uns einen Großteil der Kirche abzulichten, ohne dass wir von den Wachkräften rausgeworfen wurden. Einige Male war es knapp und am Ende waren sie wirklich nicht mehr gut auf uns zu sprechen. Doch erwischt haben sie uns nur zwei Mal. Als wir in der Mitte des Kirchenschiffes standen und Heiko gerade ein Bild machte, sah ich den Wachmann zu spät, der mit wütendem Blick auf uns zugeeilt kam. „Verdammt nochmal keine Fotos!“ rief er. Ich drehte mich zu Heiko um und sah, dass er die Kamera bereits längst wieder eingesteckt hatte. Hinter ihm stand jedoch ein anderer Tourist, der gerade das gleiche Motiv fotografierte. Schuldbewusst stand er da und schaute den grimmigen Wachmann an. Dann ließ er seine Kamera verschwinden.

„Du musst hier aufpassen!“ warnten wir ihn, „Es gibt drei Männer, die hier auf Streife laufen und du musst immer die richtigen Momente abpassen!“

Er lächelte und nahm den Tipp an. Die Kirche hier hatte eine andere Strategie um an das Geld der Menschen zu kommen. Sie verlangte keinen Eintritt, war dafür aber stockdunkel und verbot das Fotografieren. Im angegliederten Museum konnte man dafür Karten mit Motiven der Kirche kaufen und wer sie bei Licht sehen wollte, konnte dieses mit Ein- oder Zweieurostücken einschalten. Natürlich immer nur in einer Ecke und für wenige Minuten.

Vor der Kathedrale trafen wir wieder auf den Mann mit dem bunten Pilgerstab sowie auf eine große Gruppe von deutschen Pilgern zu der auch unser Fotofreund gehörte. Innerhalb von Minuten waren wir umringt und erzählten unsere Geschichte wie bei einem Vortrag vor einem Publikum von rund 15 Personen. Ständig kamen neue hinzu, so dass wir die gleichen Fragen immer und immer wieder beantworten mussten. Eben genau wie bei einem richtigen Vortrag. Die Gruppe war mit dem Bus aus Deutschland angereist, hatte heute einen Tag Aufenthalt in Tui und wanderte ab morgen in Richtung Santiago.

Als sie verschwunden waren kamen wir mit dem zerzausten Pilger ins Gespräch. Er hieß Fred, war 41 Jahre alt und reiste Seit März durch Portugal. Seine Schuhe wurden nur noch von einem Saustrick zusammengehalten und auch sein Rucksack hatte nur noch einen Träger. Der zweite war mit einer Schnur auf eine sehr improvisierte und waghalsige Art und Weise repariert worden. Fred studierte ökologische Agrarwissenschaften und reiste als organic Farmer umher. Er blieb also immer wieder an einem Ort, half dort eine Weile auf einem Biohof und bekam dafür Essen und Unterkunft. Seine Idee war es, selbst eine Farm zu gründen, die er als eine Lebensgemeinschaft mit anderen bewirtschaften wollte. Portugal war dabei ein möglicher Standpunkt und so schaute er sich das Land schon einmal genauer an.

Kurze Zeit später stieß Kerstin zu unserer kleinen Truppe hinzu. Sie arbeitete in einem Wohnheim für geistig Behinderte und machte den Jakobsweg als Eingewöhnung ins Christentum. Vor einigen Monaten hatte sie sich taufen lassen und nun wollte sie von diesem Kirchenbeitritt auch etwas haben.

Den Rest des Tages verbrachten wir vor der Kathedrale, in einem kleinen Café in der Nähe und auf der Straße davor. Kerstin verschwand zwischenzeitig für eine Weile, weil sie sich einen Platz in der Herberge sichern, sich duschen und frischmachen wollte. In der Zwischenzeit lud uns Fred auf einen Kaffee ein. Zuvor hatten uns die deutschen Pilger zwanzig Euro gespendet, von denen wir ihm einen Anteil abgaben. Diesen Anteil nutzte er jetzt, um uns davon einzuladen. Manchmal ist das Prinzip von ‚Geben ist Bekommen’ doch direkter als man glaubt.

Wir unterhielten uns über viele verschiedene Themen, die ich jetzt nicht alle aufführen und zusammenfassen kann. Doch ein Thema war besonders spannend. Es ging dabei um Beziehungen.

Fred erzählte uns, dass er früher einmal verheiratet war und aus dieser Beziehung noch einen Sohn hatte, der jedoch bei der Mutter und ihrem neuen Mann lebte. Er selbst war immer mehr zu dem Schluss gekommen, dass eine typische Zweierbeziehung für ihn nicht mehr in Frage kam. Er hatte den Jakobsweg vor einigen Jahren bereits ein erstes Mal bewandert und hatte dabei viele Lebensthemen von sich bearbeitet. Damals war er zu dem Schluss gekommen, dass es nur dann wirklichen Frieden auf der Erde geben konnte, wenn wir lernten, bedingungslos zu lieben. Dies bedeutete für ihn auch, dass er alle Menschen gleich lieben musste. Eine einzige Frau mehr zu Lieben als alle anderen Wesen im Universum kam daher nicht in Frage, denn es bedeutete gleichzeitig Krieg zu verursachen. Als er an seine früheren Partnerschaften zurückdachte, merkte er, dass sie ihn immer auf eine Art geschwächt hatten. Vor allem die Sexualität hatte ihn immer endtäuscht und er hatte das Gefühl, dass sie jegliche Beziehung zerstörte. Nach jedem Orgasmus fühlte er sich, als würde er einen Teil von sich verlieren und als würde er dabei immer schwächer und trauriger werden. Aus diesen beiden Gründen hatte er viel über das Thema Zölibat nachgedacht und sich schließlich dazu entschieden, gänzlich auf Sexualität zu verzichten. Seither versuchte er die sexuelle Energie in etwas anderes umzuleiten um seine Verbindung zum Göttlichen und zur Erde zu stärken. Seine Idee war es, die Menschen gleichermaßen zu lieben und er war dadurch für viele Frauen ein guter Freund, ohne sich auf eine direkt einzulassen. Dieses würde die anderen ausschließen, so dass wieder Unfriede und Unzufriedenheit entstehen würde.

Die Idee auf diese Art zu leben interessierte uns vor allem deshalb, weil wir auch für uns noch kein funktionierendes Beziehungssystem gefunden hatten. Doch mit dem willentlichen und gänzlichen Verzicht auf jegliche Art der Sexualität konnten wir uns beim besten Willen nicht anfreunden. Auch bei Fred konnte man erkennen, dass in ihm zwei Mächte Kämpften. Vom verstand und auch von der Seele her, war er von seinem Entschluss fest überzeugt. Doch sein Herz und vor allem seine Sexualtriebe sagten ihm etwas anderes. Auch wenn er es sich ungern eingestand, so musste er doch zugeben, dass er sich nicht ganz von den Urinstinken lösen konnte.

Auch bei Kerstin gab es viele offene Beziehungsthemen, doch sie rückte nicht ganz so offen mit der Sprache heraus.

Als die Kirchenglocken schließlich 19:00 Uhr schlugen, spürten wir, dass es doch Zeit war, weiterzuziehen. Bislang hatten wir ca. 1,5 Kilometer zurückgelegt und wir wollten es zumindest noch bis über die Grenze schaffen. Erst als wir die Brücke über den Grenzfluss betraten, spürten wir, dass uns der Landeswechsel doch mehr beschäftigte, als wir zuvor vermutet hatten. Irgendwie wühlte uns die ganze Sache innerlich auf. Heiko spürte das Ohrenrauschen deutlicher als die Tage zuvor und in ihm machte sich ein Gefühl der Unruhe breit. Bei mir kamen plötzlich Ängste auf, die ich mir nicht erklären konnte. Es war fast das gleiche Gefühl wie bei unserem Grenzübertritt nach Frankreich. Was wenn all unsere Strategien plötzlichen nicht mehr funktionieren? Was wenn uns niemand versteht und wir deshalb einfach nicht zurecht kommen.

Die Ängste fanden ihre erste Bestätigung in dem kleinen Restaurant direkt hinter der Grenze. Ich sprach die Bedienung auf Spanisch an und sie verstand kein Wort. Englisch war da schon besser. Auch sonst gab es mit den Menschen im Ort einige Sprachbarrieren, wobei es immer eine Sprache gab, die funktionierte. Mal Englisch, mal Spanisch und sogar Deutsch. Das Portugiesisch der Menschen verstand ich hingegen so gut wie gar nicht. Es würde also doch einiges an Arbeit kosten, um die Sprache zu lernen. Im Hotel Val Flores lernten wir einen jungen Mann kennen, der seine ersten acht Lebensjahre in Deutschland verbracht hatte. Er setzte sich bei seinem Chef dafür ein, dass das Hotel unser Projekt mit einem Schlafplatz unterstützte. „Trotz der Niederlage im Fußballspiel von gestern Abend!“ sagte er scherzhaft, „wenn ich nicht selbst zum Teil deutsche Wurzeln hätte, dann hätte ich euch dafür auf der Straße schlafen lassen!“

In der Lobby des Hotels trafen wir außerdem auf einige weitere Pilger. Es war eine bunt gemischte Truppe, die außer dem gemeinsamen Weg eigentlich überhaupt nichts gemeinsam hatte. Trotzdem wanderten sie seit ein paar Tagen zusammen und waren so zu einem bunten und lustigen Haufen geworden. Vom Hotel aus wanderten wir zur alten Burgfestung, die hoch über der Stadt thronte und von der man eine fantastische Aussicht über Spanien und Portugal hatte. Später stießen wir im Restaurant Verde wieder auf unsere Pilgertruppe. Wir hatten Glück! Der Chef des Restaurants lud uns auf ein wirklich leckeres und reichhaltiges Abendessen ein, so dass wir mit den anderen Pilgern zusammen speisen konnten. Nach Tagen der Brot- und Wurst-Diät bekamen wir nun endlich wieder einmal ein warmes Essen mit Reiß, Pommes, Salat und reichlich gegrilltem Fleisch. Zum Nachtisch gab es dann noch eine Portion Erdbeeren.

Spruch des Tages: Willkommen in Portugal

 

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe 4 km

Gesamtstrecke: 3318,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare