Tag 169: Steinbrüche und Bildhauer

von Franz Bujor
20.06.2014 00:01 Uhr

Florians Schwiegermutter war gleichzeitig auch sein Arbeitgeber und die Besitzerin der einzigen Bar, sowie des kleinen Tante-Emma-Ladens in dem winzigen Ort. Da Florian und seine Freundin bereits früh zum Trainieren ins Fitnessstudio gehen wollten, sollten wir den Schlüssel für die kleine Ferienwohnung bei der Mutter in der Bar abgeben. Bei dieser Gelegenheit lud sie uns gleich auch noch auf ein kleines Frühstück ein. Statt Baguette gibt es in Portugal kleine Brötchen, die zum Teil sogar mit dunklem Mehl gebacken werden. Sie haben ungefähr die Konsistenz eines Küchenschwammes und enthalten mehr Luft als Mehl, aber es sind Brötchen. Das Highlight des Frühstücks war jedoch der frisch gepresste Orangensaft! Die Früchte hier in der Region sind einfach der absolute Knaller! Dagegen kann das übrige Essen einfach nicht mithalten. Im Laufe des Tages mussten wir feststellen, dass die Portugiesen noch deutlich schlechtere Bäcker und Schlachter sind als die Spanier. In Spanien hätten wir nie geglaubt, dass dies möglich sein könnte, aber es ist leider wirklich so! Dafür gibt es leckere Suppen.

Außer der kleinen Bar mit angegliedertem Mini-Supermarkt und der Tankstelle gab es in unserem Übernachtungsort noch eine kleine Lenkradfabrik. Es war ein kleines, flaches Gebäude mit nur einem Raum, in dem rund 15 Frauen arbeiteten. Männer gab es hier nicht. Die Aufgabe der Frauen war es, die Lenkräder mit Airbags auszustatten. Eine recht gefährliche Arbeit, denn die Airbags werden mit einer Sprengstoffladung ausgelöst. Wenn die Frauen also einen Fehler machten, dann flog ihnen ihre Arbeit um die Ohren. Als wir gestern mit Florian an der Fabrik vorrübergegangen waren, war er von den Frauen lebhaft begrüßt worden. Sie aßen in ihrer Mittagspause in der Bar und kannten ihn daher seit Jahren.

Der Jakobsweg folgte heute der alten Via Romana, einer römischen Handelstraße. Die Straße bestand aus uneben aneinandergereihten Granitsteinen und war für unsere Wagen die reinste Holperpartie.

„Wenn das hier wirklich die alte Römerstraße ist, dann fress ich nen Besen!“ brummte Heiko nach einigen Kilometern, als ihm das Gepolter allmählich auf die Nerven ging. „Wenn das wirklich noch die antike Straße wäre, dann müssten sich die Steine doch abgeschliffen haben. Man müsste zumindest Fahrrillen sehen!“

„Stimmt,“ antwortete ich, „ich habe mich gerade eh schon gefragt, wie sie das gemacht haben. Ich meine sie hatten Wagen mit hölzernen Rädern, die im günstigsten fall mit Kupfer oder Eisen beschlagen waren. Das muss ja gepoltert haben, dass ihnen ganz übel wurde! Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Kultur, die so hoch entwickelt war, so schlechte Straßen gebaut hat.“

Kurz darauf fanden wir die Lösung des Rätsels. Die Region um Ponte de Lima ist eine der größten Steinabbaugebiete in Portugal. Nachdem uns der Holperweg zu anstrengend geworden war, wechselten wir auf eine gewöhnliche Teerstraße, die mit weniger auf und ab in die gleiche Richtung führte. Links und rechts der Straße hatte man die Berge teilweise fast bis zur Hälfte abgetragen. In regelmäßigen Abständen gab es kleine Werkstätten, in denen die Felsbrocken zu Steinblöcken, steinernen Kaminen, Statuen und vielen anderen Dingen weiterverarbeitet wurden. Mit riesigen Kreissägen, die mit Literweise Wasser gekühlt wurden, wurden die Granitblöcke zerteilt. Ein einziges Sägeblatt hatte dabei einen Durchmesser, der deutlich größer war, als wir selbst. Trotzdem war die Arbeit an den Steinen erstaunlich leise. Natürlich nicht im Vergleich zu wirklicher Stille, aber verglichen mit den Stahlarbeiten oder den Laubbläsern und Freischneidern war es beeindruckend. Wie in jedem anderen Industriezweig auch, blieb rund die Hälfte des Rohmaterials als Abfall übrig. Der Großteil davon wurde einfach neben den Werkstätten den Hang hinunter gekippt. Auf der einen Seite sah das ziemlich komisch aus. Auf der anderen musste man natürlich auch sagen, dass es sich bei dieser Art des Mülls einfach um Steine handelte. Es sprach also eigentlich nichts dagegen, wieder einen Berg daraus zu machen. Die kleinen Schuttsteine sahen jedoch genauso aus, wie die, aus denen die antiken Straßen bestanden. Das legte eine einfache Vermutung nahe: Wahrscheinlich wurde ein Teil des Schutts wieder zum Straßenbau verwendet und da die so gebauten Straßen in etwa so aussahen, wie wir uns Straßen zur Römerzeit vorstellen, spricht nichts dagegen, sie den Touristen auch als solche zu verkaufen.

Bis nach Ponte de Lima gab es so gut wie keine Möglichkeiten mehr, etwas zu essen zu bekommen. An der Straße lagen lediglich ein paar kleine Bars, von denen uns einige ein paar Brötchen schenkten und eine sogar eine warme Suppe.

Ponte de Lima war eine kleine gemütliche Stadt, die ihren Namen vom anliegenden Fluss und der darüber hinweg führenden Brücke bekam. Das 3-Sterne-Hotel, das wir uns als Schlafplatz auserkoren hatten, war leider bereits seit drei Jahren geschlossen. Als Alternative fanden wir nur die städtische Herberge, die uns anders als die meisten spanischen sehr freundlich aufnahm.

In der Herberge lernten wir Peter kennen, einen Pilger aus Köln. Wir sprachen lange über Beziehungskonzepte. Peter erzählte uns, dass er seit mehr als 15 Jahren verheiratet war. Er uns seine Frau hatten sich bereits früh kennen und lieben gelernt und auch wenn sie in vielen Bereichen andere Interessen hatten, so waren sie doch noch immer glücklich miteinander. „Es ist schön, wie viel Freiheit wir einander geben können,“ sagte er. „So eine Jakobswanderung wäre nichts für sie. Dafür fliegt sie in ein paar Wochen mit unserer Tochter nach Mallorca um einen Strandurlaub zu machen. Das wiederum wäre nichts für mich. Ich brauche die Bewegung und irgendeine Art von Abenteuer. Aber es ist ok, jeder hat seine Vorlieben und der andere akzeptiert es!“

Das was er sagte, klang so, als hätten die beiden wirklich ein funktionierendes Beziehungskonzept gefunden. Doch etwas an seiner Stimme und seiner Mimik ließ Heiko stutzig werden. Peter schien sich seine Aussage selbst nicht ganz zu glauben. Im Laufe des Gesprächs kamen wir immer wieder auf das Thema zurück, wobei Peter immer konkretere Fragen stellte. „Nur mal angenommen, man merkt irgendwann, dass man sich vielleicht ein bisschen auseinanderentwickelt hat. Also man mag sich noch und man macht auch noch viel gemeinsam, aber einer hat sich vielleicht soweit entwickelt, dass er sich nun auf einer anderen Stufe befindet. Er hat neue Erfahrungen gemacht und plötzlich merkt er, dass die beiden nicht mehr das gleiche Ziel im Leben haben. Hast du eine Idee, wie man damit umgehen kann, Heiko?“

Später erzählte er, dass er auf einer anderen Reise eine Frau kennengelernt hatte, mit der er sich gut verstanden hatte. Er beschrieb sie als sympathisch und seine Beziehung zu ihr war seinen Erzählungen nach rein freundschaftlich geblieben. Doch während er von ihr erzählte, leckte er sich ein paar Mal mit der Zunge über die Lippe, so wie man es auch bei einem leckeren Essen macht. Diese unfreiwillige Mikrogeste in einer Erzählung über einen anderen Menschen sagt unmissverständlich aus, dass man diesen Menschen äußerst attraktiv und sexuell ansprechend fand. So oft, wie er sich über die Lippen leckte, ohne es zu merken, waren hier einige sehr wilde Fantasien im Spiel.

Es dauerte noch eine Weile, in der wir uns über alles Mögliche unterhielten, ohne dabei konkret auf die Beziehung von Peter zu sprechen zu kommen. Doch mit jeder Minute wurde es ersichtlicher, dass etwas nicht stimmte. Schließlich sagte er es offen heraus: „Ganz ehrlich Jungs, ich mache mir hier etwas vor, oder?“

Wir nickten.

„Ich will den Gedanken nicht akzeptieren, weil so viel an dieser Beziehung hängt. Unser Kind, unser Haus unser gemeinsames Vermögen. Selbst unser Hund. Aber wie ich es auch drehe, die Luft ist raus. Wir haben einfach keinen gemeinsamen Weg mehr. Oder zumindest kann ich keinen Weg mehr sehen!“

Wir sprachen eine Weile über die unterschiedlichen Optionen, die sich aus Peters Erkenntnis ergaben.

„Ich weiß,“ sagte Heiko, „dass es sich wahnsinnig schwer anfühlt, aber das einige was du machen kannst, ist offen mit deiner Frau darüber zu reden. Mein alter Mentor hat immer gesagt: ‚Du musst nur 20 Sekunden mutig sein! Danach ergibt sich alles von alleine!’ Mehr ist es bei dir auch nicht. Wenn du das Thema auf den Tisch bringst, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, ihr wisst klar und deutlich, dass ihr nicht zusammen passt, und dass es keine gemeinsame Zukunft für euch gibt. Das mag erst mal schmerzhaft sein, ist aber eigentlich etwas sehr positives. Denn danach ist jeder frei, seinen eigenen Weg in Frieden zu gehen. Wenn ihr es nicht aussprecht, dann bleibt ihr vielleicht noch 15 Jahre zusammen, ohne euch in dieser Zeit gut zu fühlen. Ich werdet euch kraft rauben und gegenseitig auf die Nerven gehen, weil jeder unterschwellig spürt, dass etwas nicht stimmt, keiner jedoch den Mut hat, etwas zu verändern. Und wenn es nach 15 Jahren dann doch zur Trennung kommt, dann schaut ihr beide zurück und ärgert euch über die verpasste Zeit, in der ihr hättet glücklich sein können, wenn ihr den klaren Cut in dem Moment gesetzt hättet, als euch das erste Mal bewusst wurde, dass er unausweichlich ist. Du musst auch bedenken, dass es ihr gegenüber nicht fair ist, sie festzuhalten, obwohl du weißt, dass du sie eigentlich nicht willst. Denn sie hat auch ein Recht darauf ihren eigenen Weg zu gehen.

Oder aber, und das ist die zweite Möglichkeit, ihr stellt fest, dass es ihr genauso geht wie dir, dass sie sich ebenfalls entwickeln will, aber glaubt, es deinetwegen nicht zu können. Es mag sein, dass ihr dann feststellt, dass ihr doch den gleichen Lebensweg habt, es jedoch zuvor nicht wusstet. In diesem Fall wird eure Beziehung durch das Gespräch besser als je zuvor.

Aber egal welche der beiden Möglichkeiten auch eintrifft, es wird immer ein Gewinn für euch beide sein. Du kannst nicht verlieren. Es sei denn, du tust nichts und behältst deine Gefühle für dich.“

„Du hast Recht!“ sagte Peter, „Ich denke, ich sollte wirklich mit ihr darüber sprechen. Aber wenn wir uns wirklich trennen sollten, was wird dann aus unserer Tochter? Ist es für sie nicht wichtiger, beide Eltern zu haben und in einer gesunden Familie aufzuwachsen?“

„Das ist eine gute Frage!“ sagte ich, „aber das Ding ist, dass deine Tochter eh längst spürt, dass eure Beziehung nicht mehr in Ordnung ist. Kinder sind, was das anbelangt, deutlich feinfühliger als wir ihnen zutrauen. Es ist sogar noch schlimmer. Sie spürt nicht nur, dass ihr unglücklich seid, sie spürt auch, dass ihr ihretwegen zusammenbleibt. Das mag nicht bewusst geschehen, aber unbewusst erhält sie dadurch das Gefühl, dass sie Schuld am Leid ihrer Eltern ist. Dass ist das schlimmste, was man seinem Kind vermitteln kann.“

Peter sah traurig und nachdenklich aus. „Das stimmt,“ sagte er, „so habe ich das noch nicht gesehen.“

Im Laufe des Abends wechselten wir das Gesprächsthema noch einige Male und kamen auch wieder auf viele lustige Anekdoten zu sprechen. Doch man spürte, dass es in Peter arbeitete, selbst wenn er lachte.

Spruch des Tages: Wenn man die ganze Ewigkeit zur Verfügung hat, ist es gar nicht so schlimm. (Jostein Gaarder)

Höhenmeter: 250 m

Tagesetappe 24 km

Gesamtstrecke: 3357,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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