Tag 172: Voll verplant!

von Franz Bujor
23.06.2014 04:01 Uhr

Es heißt, die Realität sei immer eine Parodie auf den Plan. Bislang war dies eine schlaue Weisheit, die Goethe einmal formuliert hat, doch heute durften wir erfahren, wie viel Wahrheit wirklich in ihr steckt.

Der Tag begann bereits etwas verpeilt, da wir uns heute vom Jakobsweg trennten und einen anderen Weg aus der Stadt suchen mussten. Sandra, die junge Bankkauffrau aus Köln, die wir in Santiago kennengelernt hatten, hatte uns eingeladen, sie in einem kleinen Sufercamp in Apúlia zu besuchen. Das Camp lag rund 15km westlich von Barcelos am Meer und war also in einer entspannten Tagesetappe zu erreichen. Doch zunächst mussten wir den Weg aus der Stadt herauf finden, der uns in die richtige Richtung führte. Theoretisch brauchten wir dazu immer nur dem Fluss zu folgen, doch praktisch führte leider kein Weg an ihm entlang. Dies war eine Sache, die definitiv einen kulturellen Unterschied zwischen Deutschland und Portugal darstellte. Wenn es in Deutschland einen kleinen Fluss durch eine schöne Landschaft gab, der dann auch noch im Meer endete, dann war es undenkbar, dass es keinen Rad- oder Wanderweg gab, der an ihm entlang führte. Hier gab es jedoch nichts der gleichen. Die einzige Möglichkeit nach Apúlia zu gelangen war entlang der Nationalstraße. Doch um zu ihr zu gelangen mussten wir uns zunächst einmal kreuz und quer durch die Stadt schlängeln. Die Touristeninformation hatte sonntags vorsichtshalber geschlossen, was auch nahe lag, denn welcher Tourist ist schon an einem Sonntag unterwegs. Wir waren also auf uns allein gestellt und das ohne Sprachkenntnisse und mit einer Karte, deren Maßstab so klein war, dass wir Glück hatten, dass Barcelos überhaupt als Punkt darauf zu erkennen war.

Kurz vor dem Fluss kamen wir an einer Kirche vorbei, aus dessen Portal ein samtener, roter Teppich bis weit hinaus auf die Straße verlief. Alles war mit weißen Blumen geschmückt und im Inneren wurde gerade eine Power-Point-Präsentation auf einer großen Leinwand geprobt. Dazu spielte ein Pfarrer auf einer Gitarre und ein Jugendchor übte ein letztes Mal das Stück „Halleluja“, dass mir von diesem Moment an für den Rest des Tages als Ohrwurm im Kopf herumspukte. Eine besonders heilig wirkende Frau, die mit gefalteten Händen im Gang herumstand, erklärte uns, dass es sich bei der Zeremonie um die Erstkommunion einige Kinder handeln würde.

Die nächsten 10km waren kein Highlight mehr. Wir wanderten konstant an der Nationalstraße entlang und lauschten dabei dem monotonen Lärm der Autos. Dabei beschlossen wir, dass wir eindeutig weitere Wanderführer und genauere Karten brauchten. Wenn unser Pilgerführer in Lissabon endete und wir uns danach selbst durch die Lande schlagen mussten, dann waren wir aufgeschmissen. Denn diese Straßen hier waren definitiv keine akzeptable Alternative zu einem Wanderweg.

Nach gut 10km durften wir dann von der Schnellstraße auf eine Nebenstraße abbiegen. Hier stellten wir fest, dass wir uns in Bezug auf Touristenverarschung mit dem Jakobsweg und der alten Römerstraße geirrt hatten. Man hatte die Abfälle der Steinbrüche nicht dazu verwendet um damit den Jakobsweg zu pflastern und zu behaupten, es handelte sich dabei um eine alte, römische Handelsstraße. Man hatte sie dafür verwendet, um jede kleinere Nebenstraße damit zu pflastern, egal ob die Römer hier schon einmal gebaut hatten oder nicht. Alles, was keine Hauptstraße war, war aus holprigen Steinen gebaut worden. Das hatte natürlich den ultimativen Vorteil, das hier kein Teer und auch kein Bitumen ausdampfen konnte, doch es hatte auch gewisse Nachteile. Autos verursachten auf diesem Straßenbelag den dreifachen Lärm, als Fahrradfahrer wurde man so durchgeschüttelt wie beim Bullenreiten und als Fußgänger rebellierten einem nach kurzer Zeit die Füße. Wie musste es wohl früher mit Pferdekutschen gewesen sein? Wir konnten uns noch immer nicht vorstellen, warum jemand solche Straßen baute, denn Spaß machen konnten sie eigentlich niemandem. Später kamen wir an eine Stelle, an der es einen Fußweg gab. Für den Fußweg wurden die gleichen Steine verwendet, diesmal jedoch waren sie abgeschliffen und begradigt. Der Unterschied war gewaltig. Warum also machte man nicht das gleiche bei den Straßen?

An einem kleinen Marktstand bekamen wir zwei Tüten mit Obst geschenkt. Darunter befanden sie eine leckere Mango, eine unglaubliche Honigmelone und einige von den lustigen orangen Früchten, deren Namen ich mir leider noch immer nicht merken konnte. An einer kleinen Kirche machten wir daraufhin eine Obstpause. Die Kirche hatte im wahrsten Sinne des Wortes einen guten energetischen Draht und stellte seinen Jüngern ein kostenloses w-LAN zur Verfügung. So konnten wir Sandra bescheid geben, dass wir nur noch rund zwei Stunden von ihr entfernt waren. Das war um 13:30 Uhr.

Von der Kirche aus waren es gut sechs Kilometer bis in einen Ort Namens Fão. Merkt euch diesen Namen, er ist für den späteren Verlauf der Geschichte noch wichtig.

Von Fão aus wanderten wir wieder an der Nationalstraße entlang nach Süden, bis wir in einen Vorort von Apúlia kamen. Dann ging es wieder auf den Holperwegen weiter in Richtung Stadtzentrum. Wir wunderten uns bereits über den großen Menschenauflauf in dieser kleinen Stadt, doch das Rätsel löste sich bald von selbst. Um ein Haar wären wir in einen riesigen Blütenteppich gerannt, der über die Straße ausgebreitet worden war. Eine Passantin informierte uns über den Anlass dieses Kunstwerkes. Letzten Donnerstag war Frohen Leichnam gewesen, ein Feiertag, der in Spanien und Portugal Corpo Christi hieß. Da dieser Feiertag leider kein offizieller Feiertag war und dieses Jahr außerdem noch außerhalb der Ferien lag, hatte man ihn hier kurzer Hand auf den heutigen Sonntag verschoben. In allen kleineren und größeren Städten der Region und auch in vielen Teilen Spaniens wurde der Tag mit einer Blütenprozession gefeiert. Von der Kirche aus liefen die Blütenteppiche durch die ganze Innenstadt und zeigten dabei immer in Abschnitten neue Farben und Muster. Meist waren christliche Symbole wie der heilige Gral oder das Kreuz abgebildet. Die Menge an Blüten, die man hierfür hatte abrupfen müssen war unvorstellbar. Es war nun bereits nach 15:00 Uhr und immer arbeiteten die Menschen an dem Kunstwerk, das nur für heute Nachmittag aufgebaut wurde. Die Wirkung war eindrucksvoll und faszinierend. Wir konnten nicht genau sagen, was es mit uns und mit den anderen Zuschauern machte, doch es hatte eine eigensinnige Kraft. Über Lautsprecher wurden der Gesang eines Kirchenchores und später ein ganzer Gottesdienst übertragen. Es war schön, aber fast ein bisschen zu heilig, um sich noch wohl zu fühlen.

An einem Platz mit einem großen Kreutz in der Mitte wurden wir von einem kleinen, alten, kahlköpfigen Mann angesprochen.

„Seit ihr aus Deutschland?“ fragte er.

„Ja!“ sagte Heiko, woraufhin uns der Mann erzählte, dass er selbst fast vierzig Jahre dort gelebt hatte. Er hatte in Kaiserslautern gewohnt und gearbeitet. Seine Söhne lebten noch immer dort, während es seine Tochter nach Dubai verschlagen hatte. Nach der Rente waren er und seine Frau wieder nach Portugal gezogen. Seine Frau rief zu ihm herüber und wollte ihn zum Essen ins Haus holen, doch er konnte sich nur schwer losreißen. Als wir ihn fragten, ob er wisse, wo die Adresse von Sandras Surferhotel wäre, schüttelte er zunächst den Kopf. Dann ging er mit unserem Zettel von Einem zum Nächsten und fragte sich nach den Informationen durch. Jedem musste er dabei natürlich zunächst von uns erzählen und so kam es, dass seine Frau langsam ungeduldig wurde. Die beiden waren ein äußerst liebenswürdiges Pärchen und unter anderen Umständen wären sie die ersten gewesen, die wir nach einem Schlafplatz gefragt hätten. Heiko erzählte später, dass er auch für einen Moment den starken Impuls gehabt hatte, genau das zu tun. Doch heute war es anders. Wir waren nicht frei wie sonst, sondern hatten uns verabredet. Wir waren verplant. Zumindest im Kopf, denn Sandra wusste ja wie wir unterwegs waren und an sich hätte nichts dagegen gesprochen, einen Tag später bei ihr anzukommen. Im Gegenteil, wären wir unserer Intuition in diesem Moment gefolgt, hätten wir uns viel Ärger und viele Unannehmlichkeiten ersparen können. Doch unser Kopf war zu verschlossen um das Angebot wahrzunehmen.

Vor dem alten Mann hatten wir bereits einige andere Menschen nach dem Weg gefragt, die uns immer in etwa die gleiche Richtung geschickt hatten. Auch dass was unser Kaiserslauterer herausgefunden hatte, stimmte damit überein. Wir mussten unter der Absperrung und zwischen der Gruppe von Omas hindurch und dann der Straße bis ans Meer folgen. Von da aus war es dann nicht mehr weit. Die Omas wussten bereits von unserer Geschichte und auch von unserem Ziel und hielten als wir kamen die Absperrung nach oben. Dann wünschten sie uns Mut und Kraft und Glück! Es war ein tolles Gefühl, fast so als würden wir zu einer schwierigen Mission aufbrechen und bekämen dafür die ganze geballte Kraft des Heimatortes mit auf den Weg. Zu diesem Zeitpunkt hätten wir noch nicht geglaubt, wie nötig wir sie tatsächlich hatten.

Am Strand begann dann das Chaos. Niemand kannte hier die exakte Adresse des Hotels. Wir wurden nach links, dann wieder nach rechts und schließlich wieder nach links geschickt, so lange, bis wir fast durchgedreht wären. Das Hotel wollte einfach nicht auftauchen. Schließlich riefen wir Sandra an und baten sie, uns entgegen zu kommen. Jetzt, erst jetzt, stellten wir fest, dass wir die ganze Zeit ein Phantom gejagt hatten.

Sandra hatte uns die alte Adresse des Hotels geschickt. Das Schild mit der Aufschrift „Surfschule“ gab es noch, doch sonst befand sich hier nichts mehr. Das Surfzentrum mit Unterkunft und Schule befand sich nun außerhalb des Ortes, rund 6km nördlich von hier, genau an der Mündung des Flusses, dem wir 10km lang gefolgt waren. Genauer gesagt lag es in Fão, also genau dem Ort, den wir vor rund drei Stunden durchquert hatten. Nun war es bereits nach 19:00 Uhr und um das Hotel zu erreichen mussten wir noch gut eine Stunde wandern, vorausgesetzt von jetzt an lief alles nach Plan. Hinter uns brauten sich dicke Gewitterwolken zusammen und zogen unaufhaltsam auf uns zu. Wir mussten uns also schnell entscheiden: Schafften wir es noch trocken bis nach Fão oder sollten wir uns hier an Ort und Stelle einen Schlafplatz suchen und Sandra dann morgen in Ruhe besuchen. Heikos Füße und auch seine Ohren waren für letzteres. Auch unsere Gesamtstimmung sprach gegen einen weiteren Marsch. Beide waren wir genervt und hatten eigentlich nur noch Lust auf Ruhe, Essen und Entspannung. Doch obwohl wir uns mitten in einem Ferienort befanden, konnten wir kein Hotel finden, in dem wir hätten fragen können. Lediglich ein Sozialzentrum mit einer Wohnfläche von rund 3000 Quadratmetern lag auf unserem Weg. Doch hier um Unterstützung zu bitten war zwecklos. Hinter der Dame am Empfang hing ein riesiges Bild vom Papst und das Schild mit „Sozial“ an der Tür hätte nicht größer ausfallen können. Doch innen wurde das Wort „sozial“ eher klein geschrieben, denn ohne Kohle lief hier nichts. Daran war nichts zu rütteln.

Als wir weiterwanderten hatte uns der Regen bereits eingeholt. Zunächst waren es nur ein paar Tropfen, dann wurde es immer stärker. Schließlich kamen wir an einer Disko vorbei, die heute aufgrund des Wochentags geschlossen hatte. Dahinter lag ein großer Parkplatz, der sich zum Zelten anbot. Wir selbst waren uns nicht sicher, ob wir ihn nutzen sollten oder nicht und so ließen wir die Münze entscheiden. In der Vergangenheit hatten wir uns schon öfter von ihr leiten lassen, wenn es darum ging, dass wir uns selbst nicht entscheiden konnten. Meist war die Entscheidung der Münze richtig gewesen, doch hin und wieder hatten wir sie auch bereut. Heute war das Universum definitiv nicht in der Stimmung, und eine Botschaft über die Münze zukommen zu lassen. Wahrscheinlich wollte es uns sagen, dass wir uns nicht immer auf Geld verlassen sollen. Wie auch immer, die Wahl war auf jeden Fall beschissen.

Doch das merkten wir erst einige Minuten später. Dann nämlich, als wir im strömenden Regen auf der Parkplatzwiese standen, die Plane und unser Zelt ausgebreitet vor uns liegend, und feststellten, dass es unmöglich war, in diesen Boden einen Hering zu schlagen. Es sah zwar aus wie eine Wiese, doch es war eben doch einfach ein Parkplatz. Und als solcher, bestand der Boden aus reinem, verdichteten Kies.

Da standen wir nun wir zwei begossene Pudel mit einer nassen Plane, einem nassen Zelt und komplett nasser Kleidung. Wir verfluchten uns selbst, den anderen und den anderen und mussten dann irgendwann einsehen, dass alles keinen Zweck hatte.

„Sandra schreibt, ob sie uns eine Pizza mitbestellen soll?“ sagte Heiko mit einem Blick auf unser Handy.

„Ich denke, wir sollten ihr schreiben, dass wir noch eine Weile brauchen, dass wir uns aber sehr über eine Pizza freuen würden!“ sagte ich. Dann packten wir alles wieder ein und wanderten weiter. Abgesehen davon, dass wir nun mehrere Kilo Wasser mit uns herumschleppten, hatte uns die Aktion also nichts gebracht.

Von der Wiese aus irrten wir noch eine ganze Weile durch verschiedene Ortschaften und erreichten schließlich die Brücke, die über die Lima führte. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu dem Strand an den wir wollten.

Doch auch vor Ort gestaltete sich die Hotelsuche schwieriger als erwartet. Das Camp war nirgendwo ausgeschrieben und Menschen zum Fragen gab es hier nicht. Sandra hatte uns am Nachmittag einige Fotos vom Eingangsbereich und von der Straße per Facebook geschickt und diese waren nun unsere einzigen Hinweise, denn auch Straßennamen konnte man nirgendwo finden.

„Diese Holzpfeiler dort sind die gleichen wie auf dem Bild!“ nahm Heiko unsere erste heiße Spur auf. Die Häuser dazu passten jedoch nicht. Schließlich wurden wir von einem Mann in einem weißen Bully überholt. Wir winkten und hofften, dass er uns vielleicht weiterbringen konnte. Doch er fuhr einfach an uns vorbei. Wenig später hielt er an, stoppte und kehrte zurück.

„Ihr seit die Freunde von Sandra, oder?“ fragte er, „Sorry, ich hab euch erst nicht erkannt. Es ist nicht mehr weit! Immer geradeaus bis ihr zu einem grünen Tor kommt. Ich hab keine Zeit! Ich muss Pizza abliefern und die wird sonst kalt. Wir sehen uns!“

Dann rauschte er davon. Wir wussten nun aber, dass wir unser Ziel fast erreicht hatten. Doch seine Wegbeschreibung erwies sich als nicht besonders Hilfreich, denn wenige Meter weiter kamen wir an eine T-Kreuzung. Die Aussage „Immer geradeaus“ war damit hinfällig. Vom Lieferwagen war keine Spur. Also ließen wir uns von unserer Intuition leiten und schlugen den Weg nach links ein. Wenig später überholte uns ein weiteres Auto. Diesmal stoppte es gleich und gab mir die Gelegenheit auf erstklassischem Portugiesisch zu Fragen, ob ihr eine Frage stellen durfte. Der Mann im Wagen antwortete auf Deutsch mit Berliner Dialekt, dass wir es nicht mehr weit bis zum Ziel hatten. „Nur noch ein bisschen Rauf und Runter! Dann seit ihr da Jungs!“ rief er und fuhr weiter. Erst jetzt fielen mir das Berliner Kennzeichen und die Aufschrift mit „Element Fish“ auf seinem Wagen auf. Element Fish war der Name des Camps den uns Sandra zuvor per SMS geschickt hatte. Wir waren nun also fast am Ziel. Doch auch der zweite junge Mann hatte kein wirklich gutes Gefühl dafür, was eine wirklich gute Wegbeschreibung war. Die Straße gabelte sich noch zwei oder drei Mal, und wieder war es unsere Intuition, die uns leitete. Dann sahen wir Sandra, die uns entgegengelaufen kam. Sie umarmte uns und begrüßte uns freudig, wenngleich mit einem schlechten Gewissen wegen der falschen Adresse. Als wir auf der Veranda des Camps ankamen, war es bereits kurz nach neun Uhr abends, also rund fünf Stunden später als wir eigentlich gedacht hatten. Dafür hatten wir das Blumenfest sehen und den alten Mann kennenlernen dürfen. Und nun wurden wir mit einer ordentlichen Portion Pizza empfangen, die für alle bisherigen Strapazen entschädigte.

Die übrigen Campgäste und auch die Leiter saßen im Aufenthaltsraum und schauten Fußball. Sandra und wir setzten uns auf die Veranda und erzählten von dem, was seit unserer Trennung in Santiago geschehen war. Kurze Zeit später gesellte sich Marina zu uns, die uns ebenfalls über unsere Reise und deren Hintergründe befragte. Dabei kamen wir schließlich auch auf unsere Recherchen über die unterschiedlichen Giftstoffe zu sprechen und auf die Frage, was man dagegen tun konnte. Marina wollte am liebsten sofort eine allumfassende Lösung haben, was man ihr nicht verübeln konnte. Wir suchten ja auch nach einer Lösungsform, doch hatten auch wir noch kein passendes Patent gefunden.

„Theoretisch ist es ja ganz einfach!“ sagte ich, „Wir haben als Menschheit ja viele tausend Jahre ohne giftige Zusatzstoffe in unserer Nahrung und ohne giftige Verpackungen um sie herum gelebt. Wir könnten es also jederzeit wieder genauso machen. Wir müssten dann nur all unsere Nahrung wieder selbst anbauen oder in Regionen ziehen, in denen es noch unberührte Natur gibt, von der wir leben können.“

„Na toll, und wie soll ich das machen?“ fragte Marina, „Ich kann doch keinen Garten auf meinem kleinen Balkon anpflanzen!“

„Genau das ist der Punkt!“ sagte ich, „es ist THEORETISCH ganz einfach! Niemand zwingt dich dazu, in einer Stadt mit einem kleinen Balkon an deiner Wohnung zu leben. Du könntest genauso gut aufs Land ziehen. Doch das würde bedeuten, dass du dein Leben von Grund auf ändern müsstest. Theoretisch wäre es kein Problem, die Bedingungen dafür sind vorhanden, aber die Frage ist, ob du dafür bereit bist.“

„Das würde ja bedeuten, dass ich dort ganz alleine leben müsste! Ich glaube nicht, dass ich damit zurecht käme!“

„Ein sehr guter Einwand!“ sagte Heiko, „Das ist eines der wichtigsten Themen. Wenn Menschen wirklich aussteigen und autark in den Wäldern Kanadas oder sonstwo leben, dann ist dies immer das größte Problem. Man ist mit sich selbst alleine und das bedeutet auch, dass man mit sich selbst klarkommen muss. Und man muss sich überlegen, ob man wirklich auf den Kontakt zu Menschen verzichten will. Dies ist auch der Grund, warum wir nicht ausgestiegen sind, sondern durch Europa reisen und auf unsere Weise mit dem System leben. Wir wollen es erforschen und mehr darüber lernen, aber wir wollen auch den Kontakt zu den Menschen nicht ganz verlieren.“

Wir sprachen noch eine Weile über die unterschiedlichen Möglichkeiten innerhalb und außerhalb des zivilisierten Gesellschaftssystems zu leben, als wir Plötzlich durch eine Stimme unterbrochen wurden, die von der Theke her kam. Der junge Mann, der uns als letztes mit dem Auto überholt hatte, begann damit uns vorzuwerfen, dass wir keineswegs autark leben würden. Wir hätten eine Ausrüstung dabei, die aus lauter Kunstfaserjacken mit Goretexmembranen und aus lauter Highteghgerümpel bestünde. Das würde uns absolut unauthentisch machen und wenn er der Teilnehmer eines unserer Seminare wäre, würde er kein Wissen von jemandem Annehmen wollen, der so abhängig vom System sei.

In Heiko begann es zu brodeln. Jeder hatte das Recht auf seine eigene Meinung und wenn der Mann an der Theke zu unserem Gespräch seinen Anteil beitragen wollte, dann war das vollkommen in Ordnung. Doch er war dem Gesprächsverlauf bisher keinen Millimeter gefolgt und hatte nicht zugehört, worum es eigentlich gegangen war. Stattdessen hatte er sich anhand von einigen wenigen Wortfetzen ein Urteil gebildet und hatte uns dieses Urteil an den Kopf geknallt, ohne zu wissen wer wir waren. „Wenn du Kasper nicht richtig zuhören kannst, dann misch dich nicht einfach in ein Gespräch ein, von dem du keine Ahnung hast und urteile nicht über Leute, die du nicht kennst!“ fuhr Heiko ihn an.

Das Wort „Kasper“ war zu viel für den jungen Berliner. „Was fällt dir ein, mich in meinem eigenen Haus Kasper zu nennen! Ich glaub ich wird nicht mehr! Nur weil du keine Kritik vertragen kannst...“ Ich erinnere mich nicht mehr im einzelnen an den genauen Gesprächsverlauf und will hier auch niemandem Worte in den Mund legen, die er nicht gesagt hat. Doch die Kernessenz war folgende: Heiko war angepisst, weil der Mann ihn verurteilte, ohne wirklich zuzuhören und der Mann war angepisst weil er glaubte, dass wir uns groß aufspielten und ihn, den stellvertretenden Leiter des Camps beleidigten. Das jedenfalls war der oberflächliche Konflikt. Alex, so hieß der Berliner, hörte mit seiner Fluchtirade nicht wieder auf und die Situation bekam immer mehr unangenehme Spannung.

„Ich denke wir gehen und suchen uns einen anderen Platz für die Nacht!“ raunte mir Heiko zu und ich muss sagen, dass mir die Idee in diesem Moment äußerst vernünftig vorkam. Die Atmosphäre hatte einen eisigen Tiefpunkt erreicht und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie jemals wieder auftauen konnte. Hier zu übernachten fühlte sich einfach nicht gut an, auch wenn es uns wegen Sandra leid tat, die extra alles für uns organisiert hatte.

Wir standen auf und zogen unsere Schuhe wieder an. Nun stiegen auch Alex Freundin und ein weiterer Mann aus seinem Team mit ein und warfen uns fehlende Kritikfähigkeit vor.

Heiko meinte, dass es nichts mit fehlender Kritikfähigkeit zu tun hatte, sondern damit, dass es sich als Gast hier nicht wohl fühle. Er sei zumindest indirekt über Sandra ein zahlender Gast und so gehe man mit Gästen einfach nicht um.

Alex hatte seine Theke nun verlassen und kam zu uns an den Tisch. Seine Stimmung hatte sich wieder etwas gefangen, als er merkte, dass er gerade dabei war, zwei Kunden zu verlieren. Er erklärte noch einmal seine Position und langsam kam durch, worum es ihm wirklich ging. Er war gleich von Beginn an sauer gewesen, weil wir uns auf der Terrasse mit Sandra unterhalten hatten, ohne uns bei den anderen vorzustellen. Das war ein berechtigter Kritikpunkt, wenngleich man sagen muss, dass auch er als Gastgeber keine Anstalten gemacht hatte um uns zu begrüßen. Das Fußballspiel interessierte uns nicht und wir wollten die anderen dabei nicht stören, also war es uns auch nicht in den Sinn gekommen, in den Aufenthaltsraum zu gehen. Später war Alex dann zu uns gekommen, hatte seinen Namen genannt und nach unseren gefragt und wollte wissen, wie lange wir unterwegs sein wollten. „Keine Ahnung, vielleicht so dreißig oder vierzig Jahre!“ hatte ich im scherzhaften Ton geantwortet und Heiko hatte ernsthaft „Zunächst 5 Jahre“ ergänzt. Bei Alex war jedoch „4 Tausend Jahre!“ angekommen und er hatte diese Antwort zurecht als befremdlich und übertrieben empfunden. Doch der Kernschlüssel für unseren Disput hatte an einer tieferen Stelle gelegen, die mir erst später bewusst geworden war. Er selbst hatte nach einem Ausstieg aus dem System gesucht und hatte lange Zeit geglaubt ihn hier mit seinem Surfercamp gefunden zu haben. „Ich habe immer Urlaub! Ich lebe von dem Geld, was mir die arbeitende Bevölkerung aus Deutschland mitbringt!“ hatte er gesagt und später in einem anderen Kontext meinte er dann: „Oft denken die Menschen, ich mache hier Urlaub. Aber dies ist meine Arbeit! Urlaub mache ich im Winter, denn der Laden hier geschlossen hat. Es ist mein Job, mit den Gästen schwimmen zu gehen, ihnen die coolsten Strände zu zeigen, ihnen das Surfen beizubringen und mit ihnen zu schauen, wo es hier Delfine gibt.“ Er hatte es so gesagt, als wäre es wirklich sein Traum, den er hier lebte, doch seine Augen sagten dabei etwas anderes. Er schämte sich dafür, dass er sich hier ein schönes Leben auf Kosten der Touristen machte, die dafür in Deutschland ackern mussten. Gleichzeitig spürte er aber auch, dass sein Leben bei weitem nicht der Traum war, den er sich vorgestellt hatte. Es war nicht so, dass wir dieses Gefühl nicht kannten. Sein Lösungsansatz war der gleiche gewesen, den wir mit unserer Wildnisschule verfolgt hatten. Wenn wir unser Hobby und unsere Leidenschaft zum Beruf machten, dann musste dies der Himmel auf Erden werden. Dann konnten wir mehr über die Natur lernen, wir konnten im Wald leben, uns von Wildnahrung ernähren, die uns automatisch heilte, konnten klettern gehen, Kanutouren machen und vieles mehr. Das war die Idee, mit der wir die Schule starteten. Doch schon bald mussten wir erkennen, dass wir in erster Linie ein Unternehmen waren, das seine Brötchen verdienen musste. Wir verbrachten mehr Zeit hinter dem Schreibtisch als je zuvor in unserem Leben und wenn wir in den Wald kamen, dann waren wir meist so mit den Teilnehmern beschäftigt, dass wir selbst kaum noch etwas wahrnehmen konnten. Für jeden anderen sah es aus, als lebten wir unseren Traum, doch für uns selbst fühlte es sich nicht so an. Nicht anders erging es Alex mit seiner Surfschule. Sie hatte als Traum vom Aussteigerleben im Süden begonnen doch nun war sie ein Business, das am Laufen gehalten werden wollte. Sie wurde der Grund, warum er das Aussteigen letztlich aufgab. Es spürte, dass es unmöglich war. Und dann kamen wir und erzählten in seinen Ohren, dass wir den Ausstieg ein für alle Mal geschafft hatten, dass wir unabhängig vom System lebten und dass uns das alles nichts mehr anging. Und während wir damit prahlten, standen die beiden Wagen, vollbepackt mit Zivilisationsgütern, demonstrativ hinter uns. Das musste ihn zur Weißglut bringen.

Doch Zuhören war leider nicht sein Ding. Heiko setzte immer wieder an, um ihm zu erklären, dass er uns missverstanden hatte und dass es uns bei unserem Gespräch um etwas ganz anderes gegangen war, doch er wurde immer wieder unterbrochen.

„Ich pack das nicht!“ sagte er schließlich gereizt und stand auf. „Tobi, du bist der Mediator von uns beiden, sag du doch auch mal etwas dazu!“

Der Satz reichte aus, um mir eine kleine Lücke in der Redeflut zu verschaffen und es gelang mir tatsächlich, Alex zu erklären, dass wir zurzeit am gleichen Punkt standen wie er. Wir wollten nicht mehr als normales Rad im System mitwirken, doch wir waren noch nicht bereit es ganz hinter uns zu lassen. Wir stellten uns nicht über ihn und seinen Lebensstil, wir kreideten ihm nichts an, wir machten uns nur unsere Gedanken und stellten Fragen. Und abgesehen davon wollten wir ihn vorhin nicht beim Fußballspiel stören und waren eh zu kaputt nach der langen Wanderung um groß etwas von der Außenwelt mitzubekommen, was nichts mit unserer Pizza zu tun hatte. Irgendwie verrauchte die aggressive Spannung im Raum wieder und schließlich entschieden wir uns, die Nacht doch hier zu verbringen.

Später erzählte uns Sandra, dass sie in Bezug auf das Surfcamp bereits so eine Vorahnung gehabt hatte, als sie ihren Urlaub buchte. Die Rezessionen im Internet waren alle positiv gewesen, nur einer hatte geschrieben, dass ihm der Umgangston etwas zu rau war. Sie hatte die Bedenken beiseite geschoben und sich gesagt, dass es wahrscheinlich nichts zu bedeuten hatte, doch das ungute Bauchgefühl war geblieben. Als sie dann schließlich hier angekommen war, hatte sie dann sofort gespürt, was der Autor der Rezession gemeint hatte. Das Problem war nicht, dass die Betreiber unfreundlich oder unsympathisch waren, sie waren nur einfach mit sich selbst nicht zufrieden und dies hatte sie deutlich gefühlt. Etwas brodelte unter der Oberfläche.

Der Plan für heute war es eigentlich, weiter an den Recherchen über Alltagsgifte und deren Ausleitung zu arbeiten, doch wie gesagt, die Wirklichkeit ist immer eine Parodie auf den Plan....

Spruch des Tages: Wer plant verliert

 

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe 26 km

Gesamtstrecke: 3420,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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