Tag 174: Grüne Tomaten

von Franz Bujor
24.06.2014 18:59 Uhr

Als wir in der Früh aufwachten, trommelte der Regen gegen unsere Fensterscheibe. Wenn es hier in Portugal einmal regnete, dann regnete es eben richtig. Heiko eillte nach draußen auf den Balkon, wo er seine Unterhose und seine Socken zum trocknen hingehangen hatte. Sie waren noch genauso nass wie nach dem Waschen. Meine hatte ich ins Bad gehängt, aber ihnen ging es nicht besser.

Bis wir mit dem Zusammenpacken unserer Sachen fertig waren hatte der Regen wieder aufgehört. Noch immer war es bewölkt und es machte den Eindruck als hätte die Welt vor, irgendwann im Laufe des Tages unterzugehen. Es dauerte rund eine halbe Stunde, bis das erste Mal die Sonne durchkam. An einer kleinen Mauer machten wir Rast, um uns mit Sonnencreme einzuschmieren. Dabei wurden wir heimlich von einer Oma beobachtet, die offensichtlich gefallen an den jungen Kerlen gefunden hatte, die dort vor ihrem Haus standen. So unauffällig wie möglich lugte sie mit einem Auge um die Ecke ihres offenen Fensters nach draußen. Zunächst gelang ihr das ganz gut, doch als wir damit anfingen unsere inzwischen doch recht gut durchtrainierten Beine auf eine Mauer zu stellen und die Sonnenmilch darauf zu verteilen, wäre sie um ein Haar aus dem Fenster gefallen. Bis zu dem Moment, in dem wir ihr zuwinkten, glaubte sie dennoch, dass sie noch nicht entdeckt wurde. Nun lächelte sie breit und winkte fröhlich zurück. Erst als wir schon ein gutes Stück entfernt waren, holte sie ihren Mann dazu, damit er auch einen blick auf die seltsamen Reisenden werfen konnte. Doch den ersten Anblick, den musste sie alleine genießen...

Seit wir die Hauptstraße verlassen hatten, wanderten wir durch in ein großes Gemüse-Anbaugebiet. Bis zum Horizont leuchteten die weißen Planen der Gewächshäuser und dazwischen verteilten sich große Felder mit Zwiebeln, Salat und Blumenkohl. Es war eine sehr arme Gegend, die von lauter Kleinbauern bewirtet wurde. Auf den ersten Blick wirkte es fast wie eine Szene aus einem vergangenen Jahrhundert. Die Bauern und Bäuerinnen bestellten ihre Felder von Hand und mit Hacken und Spaten. Traktoren sah man nur selten. Doch bei genauerer Betrachtung gab es zu viel moderne Agrarsünden als das man wirklich an eine antike Bauernidylle hätte glauben können. Es roch intensiv nach Düngemitteln und Pestiziden und auch unser Freund Plastik hatte an allen Ecken und Enden Einzug gehalten. Die Salatköpfe wuchsen auf Plastikfolien, damit man sie nicht so sehr von Erde befreien muss. Wie wollen wir jemals auf eine kunststoff- und weichmacherarme Ernährung achten, wenn das Gemüse bereits damit in Kontakt kommt, bevor es auch nur geerntet wird. Doch das krasseste kam erst noch. Zunächst wunderten wir uns darüber, dass es in keinem der Gewächshäuser reife Früchte gab. Die Sonne schien hier regelmäßig seit Monaten und alles reifte und gedieh vor sich hin, wie also konnte es sein, dass die Tomaten und die Gurken soweit hinten an standen? Dann jedoch sahen wir mehrere Pick-Ups, die kistenweise grüne Tomaten geladen hatten. Heiko vermutete erst, dass man sie zum auskochen verwendete. Er kannte dies noch von seiner Mutter. Wenn die letzten Tomaten im Herbst nicht mehr Reif wurden, weil die Sonne dafür nicht ausreichte, dann konnte man sie grün verkochen und eine Art Mus daraus machen. Doch was wollten die Menschen mit solchen Mengen von grünem Tomatenmus? Noch dazu in einer Zeit, in der die Tomaten ohne jede Frage reifen würden, wenn man sie nur ließ. Es war klar, das dies nicht die Lösung sein konnte.

Plötzlich fiel es uns wie Schuppen von den Augen! Dies waren die Tomaten für den Export! Wir wussten ja, dass viele Früchte, die wir in Deutschland aßen grün geerntet wurden und dann auf dem Weg weiterreiften. Dazu wurden sie meist in Plastik verpackt und mit einem chemischen Reifegas umgeben, dass wie fast alle chemischen Stoffe höchst wahrscheinlich absolut unbedenklich für unsere Gesundheit ist. Doch diesen Prozess hier noch einmal live mitzuerleben war etwas anderes, als es einfach nur zu wissen. Was wir dann jedoch entdeckten schlug dem Fass endgültig den Boden aus. Zwischen den Gewächshäuser gab es Kompost- und Abfallhaufen, die voll waren mit reifen Früchten. Wir trauten fast unseren Augen nicht, aber es war genau das, wonach es aussah. Sobald eine Frucht zu früh reif wurde, wurde sie aussortiert. Rote Tomaten wurden ebenso weggeworfen wie reife Gurken oder anderes reifes Gemüse. Dass ein großer Teil der Feldfrüchte aussortiert wird, bevor er überhaupt in die Handelskette kommt, war uns ja bereits bekannt. Doch bislang hatten wir nur gewusst, das zu kleine oder zu große Früchte, bzw. solche mit der falschen Form auf dem Kompost landeten. Aber reife Früchte? Das war zu absurd um es noch irgendwie begreifen zu können. Klar, es machte auf eine verquere Art Sinn, denn eine reifgeerntete Tomate wäre Schimmelig, bis sie auf dem üblichen Handelsweg in den deutschen Supermärkten landete. Doch konnte man die Früchte dann nicht wenigstens hier verkaufen oder selbst essen? Unser Wirtschaftssystem ist so absurd geworden, dass man sich nur noch an den Kopf fassen kann. Wir mussten an den Kinderarzt aus dem Surfercamp denken, der gesagt hatte, dass wir in Deutschland doch ein super System hatten, über das man sich nicht beschweren könne. Auf der einen Seite hatte er ja Recht. Oberflächlich gesehen geht es uns dort prima. Doch darf man dabei auch nicht vergessen, welchen Preis wir für dieses System zahlen. Im Durchschnitt hält sich jeder Deutsche durch seinen Lebensstil rund 28 Sklaven, die seine Produkte herstellen. Wir denken nicht darüber nach, weil wir sie normalerweise nicht sehen können, weil sie irgendwo am anderen Ende der Welt für uns arbeiten.

Hier in Portugal waren die Bedingungen noch verhältnismäßig gut, denn die Menschen wurden für ihre Arbeit bezahlt und konnten davon noch einigermaßen Leben. Doch auch sie atmeten die Spritzmittel ein, die sie ohne Mundschutz mit Handspritzen auf ihren Feldern verteilten. Auch sie litten unter den Folgen der Krankheitserregenden Gifte, mit denen sie täglich hantierten. Es war uns bereits in den letzten Tagen aufgefallen, dass die Portugiesen im Schnitt noch weitaus ungesunder waren als die Spanier. Menschen mit amputierten Beinen traf man fast täglich und auch diejenigen, die noch beide Beine hatten, hatten häufig Gehprobleme. Viele sahen deutlich älter aus, als sie waren, viele hatten Lungenprobleme und chronischen Husten. Überall lagen Atemgeräte und Inhalationsgeräte gegen Asthma herum. Diabetes und Atemwegserkrankungen waren also an der Tagesordnung. Und dies in einem Land, das so fruchtbar und reichhaltig war, wie kaum ein anderes. Doch die Böden waren durch die Überwirtschaftung bereits Übersäuert. Immer wieder kamen wir an Feldern vorbei, auf denen Kalk verteilt wurde, um wieder ein Säuren-Basen-Gleichgewicht herzustellen. Dies ist eines der Herkunftsländer unserer Supermarktfrüchte, auf die wir in Deutschland so stolz sind. Doch genau hier schließt sich auch der Kreis. Denn die Gifte bleiben nicht in Portugal. Sie kommen mit den Tomaten, den Gurken, den Zwiebeln und allen anderen Feldfrüchten nach Deutschland, wo wir sie dann als unsere tägliche Giftdosis verspeisen. 1,5kg reines Gift dessen Toxizität vergleichbar ist mit der von Arsen nehmen wir jährlich durch unsere Nahrung, die Luft und die Kleidung zu uns. Ein Arzt auf den wir bei unseren Recherchen zum neuen Buch gestoßen sind, hat dazu eine Studie mit einem erschreckenden Ergebnis herausgebracht. In den letzten zehn Jahren lag die Zahl der untersuchten Menschen, die eines natürlichen Alterstodes gestorben sind bei 0%! Es gibt niemanden mehr, der einfach an Altersschwäche stirbt. Bevor dies geschieht holt uns der Krebs, das Herzversagen, eine Kreislaufschwäche, die Diabetes oder eine andere Krankheit. Dies ist der Preis, den wir für unser gut funktionierendes und lobenswertes System in Deutschland zahlen. Das heißt nicht, dass das System deswegen grundwegs schlecht sein muss. Es hat viele Vorteile. Doch sollten wir uns den Preis dafür auch einmal vor Augen führen.

Mitten zwischen den Feldern entdeckten wir plötzlich ein Haus, dass nicht im Geringsten in den Stil der Gesamtumgebung passen wollte. Es handelte sich dabei um eine Bar und da wir außer etwas Obst und einer Gurke vom Kompost noch nichts gegessen hatten, sahen wir sie als eine Einladung an.

Unser Eindruck hatte uns nicht getäuscht. Auch die Barfrau passte nicht im geringsten hier her. Sie war Kanadierin und war vor etwas mehr als 25 Jahren nach Portugal gezogen. Sie sagte es nicht direkt, ließ aber durchblicken, dass sie damals von zu hause weggelaufen war. In Portugal hatte sie dann ihren Mann kennengelernt, ihn geheiratet und zwei Kinder bekommen. Ihre Tochter war nach Frankreich ausgewandert, ihr Sohn lebte noch immer hier. Warum sie ausgerechnet hier in dieser Agrarwüste gelandet war, konnte sie nicht sagen und es war nicht zu übersehen, dass es ihr hier nicht im Geringsten gefiel. Früher musste es hier einmal schön gewesen sein, doch mit der Wirtschaftskriese hatte das Land all seinen Charme verloren. Jetzt war sie umgeben von Gewächshäusern und halb zerfallenen Betonbaracken. Im Fernsehen kam eine Doku über Toronto, ihre Heimatstadt. Sie folgte dem Bericht fast sehnsüchtig. Er war übrigens wirklich interessant. Toronto befindet sich nämlich auf einer Gesteinsschicht, die von den Gletschern konstant verschoben wird. Der Boden bewegt sich also ununterbrochen. Damit man trotzdem Hochhäuser bauen kann, muss man besondere Konstruktionen in den Boden einsetzen, die die Häuser stabil halten, obwohl sich der Untergrund bewegt. Trotz dieser skurrilen Verhältnisse werden in Toronto mehr Hochhäuser gebaut, als in jeder anderen Stadt Nordamerikas.

Die Frau erzählte uns, dass sie gerne solche Dokumentationen sah. Auch über Reisende und Auswanderer. Dabei schaute sie traurig vor sich hin.

Nachdem wir die Bar verlassen hatten, folgten wir der Straße immer weiter in Richtung Meer. Hier änderte sich das Landschaftsbild plötzlich. Die Felder und Gewächshäuser verschwanden und wurden durch Hochhäuser ersetzt, die sich an der Strandpromenade entlangreihten. Der Strand selbst war schön, doch das was die Menschen aus ihm gemacht hatten, zählte zu den hässlichsten Dingen, die wir je gesehen hatten. Alles hier war tot. Es war wie eine Geisterstadt bestehend aus Hochhäusern und Plattenbauten. Der Gehweg bestand aus großen Steinplatten, die bei jedem Schritt klapperten, weil sie nicht fest verlegt worden waren. Direkt daneben verlief die Hauptstraße. Wir sahen uns nach Hotels um, die noch immer in Betrieb waren, konnten aber keine finden. Bars und Restaurants gab es wie Sand am Meer, Übernachtungsmöglichkeiten hingegen gab es keine. Auch Touristen konnten wir nicht finden. Alle Menschen, denen wir begegneten waren Einheimische. Unter anderen Bedingungen war dies ein Anblick über den man sich eigentlich hätte freuen sollen, doch dies war ein absolutes Touristengebiet. Die Strände waren voll von kleinen Sonnendächern, die man mieten konnte, von denen jetzt aber nur noch die Gerüste standen. Normalerweise hätte der Strand damit locker 10.000 Menschen Schatten spenden können, doch es war niemand da. Wären wir hier im Winter angekommen, dann hätte uns das nicht im Geringsten verwundert, aber jetzt war die Hauptsaison. Wenn hier irgendwann einmal Touristen auftauchten, dann doch jetzt. Aber wo hätten sie auch bleiben sollen? Auf dem ganzen, rund 8 Kilometer langen Weg bis nach Vila do Conde sahen wir nur drei Hotels. Was war hier passiert? Früher musste es wirklich einmal eine Urlaubsgegend gewesen sein, doch heute konnte man sich das kaum noch vorstellen.

Die trostlose Atmosphäre wurde durch das trübe, graue Wetter noch einmal deutlich verstärkt. Als es erneut zu regnen begann, konnten wir uns gerade noch unter den Sonnenschirm eines verlassenen Strandcafés retten. Wie eine unheilvolle Drohung lag die dunkle Wolkendecke über dem Meer und der Küste. Blitze zuckten vom Himmel, dicht gefolgt von dröhnenden Donnerschlägen. Damit war das Ambiente einer Geisterstadt perfekt.

Erst in Vila do Conde gab es wieder etwas mehr Leben. Hier trafen wir zwar auch keine Touristen, dafür überquerten wir aber ein Schützenfest mit lauter, unrhythmischer Musik. An einer Imbissbude fragten wir nach einem Mittagessen. Eigentlich hatten wir auf einen Döner spekuliert, doch der Verkäufer hatte einen anderen Plan. Er hielt uns eine riesige Tüte mit Brot hin. Sie war etwa so groß wie ein XXL-Sack mit Holzkohle und auch genauso schwer. Wir sollen sie ganz mitnehmen, meinte er. Als wir ablehnten war er fast ein bisschen Traurig. Schließlich sah er aber ein, dass es keinen Zweck hatte, alles mitzuschleppen und er reichte uns eine kleinere Tüte mit einem Teil seines Geschenks.

Kurze Zeit später erreichten wir das Hostel Bellamar, in das wir für die Nacht eingeladen wurden. Die beiden Schwestern, die das Hostel leiten, empfingen uns herzlich und gaben uns ein schönes, ruhiges und gemütliches Zimmer. Hier konnten wir einem weiteren Regenschauer vorerst entkommen.

Spruch des Tages: Friede beginnt damit, dass jeder von uns sich jeden Tag um seinen Körper und seinen Geist kümmert. (Thich Nath Hanh)

 

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe 19 km

Gesamtstrecke: 3448,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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