Tag 175: Scheiße gelaufen

von Franz Bujor
25.06.2014 21:33 Uhr

Es gibt Tage, an denen wünscht man sich, man wäre nie aus dem Bett gestiegen. Und dann gibt es Tage, an denen beginnt die Misere bereits, wenn man sich ins Bett legt.

Unser kleines Hostel war klasse uns wie sich herausstellte brauchten wir es auch dringender als gedacht. Am Abend belohnten wir unsere Muskeln nach getaner Arbeit mit einer Massage, die jedoch zum Teil so schmerzhaft war, dass wir es kaum aushielten. Es schien als hätte der Entgiftungsprozess, den wir durchs Wandern täglich anregten nun endgültig unsere Muskeln erreicht. So verspannt zu sein, war eigentlich kaum möglich. Anschließend machten wir eine Meditationsreise, bei der wir unseren Körpern auf energetischer Ebene einen Filter gaben, um zwischen Giftstoffen und nahrhafter Nahrung zu unterscheiden. Die Idee war, unseren Organismus so zu schulen, dass er die Giftstoffe in der Nahrung gar nicht erst aufnahm, sondern lediglich die guten Bestandteile herausfilterte. Oder aber, dass die Giftstoffe auch in positive, heilende Nährstoffe verwandelt werden würden. Kriegsgefangene hatten es geschafft, über viele Jahre hinweg nur mit einer Hand voll rohen Reis pro Tag zu überleben, ohne Mangelerscheinungen zu bekommen, allein dadurch, dass sie dem Reis durch Meditationen mehr Energie gegeben hatten. So etwas musste doch auch mit anderen Lebensmitteln möglich sein. Wie sich später zeigen sollte, funktionierte das offensichtlich besser als gedacht.

Sowohl Heiko als auch ich waren nach der Wanderung und den Ereignissen der letzten Tage ziemlich erschöpft und freuten uns darauf, den Abend in Ruhe bei einem Film ausklingen zu lassen. Außerdem hatte ich ein leichtes Unwohlsein im Bauch, dass nicht so recht verschwinden wollte.

Mit der Ruhe wurde es jedoch nichts, denn in den Straßen draußen herrschte Krieg. Zunächst dachten wir wirklich, das alte Segelschiff würde die Stadt mit Kanonen beschießen. Dann merkten wir, dass es sich um Feuerwerk handelte. Bis nach ein Uhr in der Nacht schrillte der Lärm durch die Fenster herein, als befänden sich die Menschen direkt auf dem Gang des Hotels. Seltsame, russisch Anmutende Musik erklang, gefolgt von Rufen und erneutem Feuerwerk. Dann klang es, als würden zwei Bands gleichzeitig gegeneinander spielen und alles war wirklich so laut, als befänden wir uns mitten im Spektakel. Wären wir etwas fitter gewesen, hätten wir sicher einmal vor die Tür geschaut um zu sehen, was es mit dem Tumult auf sich hatte. Doch so waren wir lediglich ein wenig ärgerlich darüber, dass es uns beim Filmschauen störte. Erst am nächsten Morgen erfuhren wir von einer Pilgerin, die mit uns im Hostel wohnte, worum es am Abend gegangen war. Es war das Fest des Soão Paol, dass zurzeit überall in der Gegend gefeiert wurde. Die Stadtbewohner von Vila do Conde trugen dabei einen Disput mit den Bewohnern der umliegenden Dörfer aus. Eine Partei war in grün, die andere in rot gekleidet und jede hatte ihre eigene Band. Wir hatten uns, was das Bandbattle anbelangte also nicht getäuscht. Die beiden Parteien trafen in der Mitte der Stadt aufeinander, trugen dann ihren Disput in einem tänzerischen Showkampf aus und gingen anschließend gemeinsam zum Strand. Dort feierten sie, kamen dann in die Stadt zurück und starteten das ganze Spektakel von neuem. Einige der Tanz-Kämpfer hatten nach dem zweiten Mal dann jedoch etwas mehr Alkohol im Blut und bekämpften ihren Schowfeind aus Versehen wirklich. Doch solche Zwischenfälle gehörten zum Event dazu. Jede Gefechtsrunde wurde mit einem Feuerwerk beendet.

Bereits zu Beginn unseres musikalisch untermalten Filmabends fing mein Magen immer stärker zu rebellieren an. Er rumorte als wollten sich meine Gedärme einmal komplett neu ordnen. Als draußen langsam Stille einkehrte war es dann bei mir soweit. Wie ein geölter Blitz musste ich zur Toilette rennen und kam gerade noch rechtzeitig. Eine Darmreinigung war ein Dreck dagegen. Die ganze Nacht über ging es dann so weiter. Immer wenn ich mich gerade hingelegt hatte, musste ich kurz darauf wieder aufspringen. Einmal musste ich mich sogar übergeben. Danach waren aber immerhin die Magenkrämpfe etwas besser. An Schlafen war so gut wie gar nicht zu denken. Wenn mein Magen für einen Moment Ruhe gab, dass trieb mich mein Kopf umher. Im Minutentackt warf ich mich von einer Seite auf die nächste und wieder zurück.

Heiko erging es nicht viel besser. Er hatte zwar keinen Durchfall und musste auch nicht kotzen, doch dafür dröhnte ihm der Schädel zum Zerplatzen.

Als am Morgen die Sonne aufging, fühlten wir uns wie gerädert. Lange Zeit rätselten wir, was uns so ausgeknockt hatte, bis wir schließlich auf den Übeltäter stießen. Wir hatten am Abend einige der Wurstbrötchen gegessen, die wir von dem Jahrmarktstand bekommen hatten. Diese waren nicht mehr die frischesten gewesen und die Wurst hatte wahrscheinlich schon etwas mehr Sonne abbekommen, als gut für sie war. Eines stand aber definitiv für uns fest: Eine lange Wanderung würde es heute nicht werden! Leider gab es noch ein paar höhere Mächte, die bei dieser Entscheidung ein paar Takte mitzureden hatten. Doch dazu später.

Müde und ausgelaugt schleppten wir uns nach unten zur Rezeption. Die freundliche, junge Dame grüßte uns fröhlich und fragte, ob wir noch frühstücken wollten, bevor wir abreisten. Großartig nach etwas zu essen war uns nicht, aber ein Tee und ein trockener Toast konnte vielleicht nicht schaden.

Im Speisesaal trafen wir dann auf Joan, die junge Pilgerin, die uns vom nächtlichen Festival erzählte. Sie reiste gemeinsam mit ihrem Freund und zwei weiteren Freunden von Porto aus nach Santiago. Ihre Pilgerreise war dabei ein Schulprojekt. Die vier kamen aus Bielefeld und besuchten dort eine Laborschule, bei der allerlei neue Formen des Lehrens ausprobiert wurden. Darunter waren auch verschiedene Projekte, die die Schüler im Laufe ihrer Ausbildung selbst gestalten konnten. Vom Wandern nach Santiago bis hin zum Herstellen von Seife ohne Chemikalien war hier alles möglich.

Joan erzählte uns außerdem noch von einer Geschichte, die ihr gestern Vormittag passiert war. Sie waren am Strand entlanggewandert, als plötzlich ein Vater mit seinem Sohn auf sie zukam. „Wie heißt du?“ fragte er sie auf Portugiesisch. „Joan!“ hatte sie geantwortet.

„Ist dein Nachname Boal?“ fragte der Mann daraufhin.

Überrascht schaute sie auf. Das stimmte tatsächlich. Woher wusste er es und was wollte er von ihr? War er vielleicht ein verschollener Verwandter? Er wartete nicht lange, bis er die Situation aufklärte. Aus seiner Tasche zog er Joans Portmonee. Sie hatte es in der letzten Herberge verloren und der Mann hatte es gefunden. Er war daraufhin mit dem Auto den ganzen Weg bis hier her gefahren und hatte sich an den Jakobsweg gestellt, um nach einer Frau Ausschau zu halten, die aussah wie die auf dem Passfoto in der Geldbörse. Ehe Joan noch etwas sagen konnte, war der Mann wieder verschwunden. Einen Finderlohn wollte er nicht. Es gab eben doch noch wahrhaft ehrliche und großherzige Menschen auf diesem Planeten.

Langsam wurde es Zeit, dass auch wir uns auf den Weg machten. Nachdem wir unsere Wagen die Treppe herunter bis auf die Straße getragen hatten, waren wir bereits wieder so kraftlos, dass wir uns am liebsten direkt wieder ins Bett gelegt hätten. Doch etwas Bewegung konnte wahrscheinlich nicht schaden. Zunächst glaubten wir nicht an diesen Satz, den wir versuchten uns selbst einzureden. Doch im Laufe des Tages wurde es wirklich etwas besser.

Von Vila do Conde aus marschierten wir über eine Brücke und versuchten dann möglichst schnell wieder ans Meer zu kommen. Ganz so einfach wie gedacht, war dies jedoch nicht, denn die Portugiesen waren mit ihrem Strand noch abstrakter umgegangen, als die Spanier. Weite Strecken waren mit plattenbauartigen Betonbunkern zugepflastert, durch die sich verschachtelte Straßen schlängelten. Direkt am Strand entlang gab es nur selten einen Weg. Ein weites Stück konnten wir über einen Palisadenweg direkt durch die Dünen gehen. Dann endete der Weg abrupt und führte uns zurück in die Stadt. Dass die meisten Gebäude hier leer standen und nicht genutzt wurden, konnten wir nur schwer nachvollziehen. Wie konnte man einen so schönen Strand haben und ihn nicht nutzen. Ihn gar nicht zu nutzen war ja vollkommen in Ordnung. Dann blieb er einfach natürlich und schön, so wie es in dem Vogelschutzgebiet der Fall war, das wir durchwanderten. Aber ihn mit hässlichen Betonklötzen zu verschandeln und diese dann wieder verfallen zu lassen, machte einfach keinen Sinn. Die komplette Infrastruktur um ein Billig-Urlaub-Paradies für Party- und Pauschalreisende zu erschaffen, war bereits vorhanden. Etwas Farbe, einige Reparaturen und eine gute Werbekampagne würden genügen. Doch stattdessen lebten die Menschen hier in Armut und beklagten sich über die schlechte Wirtschaft. Ganz nachvollziehbar war das nicht.

Bislang war der Jakobsweg in Richtung Fatima immer mit blauen Pfeilen gekennzeichnet gewesen. Hier jedoch gab es in beide Richtungen gelbe Pfeile. Diese Tatsache wurde uns heute zum Verhängnis. Wir folgten unserem Weg bis zu einer Kreuzung und von hier aus wiesen die Pfeile nach links. Rein vom Gefühl her wären wir nach rechts gegangen, aber die Pfeile würden schon wissen, was sie taten.

Die Erschöpfung war deutlich spürbar. Appetit hatten wir keinen und wann immer sich eine Gelegenheit bot, setzten wir uns irgendwo an eine Mauer. Leider konnten wir nirgends einen guten Schlafplatz ausmachen und so liefen wir doch eine deutlich weitere Strecke, als wir eigentlich wollten. An einer Ampel fragten wir eine ältere Frau nach einer Feuerwehrstation oder etwas ähnlichem. „Immer gerade aus!“ sagte sie, „es ist aber noch ein ordentliches Stück!“ Wie in Spanien und Portugal üblich wiederholte sie das ganze rund fünf Mal und am Ende murmelte sie noch etwas von Vila do Conde.

Im Weitergehen blieb das letzte Wort wie ein dunkler Schatten in meinem Kopf hängen. „Vila do Conde“ War das nicht der Ort, in dem wir die letzte Nacht verbracht hatten? Der nächstbeste Passant wurde nach dem Weg gefragt. „Geht es hier in Richtung Porto?“ fragte ich. Wie befürchtet schüttelte der Mann den Kopf. „Nein, Porto liegt genau in der entgegengesetzten Richtung. Wir konnten es nicht fassen! Seit einer knappen Stunde wanderten wir nun auf einer Hauptstraße aus Kopfsteinpflaster, die so laut war, dass wir es kaum aushielten. Jetzt, wo wir sie endlich hinter uns gelassen hatten, mussten wir sie komplett wieder zurückgehen? Als Alternative gab es nur die Nationalstraße, die aber trotzdem noch leiser war, als die Steinpisste. Denn die Autos rasten zum Teil mit 100km/h über das Kopfsteinpflaster.

Schließlich bot sich die Chance die Nationalstraße zu verlassen und auf eine kleine Straße zu wechseln die näher am Strand entlang verlief. Als wir um eine Ecke boten trauten wir unseren Augen nicht! Wir befanden uns genau auf dem kleinen Dorfplatz, auf dem wir am Mittag eine kurze Pause gemacht hatten. Das war nun bereits mehr als drei Stunden her! Und von hier aus hatten wir noch immer nicht den Punkt erreicht, an dem wir in die falsche Richtung abgebogen waren. Wir wanderten also auf exakt dem gleichen Weg zurück, den wir vor Stunden in die andere Richtung genommen hatten.

Doch eine positive Seite hatte unsere Ehrenrunde auch. Denn durch sie lernten wir Mia kennen, eine Pilgerin aus Polen, die gerade ihr Auslandssemester in Portugal absolviert hatte. Zum Abschluss hatte sie sich heute Morgen auf den Jakobsweg gemacht. Sie lud uns ein, sie zu besuchen, wenn wir durch Polen wanderten und meinte, dass sie uns gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester vielleicht einmal besuchen würde. Lustig wäre es ja, wenn wir durch diesen verplanten Tag, der uns komplett aus der Bahn geworfen hatte wirklich neue Reisegefährten gewinnen würden.

Als wir endlich wieder auf dem Teil des Weges waren, den wir nicht schon einmal in die falsche Richtung gelaufen waren, mussten wir feststellen, dass er in unsere Richtung gar nicht markiert war. Verstehen konnten wir das nicht, denn immerhin war Fatima ein wichtiger Pilgerort in Portugal. Warum also gerade die Portugiesen den Weg zu ihrem eigenen Heiligtum ignorierten und stattdessen nur das spanische Pilgerziel anpriesen, leuchtete uns nicht ein.

Das Problem an dieser Gegend war, dass es sich bei ihr nun bereits um die Vorregion von Porto handelte. Damit gab es zwar jede Menge bebaute Fläche, jedoch keinerlei Übernachtungsmöglichkeiten. Nicht einmal einen Platz zum Zelten konnten wir finden, da jeder unbebaute Flecken Erde mit Mais bepflanzt war. Unser Versuch uns in einem christlichen Sozialzentrum einzuquartieren schlug ebenso fehl, wie der beim Pfarrer und der in einem Veranstaltungshaus. Erschöpft, müde und ratlos standen wir auf der Straße und schauten uns fragend nach einer Lösung um. Plötzlich öffnete sich hinter mir ein Fenster und eine Frau schaute heraus. Als ich ihr unser Problem schilderte, bot sie uns erst ihren Innenhof für unser Zelt und dann ein unbenutztes Gästezimmer an. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Heiko jedoch war skeptisch. Die Dame war nett, hatte aber ein gutes Dutzend Hunde, die uns wild ankläfften. „Nach einem ruhigen Platz sieht das hier nicht aus!“ murmelte er. Doch die Hunde blieben im Garten und gaben nach einiger Zeit Ruhe. Anders war es mit den Flugzeugen, die alle vier Minuten über unsere Köpfe hinwegfliegen. Bleibt nur zu hoffen, das Portugal ein Nachtflugverbot hat.

Morgen geht es dann nach Porto, der zweitgrößten Stadt Portugals. Freuen tun wir uns darauf noch nicht wirklich, denn eigentlich wäre uns viel mehr nach einem gemütlichen Spaziergang durch Wälder und kleine Dörfchen. Doch wie wir es auch drehen und wenden: Porto liegt nun einmal in unserem Weg.

Spruch des Tages: Scheiße gelaufen!

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe 26 km (Direkte Strecke: 12km)

Gesamtstrecke: 3474,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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