Tag 186: Besuch aus der Heimat

von Franz Bujor
08.07.2014 00:10 Uhr

In den letzten Tagen war es immer wieder vorgekommen, dass ich Kaninchen am Wegesrand gesehen habe, die Heikos Augen verborgen geblieben waren. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise entdeckte er Tiere und andere Wesen meist deutlich schneller als ich. Wenn ich sie überhaupt sah.

Das erste mal hüpfte das kleine Langohr vor mir eine Böschung hoch und versuchte in das Eingangsloch seines Baus zu springen. Drei Mal rutschte es dabei ab und landete wieder auf dem Boden, bevor es ihm gelang, sich in seiner Höhle zu verstecken. Gestern kreuzte ein kleiner Hüpfer eine Seitenstraße rechts von unserem Weg und verschwand genau in dem Moment, in dem Heiko meinem Ruf folgte und seinen Kopf in die entsprechende Richtung drehte. Beide Begegnungen wären mir nicht als besonders auffällig aufgefallen, wenn Heiko mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Doch jetzt, wo wir am Abend noch etwas Zeit hatten, bis die beiden Mädels ankamen, schauten wir einmal in unserem Tierdeutungsbuch nach.

Das Wildkaninchen macht einen als Bote darauf aufmerksam, dass man sich zu sehr von seinen Ängsten leiten lässt und dass man versucht diese zu verleugnen, anstatt sie sich anzusehen. Vor allem in Beziehungen oder in der zwischenmenschlichen Kommunikation bestimmen diese Ängste das Handeln und bringen einen davon ab, wirklich zu sich selbst zu stehen. Um sich weiterentwickeln zu können, ist es wichtig, sich die Ängste zunächst einmal einzugestehen und sie sich genau anzuschauen. Oftmals sind es alte Ängste aus der Kindheit, die heute keine reale Bewandtnis mehr haben. Das Buch riet dem Kaninchenbeobachter, sich in den entsprechenden Situationen neben sich zu stellen und sich selbst einmal dabei zuzuschauen, wie man sich verhält. Worin besteht die Angst genau? Warum ist sie da und wie kann man sich ihr stellen?

Ich musste zugeben, das ich mich mit dieser Beschreibung sehr stark angesprochen fühlte. Gerade in Begegnungen mit anderen Menschen hatte ich oft Angst davor, meine eigene Meinung und meinen Stadtpunkt zu vertreten. Vor allem aber fiel es mir schwer, meine Gefühle zu zeigen.

Ehe ich noch recht über die Worte nachdenken konnte, klingelte unser Handy. Es war Heidi, die gemeinsam mit ihrer Freundin Caro vor unserer Tür stand und uns bat, herunterzukommen. Die beiden Frauen hatten das Trampen schließlich aufgegeben und waren das letzte Stück mit dem Taxi hier her gefahren. Der Taxifahrer hatte sie dann vor der Tür zu unserer Pension abgesetzt. Wir begrüßten die beiden und ich bat den Hotelbesitzer darum ein Zimmer für die Frauen zu buchen. Sie bekamen ein Doppelzimmer auf der anderen Seite des Ganges. Zunächst überlegten wir, ob wir noch gemeinsam in die Stadt gehen sollten, um dort etwas zu essen. Doch die beiden Mädels waren nicht übermäßig hungrig und wir hatten unser Abendessen ja bereits bekommen. Als wir dann später über Lebensmittel und die darin enthaltenen Zusatzstoffe sowie die krankmachenden Auswirkungen von Zucker und Weißmehlprodukten sprachen, hatte sich das Thema Essen zumindest für Caro heute eh erledigt. Irgendwie war ihr der Appetit vergangen. Warum auch immer.

Heidi und Caro hatten sich vor einiger Zeit während einer Australienreise kennengelernt und unternahmen seitdem immer wieder gemeinsame Reisen und Urlaube. Die letzte Woche waren sie in der Nähe von Lissabon in einem Surfercamp gewesen. Morgen mussten sie mit dem Flieger zurück nach hause um dann wieder zur Arbeit zu gehen. Heidi war selbstständige Eventmanagerin, arbeitete jedoch nebenbei in einem Camping- und Outdoorfachhandel in Neumarkt und als dritten Job in der Firma ihres Vaters. Caro war Physiotherapeutin. Sie hatte vor kurzem ihre Ausbildung beendet und arbeitete nun in einer Praxis. Dabei hatte sie das Glück, dass ihre Chefin ihr viel Zeit für Anamnesegespräche zur Verfügung stellte. So konnte sie immer auch herausfinden, welche Ursachen hinter den Schmerzen ihrer Patienten verborgen lagen. Oftmals war sie dabei auf schockierende Krankheitsvorgeschichten gestoßen, bei denen die Patienten durch die behandelnden Ärzte überhaupt erst krank gemacht worden waren. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Patienten unnötigerweise Operiert werden. Vor allem künstliche Gelenke und Rückenoperationen werden so oft gemacht, einfach weil die Ärzte eine Quote erfüllen müssen. Der Patient braucht es nicht im Geringsten und leidet dann hinterher unter den Folgen. Oder auch die Medikamente, die die Menschen bekommen. Meine älteren Patienten nehmen im Schnitt pro Tag fünf oder mehr Medikamente, von denen keiner weiß, wie sie im Zusammenspiel auf den Körper wirken. Jedes Medikament hat ja an sich schon unendlich viele Nebenwirkungen, aber wenn man sie kombiniert, dann kann niemand auf der Welt mehr sagen, was mit uns dadurch passiert.“

Wir saßen den ganzen Abend und noch bis tief in die Nacht hinein im Zimmer der beiden Frauen und redeten. Irgendwann stellte Heiko die Frage, was die beiden dazu brachte, dass sie fest an einem Ort leben wollten.

„Wir werden häufig gefragt, warum wir uns für eine Leben als Nomaden entschieden haben, da können wir ja auch einmal fragen, warum sich die anderen Menschen für ein Leben in der Sesshaftigkeit entscheiden,“ erklärte Heiko seine Frage.

Caro antwortete, dass es ihr wichtig war, irgendwo eine sichere Basis zu haben. Sie wollte schon immer wieder Reisen, doch brauchte sie das Gefühl irgendwo ein sicheres Plätzchen zu haben, an das sie zurückkehren konnte. Vor allem aber hatte sie Angst vor der Einsamkeit als Reisende. Heidis Antwort war ähnlich. Sie wollte den Kontakt zu ihrer Mutter und zu ihren Freunden nicht verlieren und brauchte das Gefühl, dass sie von Menschen umgeben war, die sie gut kannten. Als wir fragten, warum sie die Menschen nicht auf ihre Reise mitnehmen wollte, schüttelte sie energisch den Kopf und lachte. „Nein, nein, das wäre auch nicht das richtige. Ich mag sie, aber immer will ich sie auch nicht dabei haben.“

Am Morgen schliefen wir zunächst einmal ordentlich aus. Dann kamen wir auf die Idee, dass wir Caros Festplatte nicht nur mit Filmen sondern auch mit unserem Fotomaterial aus dem letzten halben Jahr bespielen konnten, um so eine Sicherungskopie mit in die Heimat zu schicken. Das ganze dauerte gut zwei Stunden und so kam es, dass wir erst kurz vor 12:00 aus unserer Pension auscheckten. Die beiden alten Herrschaften waren schon etwas ungeduldig, aber da keine neuen Gäste auf der Matte standen entspannten sie sich gleich wieder. Da die Mädels für ihren Flieger zurück nach Lissabon mussten, suchten wir zunächst eine Busstation. Leider gab es dort keinen Fahrplan und auch von den Einheimischen konnte uns niemand mit Gewissheit sagen, ob am Sonntag ein Bus fuhr oder nicht. Die beiden wollten ihr Glück daher wieder mit dem Trampen versuchen. Ich hoffe, dass sie damit diesmal mehr Erfolg hatten, denn bislang haben wir noch nichts von ihnen gehört.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten setzten wir unseren Weg in Richtung Fátima fort. Diesmal war es, als wären wir in einer völlig neuen Welt gelandet. Statt lauten Straßen und vermüllten Ruinenstädten kamen wir heute durch einen Canyon. Hier herrschte zum ersten Mal in Portugal absolute stille. Das Gefühl war gigantisch und plötzlich wussten wir wieder, warum wir losgezogen waren, um die Natur kennenzulernen. Sicher konnte man es in einer großen, lärmenden Stadt aushalten aber wenn man an einem solchen Ort wie diesem saß, dann musste man sich einfach fragen, warum man das tun sollte. Die Natur hatte hier eine Kraft, die wir fast nicht mehr für möglich gehalten hatten. Es dauerte nur wenige Minuten und sofort fühlten wir uns freier und ausgeglichener. Der Weg blieb den Rest des Tages so natürlich. An einigen Stellen übertrieb er es ein wenig und führte uns mitten durch die Wildnis, ohne dass er überhaupt noch ein Weg war, aber ansonsten waren wir von der Landschaft absolut begeistert.

Am Abend kamen wir nach Rabaçal, einem kleinen Ort in dem wir nach einer Übernachtungsmöglichkeit fragten. Die Pilgerherberge wollte jedoch nichts von uns wissen und lehnte uns entschieden ab. Dafür bekamen wir etwas Wasser und Käse in den beiden Bars des Ortes. Anschließend verließen wir den Ort um uns einen kleinen Zeltplatz in den Olivenhainen zu suchen. Hier machte auch das Zelten wieder Spaß. Auf einem Kleinen Rundgang fand Heiko einige Zwiebeln, etwas Lauch, eine Gurke und ein paar Kartoffeln, aus denen wir uns über dem Kocher unsere erste Outdoorsuppe der Reise zubereiteten. Es war ein leckeres Essen und dazu auch noch das gesündeste, das wir seit Tagen gegessen haben.

Spruch des Tages: Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut (Perikles)

Höhenmeter: 140 m

Tagesetappe 14 km

Gesamtstrecke: 3688,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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