Tag 202: Endlose Savanne

von Franz Bujor
22.07.2014 18:37 Uhr

 

Noch 3 Tage bis zu Tobias 1. Weltreisegeburtstag

 

Der einzige Platz, an dem wir ein offenes WLAN-Netz ausfindig machen konnten, war ein Bürgersteig vor einer kleinen Schlachterei. Dort setzten wir uns in den Schatten und arbeiteten. Für die vorbeikommenden Leute waren wir damit wieder einmal eine Attraktion. Jemand, der auf dem Bürgersteig sitzt, musste ein Penner sein. Doch diese Penner hatten Laptops und das passte irgendwie nicht zusammen. Außerdem saßen sie auch noch so im Weg, dass man über sie drübersteigen oder auf die Straße ausweichen musste. Es dauerte nicht lange, das hielt ein Polizeiauto neben uns und fragte uns, was wir denn hier machten. Wir könnten leider nicht dort sitzen bleiben, weil wir den Gehsteig blockierten und sich die Menschen deshalb beschwert hätten.

„Das tut uns leid!“ sagte ich dem Beamten und erklärte ihm, dass wir auch liebend gerne an einem anderen Platz arbeiten würden, wenn es irgendwo Internet gäbe. So gemütlich sei es hier eh nicht.

„Kein Problem!“ sagte der Mann, „gleich gegenüber gibt es ein Jugendzentrum. Dort könnt ihr euch auch ins Internet einwählen.“

„Das haben wir versucht,“ antwortete ich, „aber es hat leider geschlossen und für das Internet benötigt man ein Passwort.“

„Hm, ich denke jetzt müsste es offen haben. Wartet einen Moment, ich schau mal nach!“ mit diesen Worten verschwand der Polizist und kam kurz darauf zurück. „Ihr habt Recht, das Zentrum ist noch geschlossen, aber ich werde kurz nach dem Passwort fragen!“ Er zückte sein Handy und rief irgendwo an, um das Passwort in Erfahrung zu bringen. Als er aufgelegt hatte, sagte er mit einem Grinsen: „Es lautet ‚123456789’. Ich gar nicht so schwer!“

Wir bedankten uns vielmals und wechselten unseren Arbeitsplatz. Dafür, dass uns der Mann eigentlich vertreiben wollte, war er ausgesprochen hilfreich und ungewöhnlich freundlich.

Zunächst hatte der Ortswechsel wirklich etwas Positives. Die Straße war ruhiger, der Boden eben und es gab nicht mehr ganz so viele gaffende Passanten. Doch das blieb nicht lange so. Zum einen bekamen auch die Anwohner mit, dass wir umgezogen waren und so suchten sie sich neue Wege, um uns zu begutachten. Es war fast mystisch, wie sich immer wieder neue Fensterläden und Türen öffneten, aus denen gelangweilte Rentner blickten, um zu sehen, ob wir vielleicht doch gefährliche Feinde waren. Die alten Herrschaften schauten sich kurz um, starrten uns an und verschwanden dann ohne ein Kommentar und ohne auf unsere Grüße zu reagieren. Eine andere Gruppe von Gaffern waren die Autofahrer. Nach rund zehn Minuten, wurde die völlig unbefahrene Straße plötzlich zu einer Art Hauptverkehrsweg, nur dass es immer wieder die gleichen Autos waren, die an uns vorüber zogen. Ein alter Mann in einem grauen Opel schaffte den Rekord, indem er sieben Mal an uns vorrüberfuhr.

Die Tür-Gaffer und die Spaziergänger waren skurril und ein bisschen nervig, aber irgendwie noch ganz lustig. Die Auto-Gaffer waren wegen dem Lärm den sie verursachten schon deutlich störender, aber auch sie waren noch nichts gegen die Besucher des Jugendzentrums selbst. Denn dieses öffnete kurz darauf seine Pforten und lockte damit einen ganzen Strom gelangweilter junger Menschen an. Die Jugendlichen waren noch erträglich. Sie verbrachten die meiste Zeit im Gebäude und kamen nur zum Rauchen nach draußen. Dabei ließen sie jedes Mal die Tür so laut ins Schloss knallen, dass wir unwillkürlich zusammenzuckten. Schlimmer waren jedoch die jüngeren Kinder, die uns ununterbrochen belästigten. Es war nicht so, dass sie zu uns kamen und uns Fragen stellten, weil sie sich für uns interessierten. Es war ein wirkliches belästigen, um vor den anderen Kindern cool dazustehen. Am schlimmsten war ein kleiner Junge mit rotem Pulli und einer großen Brille auf der Nase. Er sprang auf uns zu, betatschte unsere Sachen, stellte immer wieder die gleichen Fragen, wobei er uns fast ins Ohr schrie und versuchte dabei so penetrant wie möglich zu sein. Ein paar Mal versuchte ich ihm freundlich mitzuteilen, dass wir arbeiteten und daher in ruhe gelassen werden wollten. Doch es half nicht das Geringste. Als er dann auch noch Heikos Schuhe klauen wollte, war es genug. Plötzlich und völlig ohne Vorwarnung stauchte Heiko den Jungen so sehr zusammen, dass er einen ordentlichen Satz rückwärts machte. Auch ich erschreckte mich dabei und wenn ich nicht eh schon auf dem Boden gesessen hätte, dann wäre ich wahrscheinlich vom Stuhl gefallen. Heiko sprach Deutsch, doch der Junge verstand seine Warnung trotzdem klarer als alles, was er bisher in seinem Leben gehört hatte. Kleinlaut zog er sich zurück und ließ sich den ganzen Abend nicht mehr blicken. Fürs erste hatten wir jetzt unsere Ruhe.

„Ich versteh das nicht!“ sagte Heiko auf dem Heimweg, „es kann doch nicht sein, dass sich auf der ganzen Welt die Kinder benehmen wie die größten Arschlöcher! Man bekommt doch sofort einen Hass, wenn man ihnen begegnet. Das ist doch nicht normal. Überleg mal zurück, was für Krawallgurken wir in den Kursen hatten. Kinder, die einander fast die Milz aus dem Leib prügeln, Kinder vor denen ihre Lehrer angst haben, Kinder, die mit sechs bereits zwei Mord- und vier Selbstmordversuche hinter sich haben. Das war doch früher nicht so. Und du musst dir ja auch überlegen, was sie sich selbst alles damit zerstören. Ich glaube, dass einige von ihnen heute wirklich ein Interesse an uns hatten, aber wenn sie einem so begegnen, dann hat man einfach keinen Bock sich mit ihnen zu beschäftigen.“

Auf dem Weg zu unserem Staubraum stießen wir noch auf eine andere interessante Sache, die wir nicht so recht verstanden. Es war nun etwa 22:00 Uhr und damit sowohl dunkel als auch deutlich kühler als am Nachmittag. Bis jetzt war die Stadt wie ausgestorben gewesen, doch nun kamen überall die Menschen aus ihren Häusern hervor und setzten sich mit Terrassenstühlen draußen auf den Gehsteig vor ihre Tür. Es gab an einigen Ecken richtige Versammlungen. Die meisten konnten kaum noch laufen, hatten Wassereinlagerungen in den Beinen oder gingen an Krücken. Tagsüber konnten sie sich nicht mehr auf die Straße wagen, da die Hitze für sie einfach zu stark war. Jetzt war die einzige Zeit, in der sie noch ein bisschen leben konnten. Doch warum setzten sie sich hier direkt auf die Straße? Es war überhaupt nicht schön und zwei Ecken weiter gab es einen netten Park.

Dafür dass unser Raum so dreckig war, war die Nacht relativ angenehm. Nur mein Genick freute sich nicht besonders und verspannte sich so sehr, dass ich heute kaum nach hinten schauen kann.

In der Früh füllten wir als allererstes unsere Nahrungs- und Wasservorräte wieder auf. Dabei zeigte sich, dass wir den Menschen in Erinnerung geblieben sind. Als ich in einem Minimarkt und in einem Obstladen nach etwas zum Essen fragte, entgegneten mir die Besitzer, beide Male, dass sie uns von gestern bereits kannten. Auf der Straße merkte ich dann, dass ich schon wieder einen Platten hatte. Während wir ihn reparierten, kam eine Frau und schenkte uns eine Tüte mit Obst. Darunter war eine ganze Wassermelone. Zum Transportieren war sie nicht unbedingt ideal, aber wir freuten uns trotzdem darüber.

Bis wir schließlich loskamen, war es bereits nach 10:00 Uhr und dass obwohl unser Wecker schon um kurz nach acht geklingelt hatte. Vor uns lagen 20km reine Savanne. Trockenes Steppenland ohne einen einzigen Schatten und ohne einen einzigen Rastplatz. Irgendwo auf dieser Strecke überschritten wir unsere 4.000km-Marke. Das Land hier ist absolut beeindruckend und zugleich wahnsinnig anstrengend. Hätten wir hier eines unserer „Ausgesetzt in der Wildnis“-Seminare gemacht, hätte es wahrscheinlich niemand überlebt. Es gab weder Wildkräuter noch Wasser noch hatte man die Chance, ein Tier zu fangen. Selbst wenn einem letzteres mit ein paar Eidechsen gelang, dann war noch immer das Problem, dass man über Kilometer keinen Schatten und keinen Tropfen Wasser finden konnte.

Schließlich kamen wir an einen Berg, an dem es dann doch sogar einige künstliche Teiche für Rinder und Schafe gab. Kurz darauf sahen wir sogar eine Herde Rotwild. Oben vom Berggipfel aus, konnten wir die ganze Steppe in Richtung Norden und Osten überblicken. Es verschlug uns den Atem. Hier gab es nichts mehr. Wohin wir auch sahen, alles war trockene Steppe. Die nächsten fünf Tage würde sich daran auf jeden Fall nichts ändern. Wir sahen unser Ziel für Heute und dahinter auch die Stadt, die wir morgen erreichen wollten. Beide wirkten mickrig und machten nicht den Anschein, als hätten wir dort viele Chancen auf einen Schlafplatz.

Doch man soll nicht vorzeitig Urteilen. Der Ort hatte sogar ein eigenes Schwimmbad und im dazugehörigen Café bekamen wir unseren ersten Mittagssnack. Außerdem erfuhren wir, dass es eine ältere Dame im Ort gäbe, die Lina hieß, und die uns sicher den Kirchenraum zur Verfügung stellen würde. Die erste alte Dame, die ich nach Lina fragte, war so misstrauisch, dass sie mir erst gar nicht zuhören wollte. ‚Wenn hier alle so drauf sind,’ dachte ich mir, ‚dann wird das kein leichtes Unterfangen.’ Doch Lina und ihr Bruder José waren wesentlich offener und hilfsbereiter. Sie freuten sich, dass endlich mal wieder etwas los war und es dauerte nicht lange, da bekamen wir das gesamte Gemeindehaus für die Nacht zur Verfügung gestellt. Für später wurden wir sogar noch auf eine spanische Tortilla eingeladen. Wir sind also wieder angekommen.

Spruch des Tages: Spanien, unendliche Weiten. Die Abenteurer brachen in Gefilde auf, die nie ein Mensch je zuvor gesehen hatte. (Frei nach Startreck)

Höhenmeter: 280 m

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 4013,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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