Tag 243: Saftige Melonen

von Heiko Gärtner
01.09.2014 21:32 Uhr

Zu unserem großen Glück hatte Paco seine Meinung nicht geändert. Als ich ihn anrief, freute er sich und kam uns sogar ein Stück entgegen. Er wohnte zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter in einem großen Anwesen, zu dem auch das Haus seiner Schwiegereltern gehörte. Außerdem gab es einen Pool, einen eigenen Tennisplatz und ein Extrahaus für Partys und Grillabende in dem sich außer Sofas und einer separaten Küche noch ein Billardtisch befand. In diesem Haus durften wir übernachten.

Dass ganz Spanien unter der Krise litt, konnte man also nicht behaupten. Es gab viele Menschen, denen es dadurch schlechter ging, doch ebenso gab es nicht wenige, die keine Problem hatten. Vielleicht ging es ihnen sogar besser als zuvor, doch das können wir natürlich nicht genau sagen. Wie wir erfuhren lebte diese Region hauptsächlich von der Agrarwirtschaft. Hier wurden Melonen, Wein und Oliven angebaut und die wurden überall auf der Welt gebraucht. Die Spanische Krise machte also keinen Unterschied für das Geschäft, da das meiste eh exportiert wurde. Dafür brauchte man sich seine Arbeiter nun nicht mehr unbedingt aus Marokko zu holen, da nun auch viele Spanier bereit waren, für wenig Geld zu arbeiten. Anders als der Bürgermeister uns hatte weismachen wollen, lebten laut Paco und seinem Schwiegervater heute gerade einmal 3 marokkanische Familien in der Gemeinde. Ob die wirklich alle am kommenden Tag zum Bürgermeister gerannt wären, um ihn zu bitten, dass sie ebenfalls in der Turnhalle übernachten dürfen?

In der Nacht hatte Heiko einen Traum, der uns auf eine Idee zum Thema Lernerfolg brachte. Im Traum war er mit seinem alten Mentor Wolf, mit mir und noch mit ein paar anderen Personen zusammen gewesen. An einen Teil des Traumes erinnerte er sich nur noch vage. Es hatte ein Tagebuch von Wolf in den Händen und aus irgendeinem Grund verteilte er aus versehen den ganzen Inhalt über den Boden, dass alles durcheinander geriet und sich neu ordnete. Er konnte nicht mehr genau sagen, was passierte, doch er hatte im Traum das Gefühl, dass er eine neue Art von Mentor werden sollte und würde.

Im zweiten Teil des Traumes ging es um mich. Wolf hatte mir die Aufgabe gestellt, dass ich für jedes Mal, dass ich etwas verdaddelte oder verpatzte 1000 Liegestütze machen musste.

Die Idee erschien nicht schlecht, doch wir entschärften sie etwas und reduzierten sie auf 25 Liegestütze herunter. Zunächst hatte es einen komischen Beigeschmack von Strafe für mich, doch dann stellte ich fest, dass es mir durchaus Spaß machte. Es sorgte zum einen dafür, dass ich es wieder als Spiel wahrnehmen konnte und nicht mehr so verbissen und verärgert auf jeden Fehler reagierte. Zum anderen wollte ich ja eh etwas für meinen Oberkörper tun und wenn ich es auch nicht schaffen sollte, mit dieser Methode meine Verplantheit in den Griff zu bekommen, dann hätte ich zumindest in kurzer Zeit ordentliche Muskeln. Und außerdem konnte ich dabei gleich, den Ärger, der vielleicht doch aufkam wieder abbauen.

Im Laufe der Wanderung kamen wir auf einige weitere Gedanken, zum Thema Lebensveränderung. Die Schwierigkeit dabei ist, dass der Leidensdruck und die Komfortzone zusammenpassen müssen, um uns zu einer Veränderung zu motivieren. Solange der Leidensdruck noch so klein ist, dass wir unsere Komfortzone nicht verlassen müssen, werden wir es in den meisten Fällen auch nicht tun. Wir sehen, dass uns das System Krank macht, dass wir zunehmen und dringend Sport machen sollten. Wir spüren, dass uns das Rauchen nicht gut tut, dass wir vom Zucker abhängig geworden sind und dass er unseren Darm aufbläht. Wir merken, dass die Arbeit uns stresst und dass es nicht gesund für uns sein kann. Doch wir denken dabei stets, dass es so schlimm schon nicht sein wird. Der Teilgewinn ist noch immer höher, als der Gesamtschaden, den wir durch unser Handeln heraufbeschwören. Klar macht das Rauchen meine Lunge kaputt, aber ich werde es ja nicht ewig machen. Irgendwann höre ich schon damit auf und dann wird sich mein Körper ja wieder regenerieren. Ja, der Alkohol zerstört meine Leber, aber ich trinke ja nur ein bisschen, also geht sie auch nur ein bisschen kaputt und ehe es zu viel wird, höre ich ja auf. Nur noch nicht heute. Denn jetzt macht es mir gerade noch zu viel Spaß! Ich will noch Feiern, ich will mich noch ablenken. Ich werde ja meinen Weg gehen, aber heute bin ich noch nicht bereit dazu! Ich brauche noch etwas Zeit! Ich muss dieses eine Projekt noch beenden, ich muss noch soundso viel tausend Euro auf dem Konto haben, damit ich die Sicherheit habe, wirklich durchstarten zu können. Ich will ja lernen, sportmachen und mich entwickeln, aber gerade ist es noch zu anstrengend. Ich muss mich erst noch erholen, dann werde ich schon damit anfangen. Heute habe ich keine Zeit aber morgen oder in einer Woche oder irgendwann werde ich loslegen. Auf diese Weise schieben wir unsere wichtigen Schritte immer weiter auf, in der Hoffnung, sie nie machen zu müssen. Vielleicht werde ich ja gar nicht krank durch mein Süchte und kann sie einfach beibehalten! Vielleicht halte ich den Job ja auch einfach aus und muss gar nicht kündigen und mein eigenes Ding durchziehen. Erst wenn das Leid oder der Druck so groß ist, dass wir unsere Komfortzone ohnehin verlassen müssen, kommen wir überhaupt in die Versuchung, etwas zu verändern. Die vermeintliche Sicherheit, die wir uns aufbauen wollten zerbricht und das Leid des Nichthandelns wird größer als die Angst vor dem Handeln. Dann erst wagen wir den ersten Schritt.

Warum machen wir das? Wäre es nicht viel sinnvoller, beim ersten Anzeichen etwas zu verändern, damit wir überhaupt nie in einen Leidensdruck geraten?

Dass wir im Weinland angekommen sind, wussten wir ja bereits und seit gestern Abend war uns auch bewusst, dass hier ebenfalls die Melonenregion begann. Es wurde uns klar, als wir bei unserer Essens-Erbeutungs-Runde gleich drei saftige Melonen geschenkt bekamen. Zum Abendessen in unserer Gastfamilie gab es dann gleich noch einmal eine und zum Frühstück bekamen wir sogar gleich zwei mit auf den Weg. Nur das Ausmaß dieser Agrarproduktion war uns noch nicht bewusst gewesen. Doch das änderte sich heute schlagartig. Zunächst sahen wir eine Art Wein-Vollerntemaschine, die über die Weinreben fuhr, um die Trauben abzusammeln und sie auf einer großen Ladefläche zu verstauen. Leider konnten wir nicht erkennen, wie die Maschine das machte. Auch erraten konnten wir es nicht, denn in unseren Köpfen gab es kein Szenario, bei dem die Trauben maschinell geerntet werden konnten, ohne den ganzen Weinstock zu zerstören. Später werden wir einmal schauen, ob wir im Internet ein Video darüber finden.

Kurz darauf sahen wir noch zwei weitere Erntetraktoren, die die Weinplantagen in erschreckend kurzer Zeit leerräumten.

„Die können doch nicht einfach unseren ganzen Wein klauen!“ rief ich mit gespielter Empörung, „was sollen wir denn dann die nächsten Tage essen?“

Anders als die Melonenernter gab es auf den Weinfeldern tatsächlich keine einzige Traube mehr, nachdem der Erntetraktor mit den Rebstöcken fertig war. In beiden Orten, die wir an diesem Tag sahen, gab es riesige Weinverarbeitungsanlagen mit gewaltigen Lager- und Gärungstürmen in die locker einige Millionen Liter Wein gefüllt werden konnte. Zwei mal wurden wir von einem Tanklaster überholt, der ebenfalls Wein geladen hatte. Allein diese beiden Laster transportierten zusammen 40.000 Liter Wein. Das ist so viel, dass in ganz Neumarkt jeder Mensch einen Liter trinken könnte. Doch es ist ein Witz im vergleich zu dem, was in den Türmen der Verarbeitungsfirmen lag. Und diese waren sogar noch verhältnismäßig klein.

Spannend war außerdem, dass der fertige Wein in Aluminiumfässern gelagert wurde. Zumindest der günstige für den Supermarkt. Es gab also schon wieder eine neue Aluminiumquelle, die uns bislang nicht bekannt war. Gleichzeitig viel uns auch ein, dass Bier heute ebenfalls sehr häufig in Aluminiumfässern gelagert wird. Vor allem, wenn es dann in Bars und auf Partys frisch gezapft wird.

Und noch etwas fiel uns auf. Alle Plantagen wurden mit einem System aus Plastikrohren bewässert. Es waren dünne, schwarze Rohre, die jeden Tag von der prallen Sonne beschienen wurden, so dass sich die Weichmacher permanent in das Wasser auslagern mussten. Dieses Wasser bekamen dann die Tomaten, Weinreben, Olivenbäume und Melonen zum trinken. Man könnte jetzt sagen, dass dies schon nicht so schlimm sein wird, denn wir haben das Plastik ja eh schon überall. Doch lagern sich die Chemikalien nicht auch in den Pflanzenteilen und gerade in den wasserhaltigen Früchten ab? Was ist, wenn die Konzentration dabei ebenso zunimmt, wie bei Fischen, die sich von kunststoffhaltigem Wasser ernähren? Selbst wenn wir also darauf achten, die Früchte ohne Plastiktüte zu bekommen, können wir den sterilisierenden Weichmachern also kaum noch entkommen.

Ebenso beeindruckend waren jedoch die Melonenfelder. Da man aus ihnen keine Flüssigkeit gewinnen wollte, spielten plötzlich wieder Form und Größe eine Rolle. Ihr Schicksal war also das gleiche, das auch allen anderen Früchten widerfuhr, die ihre Schönheit präsentieren mussten. Sie blieben zu tausenden auf dem Feld zurück. Im ersten Moment konnten wir nicht einmal glauben, dass das Feld überhaupt abgeerntet worden war. Doch die Spuren sprachen eindeutig dafür. Außerdem fehlten alle Melonen, die eine supermarkttaugliche Größe hatten. Auf dem Feld lagen nur noch kleine oder übergroße Exemplare und warteten darauf, dass die Sonne sie verdorrte.

In Socuéllamos war es schließlich die Caritas, die uns weiterhelfen konnte. Wir mussten zwar bis um 18:00Uhr in einem Park warten, bekamen dann aber ein kleines Hostal-Zimmer zur Verfügung gestellt. Die Wartezeit nutzten wir, um im Park ein Mittagessen zu kochen und um einem Mann dabei zuzusehen, wie er mit einem Gartenschlauch sämtliche Wege wässerte. Warum er das machte wissen wir noch immer nicht. Ebenso wie wir beobachten konnten, wurden wir auch ununterbrochen beobachtet. Es schien eine Art Volkssport in Spanien zu sein, Fremde einfach und unverhohlen anzuglotzen. Hätten wir für jeden Glotzer in den vergangenen Monaten nur 5€ bekommen, wären meine Existenzängste auf jeden Fall erledigt.

Spruch des Tages: Wer nicht hören will muss fühlen

Höhenmeter: 30 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 4816,47 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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