Tag 246: Möchtegern-Gangster

von Heiko Gärtner
04.09.2014 15:48 Uhr

 

Coole Getto-Kids sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren! In der Sporthalle, die von gestern auf heute unser Zuhause war, ist das Internet leider ausgefallen. Daher mussten wir zum Berichteinstellen eine andere wLAN-Quelle suchen und die fanden wir neben dem Rathaus vor der Bibliothek. Sie war leicht zu finden, denn hier versammelte sich die ganze Dorfjugend und spielte in ihren Handy. Um die Zeit effektiv zu nutzen nahmen wir gleich unsere komplette Küche mit und bauten sie auf dem Gehsteig auf, um zu kochen.

Zunächst war es recht angenehm. Die Jungs saßen auf der einen Straßenseite und machten ihr Ding, wir saßen auf der anderen und machten unser Ding. Einer von ihnen Spielte ein Onlinespiel und unterhielt mit dem Geklimper die ganze Straße. Aber das lag noch vollkommen im Rahmen. Es verursacht so ein bisschen Game-Boy-Feeling und wir begannen beim Kochen die Tetris-Musik vor uns hinzusummen.

Nach einiger Zeit kamen weitere Jungs hinzu und die Hühnerstange der Smartphone-Süchtlinge wurde immer länger. Es war ein lustiger Anblick, wie all die coolen Kids nebeneinander auf dem Bürgersteig saßen und in ihre Handys starrten. Die Goldkettchen und die Proletencapys leuchteten vom Schein der Displays und der Überschuss an Testosteron, der normalerweise beim Skaten, Bladen, Boarden oder was auch immer abgebaut wurde, musste sich nun mit einem aggressiven Streicheln des Touchpads zufrieden geben. Früher hat man an solchen Plätzen wenigstens gemeinsam gechillt, vielleicht einen durchgezogen oder sich betrunken und mit irgendwelchen verrückten und waghalsigen Tricks geprahlt, für die man sich wahrscheinlich auf´s Maul packte. Doch jetzt saß man eben wie im Altenheim nebeneinander und schwieg sich an. Die einzige Kommunikation, die stattfand bestand darin, dem Sitznachbarn hin und wieder besonders abgefahrene, krasse oder bescheuerte You-Tube-Filmchen zu zeigen und sie mit qualifizierten Bemerkungen wie „Abgefahrn!“, „Krass!“ oder „Schau mal, wie bescheuert!“ zu kommentieren.

Doch all das wäre weder cool noch wirklich gangsterhaft gewesen, wenn man es nicht mit einer passenden Musik untermalt hätte. Denn was wäre ein Rebell, der es nicht schafft, irgendwie unangenehm aufzufallen. Früher wäre an dieser Stelle ein fetter Gettoblaster ins Spiel gekommen, der mit einem anständigen Bass durch alle Wände dröhnt und sogar den Opi in seinem Schaukelstuhl noch zum lässigen Mittwippen animiert hätte. Heute müssen die piepsigen Handylautsprecher herhalten und zeigen was sie so draufhaben. Selbst durch die Dunkelheit und auf die Entfernung hinweg, konnte man sehen, wie die Smartphones vor Scham leicht rosa anliefen und wie sie sich am liebsten in den Hosentaschen ihrer Besitzer versteckt hätten. Denn die Benutzung ihrer Lautsprecher auf diese Weise glich eher einer Vergewaltigung als einem Entertainment. Hätte es noch blecherner geklungen, hätten sich die Handys wahrscheinlich auf der Stelle in Gießkannen verwandelt.

Das wichtigste bei dieser Übung in Sachen moderne Coolness für Anfänger war jedoch, dass niemand die Kontrolle über die Musik abgeben durfte. Das war eben der große Vorteil von Smartphones gegenüber einem Gettoblaster. Bei der alten Bassbox hätte man sich irgendwie einigen müssen. Hier jedoch konnte jeder seine eigene Musik spielen und versuchen, die seiner Nachbarn zu übertönen. Das Ergebnis war eine Art Bandbattle für Arme, nur dass man eigentlich gar nichts mehr heraushören konnte.

Wer den Kampf gegen seine Kontrahenten gewinnen wollte, musste also wirklich harte Geschütze auffahren. Nur den Lautstärkeregler des Handys auf Anschlag drehen, reichte nicht aus, denn die Lautsprecher waren alle in etwa gleich. Um wirklich hervorzustechen brauchte man also eine Musik, die so aggressiv und penetrant war, dass sie sich in den Schädel einhämmerte wie ein Presslufthammer auf Speed.

In unserem Fall gewann ein großer, hagerer Junge mit einem weißen Muskelshirt und einem schiefen Capy das Battle. Er zwang sein Handy gegen dessen ausdrücklichen Wunsch dazu einen techno-ähnlichen Krach zu spielen, die sich aus unterschiedlichen Störgeräuschen zusammensetzte, untermalt mit einer Melodie im Midi-Sound-Format, das vom rhythmischen Klang eines Maschinengewehrfeuers untermalt wurde. Alles zusammen klang in etwa so, als hätte man die schlechteste Musik der Welt mit einer 50fachen Geschwindigkeit abgespult und in eine Dauerschleife gesetzt, damit sie nicht zu schnell Endet. Besser gesagt, damit sie gar nicht endet. Denn in der ganzen Zeit, die wir nach dem Essen noch zum Mails-Checken, Berichteinstellen und Route-Raussuchen brauchten, lief nur dieses eine Lied. Zum Glück lief es nicht schon während des Essens, denn durch den psychischen Stress, den das Schnellfeuergewehr-Handy verursachte, wäre unsere Verdauung wahrscheinlich so stark beschleunigt worden, dass wir uns noch während des Kauens in die Hose gemacht hätten. Doch auch jetzt sorgte die Epilepsie verursachende Musik noch dazu, dass sich unser Herzschlag beschleunigte und dass wir uns nicht mehr richtig konzentrieren konnten.

Als wir fertig waren, kam eine ganze Horde von Mädchen auf ihrem Fahrrad herbeigefahren, die sich den Jungs anschließen wollten. Alle waren deutlich jünger als ihre männlichen Zeitgenossen und es war irgendwie ein komisches Bild, wie sie sich den Möchtegerngangstern an den Hals warfen. Es hatte einen leichten Beigeschmack von Pädophilie und ein leichtes Ekelgefühl kam in uns auf. Vielleicht war alles vollkommen harmlos, aber die Stimmung war definitiv komisch.

Der heutige Tag war ansonsten weitgehend ereignislos. Wir wanderten 19km durch die gleiche Steppe wie immer und bekamen anschließend ein schönes Zimmer im Hotel Juanito in der Stadt La Roda. Als Jackpot gab es dann sogar noch ein leckeres Mittagessen mit Lachs und Suppe dazu. Besser hätten wir es also nicht treffen können. Vielleicht ist unsere Strähne der mühsamen Schlafplatzsucherei ja doch endlich vorbei.

Zwei Dinge gibt es noch zum Weg zu erzählen. Zum einen möchte ich mich bei meinen Schutzengeln bedanken, dass sie mich trotz der vielen Dornen vor einem Platten bewahrt haben.

Zum anderen sind wir heute an einem gigantischen Kalklagerplatz vorbeigekommen. Hier wird der Kalk für die Felder bereitgestellt, der dann von den Bauern verteilt wird. Es scheint eine wirklich wichtige Maßnahme zu sein, bei diesem Mengen an weißem Pulver. Das Problem mit der Übersäuerung der Agrarflächen ist also offensichtlich nicht klein.

Spruch des Tages: Rebellen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.

Höhenmeter: 15 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 4883,97 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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