Tag 248: Albacete

von Heiko Gärtner
06.09.2014 20:55 Uhr

Nachdem wir gestern einen reinen Wüstenwandertag hingelegt haben, kam heute endlich einmal wieder eine Abwechslung ins Spiel. Ok, auch gestern hat sich die Landschaft schon deutlich verändert und es ist auch nicht so, dass den ganzen Tag lang gar nichts passiert wäre. Die Weinfelder und die Olivenplantagen verschwanden und wurden ersetzt durch, ... äh ... Nichts. Es gab einfach nur noch Sand. Viel Sand und wenn man Glück hatte auch noch so etwas wie trockene, steinige Erde. In der Früh wurden wir sogar wieder von einem Sandsturm begrüßt. Er fand zwar, wie der letzte auch, irgendwo anders statt doch der Sand verdunkelte wieder einmal den Himmel und sorgte für eine gediegen apokalyptische Stimmung. Auf dem Weg aus der Stadt fragten wir uns, ob sich die Menschen hier wirklich einen Gefallen damit getan hatten, die Natur, die hier einmal existiert hatte und die den Boden vor der Erosion schützte, durch die endlosen, Agrarwüsten zu ersetzen. Im Moment war das Wetter friedlich und selbst jetzt hatte man den Staub schon in jeder Pore. Was mochte wohl passieren, wenn es einmal einen richtigen Sandsturm gab?

Außer Sand gab es einige von unseren Lieblingspflanzen, die wir in Portugal lieben gelernt hatten. Es waren jene kleinen trockenen Sträucher mit den Dornenkapsel, die auf dem Boden die gleiche Wirkung hatten, wie die Metallkrampen, die von der Polizei immer in amerikanischen Actionfilmen bei Verfolgungsjagden auf die Straße gestreut werden. Vier Mal hinter einander hatte ich einen Platten. Dann kehrte wieder Ruhe ein, wenngleich ich zugeben muss, dass ich den Rest des Tages leicht paranoid wurde und alle drei Meter auf meinen Reifendruck schaute. Sehnsüchtig blicke ich nun dem nächsten Paket entgegen, das in etwa 90km auf uns wartet und in dem sich auch für mich, die Unplattbarmäntel von Schwalbe befinden. Es ist einfach so viel entspannter, mit einem Pilgerwagen wandern zu können, ohne Angst vor jedem kleinen Dornen und jeder winzigen Glasscherbe zu haben.

Von Wegmarkierungen hält man hier offensichtlich nicht mehr besonders viel. Der Jakobsweg ist spärlicher mit Pfeilen ausgestattet als Portugal mit guten Köchen und auch die Lokalen Wanderwege lassen jede Menge Interpretationsspielraum. Wir haben uns ja Möglichkeiten gewünscht, unsere Intuition zu trainieren und hier fehlt es uns daran wirklich nicht. Das gute ist, dass man durch das platte Land alles in einem Umkreis von knapp 50km sehen kann. Man muss also nur auf einen Kirchturm zuwandern und hoffen, dass die Wege dazwischen nicht einfach irgendwo enden. Worauf man dabei natürlich irgendwie achten sollte ist, dass der Kirchturm auch zu dem Dorf gehört, in das man gehen will. Wir waren jedoch so daran gewöhnt, dass es immer nur eine Stadt gibt, dass wir nicht einmal auf die Idee kamen, dass es vielleicht noch eine zweite geben könnte.

Als ich schließlich im Rathaus nach dem Platz in der Sporthalle fragte, war ich komplett überrascht, dass die Frau keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. Wie konnte das sein? Ich hatte doch extra vorher angerufen! Gemeinsam mit einem zweiten Rathausmitarbeiter und dem Bürgermeister suchten sie nach einer Lösung und boten uns schließlich einen Platz im Gemeindehaus an. Erst jetzt, viel auf, dass wir uns in einer völlig anderen Stadt befanden. Die war zwar auch schön, aber hier zu bleiben hätte bedeutet, dass wir am Folgetag mehr als 28km bis nach Albacete hätten laufen müssen. Eine Stadt, die uns mit 160.000 Einwohnern eh schon Angst einjagte.

Wir bedankten uns also herzlich und setzten unsere Wanderung fort. In La Gineta bekamen wir von der Polizei dann wirklich den Platz in der Sporthalle, so wie wir es zuvor telefonisch vereinbart hatten.

Von La Gineta ging es dann heute auf direktem Wege nach Albacete. Und zwar auf wirklich direktem Weg! Denn statt Wüste folgten heute 16km reine Autobahnpilgerei. Im Grunde könnte man sagen, dass wir direkt auf dem Seitenstreifen wanderten. Der einzige Unterschied bestand aus einem dünnen Maschendrahtzaun, der unsere Straße von der Autobahn trennte. Vier Mal versuchte ich, einen Menschen nach einer Alternative zu fragen, doch jeder Mal wurde ich nur erstaunt und mit großen Augen angeschaut. „Warum denn einen anderen Weg? Dieser führt doch direkt nach Albacete!“

„Ja,“ bestätigten wir, „das ist schon richtig! Aber 16km an der Autobahn entlangzuwandern macht einfach keinen Spaß!“

Das Unverständnis in den Augen der Menschen wurde noch größer und ihre Augen fielen ihnen fast aus dem Kopf: „Also wir gehen immer auf diesem Weg!“

Links war die Autobahn, rechts waren die Schienen. Wir waren dazwischen und mussten wohl oder übel damit beginnen, die Situation so zu akzeptieren, wie sie war. Hingabe war schließlich auch ein wichtiges Trainingsfeld.

Nach 16km kamen wir dann endlich in ein schönes, graues Industriegebiet und durften uns von der Autobahn entfernen. Das war nicht gut, aber besser.

Als wir die Innenstadt erreichten, hatten wir erst Mal einen so großen Kohldampf. Da kam uns das Kebab Restaurant „Pita House Albacete“ gerade recht. Der lustige und etwas verplante Verkäufer bereitete uns je eine leckere Dönerbox zu. In der Wartezeit bekamen wir vom gegenüberliegenden Obstladen vier große Tüten mit Obst und Gemüse geschenkt, die so groß waren, dass wir sie kaum tragen konnten. Damit waren wir schon einmal relativ gut versorgt.

Das einzige Problem war jetzt nur noch, einen Schlafplatz aufzutreiben. Dies war vor allem deshalb eine Schwierigkeit, weil morgen die „Feria“ beginnt. Die Feria ist die spanische Variante eines Schützenfestes und in Albacete wird es besonders groß gefeiert. Dementsprechend sind die Betten in der Stadt nahezu alle ausgebucht. Anders als alle Kleinstädte in der Umgebung hat Albacete außerdem keine Pilgereinrichtungen sondern lediglich eine Obdachlosenunterkunft, in denen man als Pilger ebenfalls übernachten durfte. Eine Option war das sicherlich, doch unsere Lieblingsvariante war es nicht. Wie sich zeigte, war es im Endeffekt auch nicht nötig. Der freundliche Besitzer des „Hostal Atienzar“ bot uns eine entspannte Alternative an. Wenn bis um 18:00Uhr noch ein Zimmer frei ist, dann können wir dort übernachten. Wenn nicht, dürfen wir unsere Matten im Esszimmer ausbreiten.

Den Nachmittag nutzten wir für einen Stadtspaziergang. Wenn man Albacete mit wenigen Worten beschreiben will, dann könnte man sagen, es ist eine Stadt mit dem besonderen Nichts! So gesehen passt sie also perfekt in diese Gegend.

Die Sehenswürdigkeiten waren in einer halben Stunde abgeklappert und so schlenderten wir noch eine Weile über den Volksfestplatz. Hier wurde gerade die Feria aufgebaut, die mich erstaunlich stark an Guatemala erinnerte. Es gab unterschiedlichste Fahrgeschäfte, Fressbuden, Losstände und alles was sonst zu einem typischen Schützenfest dazu gehört. Vor allem natürlich jede Menge Buden mit allerlei buntglitzernden Kinkerlitzchen, die niemand auf der Welt jemals brauchen würde. Damals in Guatemala war ich schockiert darüber, wie sehr sich die Einheimischen mit diesen Feria-Geschäften übernahmen. Die Armut dort war bei weitem größer als die hier in Spanien, doch auf den Festen musste man jeden Blödsinn kaufen, um seinen Nachbarn und Freunden zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Selbst wenn man es sich eigentlich nicht leisten konnte.

Genau wie es sich die Nachbarn und die Freunde eigentlich nicht leisten konnten, jedoch genau das gleiche dachten. Die Fahrgeschäfte in Guatemala waren damals diejenigen gewesen, die in den USA keine Zulassung mehr bekommen haben. Sie waren alt, rostig, ausrangiert und bei weitem nicht mehr sicher gewesen, doch für ein Dritte-Welt-Land schienen sie noch immer gut genug zu sein. Damals hatte es mich erschreckt, wie leichtsinnig mit derartigen Dingen umgegangen wird, nur weil das Land etwas ärmer war. Doch damals hätte ich nicht geglaubt, dass diese Art der Feste keine lateinamerikanische Sache waren. Hier in Spanien haben sie in allen Bereichen den gleichen Charakter und das sogar bis hin zu den Sicherheitsstandards der Fahrgeschäfte. Auch diese hier waren alt, rostig und heruntergekommen. Auch sie wirkten, als wären sie bereits vor Jahren in Deutschland ausgemustert worden, weil sie den TÜF nicht mehr bestanden haben.

Auffällig war auch, dass wieder eine große Angst unter den Menschen herrschte. Die Standbetreiber verbarrikadierten alles doppelt und dreifach und sogar die Zeltplanen wurden mit Schlössern verspannt, damit sie niemand lösen kann. Wahrscheinlich war die Angst nicht unbegründet, denn auch wir selbst hätten am Abend nicht auf der Feria sein wollen. Spanien befindet sich in einer permanenten Krise und die Armut nimmt immer mehr zu. Weil die Spanier jedoch noch immer zu stolz sind, um sich für einen Hungerlohn auf den Feldern komplett ausbeuten zu lassen, holt man sich noch ärmere Menschen aus dem Ausland hinzu. Und jetzt veranstaltet man ein großes Fest um all die frustrierten und hoffnungslosen Menschen an einen Ort zu locken, um ihnen auch noch den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen, in dem man ihnen ein kurzes Hochgefühl gibt. Dazu gibt man allen eine ordentliche Portion Alkohol und hofft, dass niemand aggressiv wird. Klingt das für euch nach einer guten Idee?

Auf dem Heimweg wurden wir dann noch von Don Pollo auf ein Abendessen eingeladen. Nach allem was wir aufgrund unserer letzten Erfahrungen in großen Städten von Albacete befürchtet hatten, ist der Tag also richtig gut gelaufen.

Spruch des Tages: Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen. (Johann Wolfgang von Goethe)

Höhenmeter: 10 m

Tagesetappe: 24 km

Gesamtstrecke: 4922,97 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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