Tag 249: Bedingungslose Liebe

von Heiko Gärtner
08.09.2014 02:17 Uhr

Am Anfang und am Ende des Tages haben wir zwei Beobachtungen gemacht, die gemeinsam die Schere zwischen Arm und Reich in Spanien nicht noch besser hätten illustrieren können.

Auf unserem Weg aus der Stadt kamen wir an einem Glascontainer vorbei. Er hatte eine winzige Öffnung, die gerade groß genug war, dass man seinen Kopf hindurchstecken konnte und aus dieser Öffnung schaute uns ein Mann entgegen. Seine Frau stand außen vor dem Container und nahm die Pfandflaschen entgegen, die er ihr reichte. Ohne schnittfeste Kleidung und ohne Schutzhandschuhe stand er bei 34°C im Schatten in dieser Plastiktonne und durchwühlte die klebrigen Scherben nach Centbeträgen.

Einige Stunden später hatten wir nach einer langen Wanderung den Ort Chinchilla erreicht. Ja, er heißt wirklich so, das haben wir uns nicht ausgedacht. Dort bekamen wir vom Pfarrer einen Gutschein, den wir in einem Hostal gegen ein Doppelzimmer und zwei Mittagsmenüs einlösen konnten. Der Speisesaal glich wieder einmal einer Bahnhofshalle zur Rushhour und der Kellner gab sich alle Mühe eine Goldmedaille im Unfreundlichsein zu gewinnen, doch das Essen war gut und reichlich. Zumindest wenn man von den vielen Knochensplittern in der Suppe absieht, aber dafür waren wenigstens keine Haare darin.

Am Nachbarstisch saß eine vierköpfige Familie, die versuchte, sich gegenseitig mit genervten und gelangweilten Gesichtsausdrücken vom Stuhl zu werfen. Eine Konversation gab es nicht, aber dafür gab es ja genug andere Menschen im Restaurant, die einander anschrien. Als die vier ihr Mahl beendet hatten, holte der Vater ein etwa zwei Zentimeter dickes Geldbündel aus seiner Hemdtasche und zog einen der vielen Fünfziger daraus hervor, den er achtlos auf den Tisch warf. Dann stopfte er den Rest des Geldes zurück in die Hemdtasche und stand vom Tisch auf. Sein Sohn und seine Frau folgten ihm sofort, seine Tochter mit einigem Abstand. Der Kellner warf ihnen ein falsches Lächeln zu, das sich hinter ihrem Rücken sofort in einen Ausdruck von Abscheu verwandelte. Die Familie bekam davon nichts mit.

Auf dem Weg dazwischen sprachen wir heute lange über die Themen bedingungslose Liebe und wahrlich hilfreich sein.

Heiko fiel auf, dass es zumindest in den Beziehungen, die wir selbst erlebt hatten, einen großen Unterschied zwischen einer Darma-Freundschaft und einer Darma-Partnerschaft gab. Solange es sich um eine Freundschaft handelte, war es kein Problem, sich gegenseitig wirklich zu unterstützen und dem anderen bedingungslos zu helfen. In einer Beziehung hingegen war das deutlich schwieriger. Woher kam das?

In einer wirklichen Freundschaft, ist es für jeden klar, dass jeder für seine Lebensaufgaben selbst verantwortlich ist. Wenn der andere gerade an irgendeinem Thema zu knabbern hat, dann ist das seine Sache und ich muss dafür keine Verantwortung übernehmen. Ich bin nicht dafür verantwortlich ihn glücklich zu machen oder ihn zu unterhalten. Genauso wenig ist es seine Aufgabe mich glücklich zu machen oder dafür zu sorgen, dass ich mich nicht langweile. Es ist ok, wenn alles offen angesprochen wird und es ist kein Problem, wenn einer mal ordentlich auf den Tisch haut um Dinge klarzustellen. Wenn einem etwas am anderen auffällt, kann man es ihm spiegeln, auch wenn es dadurch zu Konflikten und Auseinandersetzungen kommt, die dann eine Weile die Stimmung trüben. Denn egal was kommt, ist es immer klar, dass man nichts tut, um den anderen zu verletzen, sondern entweder, weil man gerade in irgendeiner Schwelle steckt oder weil man den anderen auf eine solche Schwelle hinweisen will. Auf diese Weise ist es jedem möglich, gut für sich selbst zu sorgen und gleichzeitig ermöglicht man es dem anderen, zu wachsen, zu lernen, zu heilen und sich zu entwickeln.

Doch sobald es nicht mehr um eine Freundschaft sondern um eine Beziehung geht, werden all diese Dinge plötzlich schwieriger. Aus irgendeinem Grund mischen sich nun Erwartungshaltungen in das System mit ein, die einem in einer Freundschaft nicht einmal in den Sinn kommen würden. Plötzlich kommt das Gefühl auf, dass man für das Glück des anderen mitverantwortlich ist. Man muss dafür sorgen, dass es ihm gut geht, dass er sich nicht langweilt und dass er sich wohl fühlt. Gleichzeitig erwartet man auch vom anderen, dass er genau diese Aufgaben für unser eigenes Leben übernimmt. Dadurch übernehme ich jedoch auch die Verantwortung für alles, was in seinem Leben je schief gelaufen ist, da ich nun automatisch versuche, alles Unangenehme von ihm fernzuhalten. Anstatt bewusst zu spiegeln und auf zentrale Lebensthemen hinzuweisen, versuche ich nun, alle Spiegel im Umkreis zu verstecken oder umzudrehen, damit nichts negatives an meinen Partner herankommen kann, denn wenn sich mein Partner schlecht fühlt, dann fühle auch ich mich automatische schlecht.

Doch durch diesen Versuch, ihn vor Leid zu beschützen, verbaue ich ihm jede Chance auf Heilung, Wachstum und Lernen. Weil ich es nicht aushalten kann, das Leid des anderen zu ertragen, will ich es von ihm wegnehmen, auch wenn es gerade wichtig für ihn ist.

Bei einem guten Freund ist das leichter. Hier haben wir meist einen größeren Abstand und können erkennen, dass er sich die Situation in der er sich befindet selbst eingebrockt hat. Wir können das ganze mit Distanz betrachten und fühlen das Leid nicht selbst. Daher sind wir weniger verkrampft, wir können drüber Lachen, können locker bleiben und können vor allem hilfreich bleiben. Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe an, seine Probleme zu lösen, können ihm aber Hinweise geben, wie er vielleicht weiter kommen könnte. Wir können ihm Angebote machen, von denen er frei entscheiden kann ob er sie annehmen will oder nicht. Oder wir können ihm Fragen stellen, mit denen er selbst vielleicht auf die richtige Lösung kommt. Doch selbst wenn er einen falschen Weg einschlägt und sich damit noch tiefer in die Scheiße setzt, dann können wir das annehmen. Wir wissen einfach, dass er den Schlag mit dem Zaunpfahl vom Universum schon bekommen wird, der ihn wieder auf die richtige Bahn zurückbringt.

In einer Beziehung hingegen haben wir oft das Gefühl, dass die Probleme des Partners auch unsere eigenen Probleme sind. Hier haben wir nun Angst, dass das Universum mit seinem Zaunpfahl danebenschlägt und dass der Partner dadurch in eine komplett falsche Richtung läuft. Aus diesem Grund verkrampfen wir und können nicht mehr offen und frei handeln. Plötzlich ist es nicht mehr ok, wenn der andere seine eigenen Fehler macht. Dadurch, dass wir es als unsere Aufgabe ansehen, ihn glücklich zu machen, sehen wir es auch als Versagen an, wenn er es nicht ist. Die Entspanntheit ist dahin. Statt Hinweise und Angebote geben wir ihm nun Ratschläge, die wie das Wort schon sagt vor allem eines sind: Schläge! Wir erwarten plötzlich, dass sich der andere so verhält, wie wir es von ihm wollen. Wir vertrauen nicht mehr auf das Universum sondern schlagen ihm unsere Ratschläge selbst ins Gesicht. Statt zu konstruktiven, ehrlichen Auseinandersetzungen, in denen jeder seine ungefilterte Wahrheit des Augenblicks offenbart, kommt es zu Streitigkeiten, in denen man versucht, gegen den anderen zu gewinnen. Wenn ich die Verantwortung für die Probleme meines Partners übernehme, dann muss ich dafür jedoch auch die Konsequenzen tragen. In den meisten Fällen bedeutet dass, dass der Partner nicht mehr auf seine eigenen Muster schaut um festzustellen, wo ein Veränderungsprozess stattfinden muss, sondern dass er sauer auf mich wird, weil ich derjenige bin, der ihm nun das Leid verursacht. So muss es zwangsläufig zur Trennung kommen.

Oder aber, man wählt den anderen Weg und versucht, dem anderen zu zeigen, dass alles in Ordnung ist, in dem man ihm eine rosa-flauschige Luftblasenwelt erschafft. Alles, was der andere macht, sagt oder denkt ist immer richtig, auch wenn er uns damit auf die Nerven geht und wenn er sich damit selbst krank mach. Selbst wenn er tausend Falten, Dehnungsstreifen, Pickel und Furunkel hat, ist er der schönste Mensch auf der Welt. Wenn wir ganz ehrlich sind, dann stehen wir eh nicht auf gutaussehende, muskulöse und schlanke Menschen, die vor Vitalität und Lebensfreude sprühen. Aus Angst, die andere Person zu verlieren, nehmen wir uns selbst zurück und machen ihr weiß, dass wir alles so lieben wie es ist. Alles ist super, auch dann, wenn es dich und mich tötet.

Unsere Angst, dem anderen weh zu tun und ihn dadurch zu vergraulen, so dass wir keine Liebe mehr bekommen, führt dazu, dass wir unsere eigenen Gefühle immer mehr unterdrücken. So nehmen wir nicht nur dem anderen die Chance auf ein gesundes Leben mit Wachstum und Lernerfolg, sondern machen auch uns selbst schließlich krank.

In die gleiche Falle tippen wir jedoch nicht nur in Partnerschaften, sondern auch in unserer Familie und besonders in der Beziehung zu unseren Eltern. Wir übernehmen ihre Lebensthemen als unsere eigenen und glauben, dass es unsere Aufgabe ist, sie für unsere Eltern zu lösen.

Nehmen wir dafür mal ein Beispiel, damit das ganze wirklich klar wird:

Stellt euch vor, ihr seid Versicherungsmakler und wollt private Haftpflichtversicherungen verkaufen. Jetzt kommt ihr in das Haus eines Mannes und seht dort als erstes eine Jagdflinte im Schrank stehen. Draußen im nahegelegenen Hafen liegt eine Yacht, gegenüber steht der Miethauskomplex des Mannes, im Garten hat er einen großen Heizöltank, er hat drei Kinder und seine Frau ist in einem Bogenschießverein. Als ihr dem Mann die Versicherungen durchkalkuliert, die er benötigt, fällt er aus allen Wolken. Es braucht eine private Haftpflichtversicherung für sich, seine Frau und seine Kinder, dann eine spezielle Versicherung für die Jagd, eine Haftpflicht für die Mietshäuser, eine für den Öltank und eine weitere für die Yacht. Ob seine Frau wegen des Bogenschießens auch noch eine Extraversicherung braucht, muss noch geprüft werden. Der Mann ist vollkommen frustriert! Das ist alles viel zu teuer! Wie könnt ihr es als Versicherungsverkäufer nur wagen, solch eine Kalkulation zu erstellen!?!

In diesem Beispiel seit ihr diejenigen, die die Konsequenzen aus dem Verhalten des Mannes aufdecken, der komplett über seine Verhältnisse gelebt hat. Als derjenige, der die Hiobsbotschaft überbringt, seit ihr natürlich der Arsch, der Schuld an seiner Misere ist. Denn ihr seit es, die das Geld für die Versicherungen wollen. In einer Partnerschaft und auch in der Beziehung zu unseren Eltern neigen wir dazu, die Schuld anzunehmen. Wir können es nicht ertragen, dass wir den anderen verärgern und seine Welt zusammenbrechen lassen und versuchen, die Last auf uns zu nehmen. In unserem Versicherungsbeispiel würde das bedeuten, dass wir dem Mann sagen: „Huber, dass ist überhaupt kein Ding, wir machen ne private Haftpflicht für dich, deine Frau und deine Kinder und dann passt das schon!“ Und dann übernehmen wir selbst die Kosten für alle weiteren Versicherungen, ohne dass der Mann davon etwas merkt.

Im Geschäftsleben wird deutlich, wie lächerlich das eigentlich ist. Nach zwei oder drei Kundenterminen dieser Art kann selbst der erfolgreichste Makler sein Geschäft schließen und für sieben Jahre die Finger heben. Wenn jetzt einer seiner Kunden einen Yachtunfall baut oder bei der Jagd aus Versehen jemanden erschießt, steht er dann ganz ohne Versicherung da und muss bis an sein Lebensende zahlen. Ist das die Hilfe, die wir ihm geben wollten?

Als Versicherungsmakler fällt es uns leicht zu verstehen, dass es nicht wir waren, die den Jagdpachtvertrag unterschrieben haben, dass wir uns nicht dafür entschieden haben, uns eine Yacht, einen Wohnkomplex und einen Heizöltank zu kaufen und dass wir auch die drei Kinder nicht in die Welt gesetzt haben. Jede dieser Entscheidungen hat unser Kunde selbst getroffen und auch wenn er jetzt zetert wie ein Rohrspatz, muss er die Konsequenzen dafür selbst tragen.

Nichts anderes ist es in einer Beziehung, egal ob zu unseren Eltern oder zu unserem Liebespartner. Wir können nichts für ihre Kindheitserfahrungen, für die Traumata und all die schlimmen Dinge, die sie in ihrem Leben durchgemacht haben und die dazu führten, dass sie jetzt die Menschen sind, die sie sind. Und doch fällt es uns so unendlich schwer, die Verantwortung für alle daraus resultierenden Konsequenzen auch wirklich bei ihnen zu lassen. Bei unseren Eltern führt das oft dazu, dass wir sagen: „Lieber gehe ich meinen Lebensweg nicht, als dass du durch mich in Sorge sein musst!“ Es tut uns selbst weh, unsere Eltern leiden zu sehen und daher nehmen wir das Leid lieber auf uns, indem wir uns gegen unsere eigene Seele entscheiden. Unsere Angst davor, dass wir Leid verursachen und dadurch nicht mehr geliebt werden, ist so groß, dass wir nicht offen sprechen können, dass wir uns zurücknehmen und uns in eine Rolle einfügen, die uns eigentlich nichts angehört. Doch wäre es nicht wichtig, sich genau an dieser Stelle, darüber zu freuen, dass man etwas bemerkt hat, was den anderen weiterbringen kann? Ersparen wir ihm nicht gerade durch dieses kurze Leiden ein viel längeres, größeres und stärkeres Leid?

Denn unsere Eltern und unsere Liebespartner müssen ihre eigenen Lebensthemen und ihr eigenes Leid annehmen und die Verantwortung dafür tragen, um selbst wachsen und lernen zu können. Genauso wie auch wir ja genügend eigene Themen haben, um die wir uns kümmern müssen, so dass wir die der anderen überhaupt nicht brauchen.

Auf der einen Seite ist es sehr gut nachvollziehbar, dass wir uns um die Menschen, die wir am meisten lieben, auch am stärksten sorgen. Wir möchten, dass sie sehen, dass wir sie lieben und genauso möchten wir auch sehen, dass sie uns lieben. Doch müssen wir uns dabei bewusst sein, dass wir durch diese Mechanismen ohne es zu wissen Krankheit produzieren. Denn jedes Mal, wenn wir eine Chance verpassen, eines unserer eigenen Lebensthemen aufzulösen, sorgen wir dafür, dass es sich weiter verfestigt und weiterhin Leid verursacht. Gleichzeitig festigen wir auch die Muster der anderen und halten sie ebenfalls in ihrem Leid gefangen. Das Beispiel vom Versicherungsmakler zeigt es deutlich. Ihm den kurzen Schmerz der Augenöffnung nicht zuzufügen bedeutet, dass wir ihm dabei zusehen, wie er ins offene Messer rennt. Wenn wir wirklich die Verantwortung für seine Anschaffungen und Hobbies auf unsere eigene Kappe nehmen, dann machen wir uns damit selbst Stück für Stück kaputt. Wir rauben uns sämtliche Energie und können dadurch nicht mehr hilfreich sein.

Im Bezug auf Lebensthemen ist es nichts anderes. Wenn sich beispielsweise unsere Mutter Sorgen macht, dann ist es genau richtig, dass diese Sorgen da sind. Es ist nicht unsere Aufgabe, unser Leben so zu führen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Denn das ‚muss’ sie in keinem Fall. Die Sorgen entstehen nicht aus unseren Handlungen, sondern kommen daher, dass ihr selbst das Urvertrauen in die Schöpfung und in das Leben fehlt. Egal was wir auch machen, wir können ihr diese Sorgen nicht nehmen. Heikos und meine Mutter machen sich oft Sorgen, weil wir um die Welt reisen. Eine andere Mutter hingegen hat uns ein Kommentar geschrieben und erzählt, dass sie sich Sorgen um ihren Sohn macht, weil dieser zu Systemtreu ist und nicht ausbrechen will. Ein Freund, der in einem öffentlichen Amt der Stadt Nürnberg arbeitet, hat uns einmal erzählt, dass er zum Mitarbeiter des Jahres gekürt wurde. Auf dem Weg zur Ehrung hielt ihn seine Mutter auf und teilte ihm mit, dass sie sich Sorgen um seinen Auftritt mache, weil seine Krawatte nicht gut zu seinen Schuhen passe. Egal was wir als Kinder also machen, wenn Sorgen zu den Lebensthemen unserer Eltern gehören, dann können wir sie ihnen nicht nehmen. Wir können jedoch gemeinsam mit ihnen schauen, worin die Ursache dieser Sorgen liegt. Sind es rationale Sorgen, die eine Berechtigung haben? Beispielsweise weil das Kind gerne Bungee-Jumping macht oder sich nur dann wirklich wohl fühlt, wenn es mit 180 Sachen auf dem Motorrad durch Haarnadelkurven heizt. Wenn ja, dann kann man schauen, was es für Lösungen gibt, dass sich die Eltern wohler fühlen. Doch es kann keine Lösung sein, dafür das eigene Leben aufzugeben.

Oder sind es unbegründete, irrationale Sorgen, die vielleicht aus vergangenen Erfahrungen und Kindheitserinnerungen herrühren. Dann kann man schauen, ob es nicht einen Weg gibt, sie aufzulösen. Das wird in den meisten Fällen nicht leicht sein und es ist oft ein harter und steiniger Weg, der dorthin führt. Ebenso wie vielleicht unser Versicherungskunde einsehen muss, dass er seine geliebte Yacht abgeben muss, wenn er auch die damit verbundene Dauerbelastung loswerden will, die ihm das Leben zur Hölle macht und die ihn durch die erhöhten Kosten ins Burn-Out treibt. Doch letztlich wird es zu einer Erleichterung führen.

Uns fiel auf, dass wir die gleichen Verhaltensmuster oft auch im Umgang mit Obdachlosen, mit Kranken, mit Gewaltopfern und anderen Leidenden in uns tragen. Wenn wir ihr Leid sehen, empfinden wir Mitleid. Das bedeutet, dass wir uns selbst ebenfalls schlecht fühlen, weil wir das Leid des anderen nicht verstehen können. Wir sehen es als Schicksal an und haben sofort eine Art schlechtes Gewissen, weil es uns besser geht. Jedenfalls glauben wir, dass es uns besser geht, denn wirklich wissen können wir es nicht. Auf unserer Obdachlosentour haben wir viele Menschen getroffen, die auf der Straße lebten und die mit ihrem Leben mehr im Reinen wahren, als manch ein Bankmanager. Dennoch kommt in uns das Gefühl auf, dass der andere eine arme Sau ist, die unsere Hilfe benötigt. Wir erkennen nicht, dass der Leidende sich den Krebs, die Obdachlosigkeit, die Vergewaltigung oder welche Art des Leides auch immer, direkt oder indirekt selbst ausgesucht hat. Es waren seine Entscheidungen, seine Gedankenmuster, seine Verhaltenskonzepte und Lebensgewohnheiten, die ihn in diese Lage gebracht haben. Durch seine eigene Unaufmerksamkeit, durch eine innere Opferhaltung und durch fehlende Abwehrmechanismen hat er beispielsweise die Gewalt in sein Leben gezogen. Vielleicht hat er sich auch durch abgelehnte und nicht verarbeitete Schuld, durch das Verlassen seines Lebensweges oder durch unverarbeitete Gefühle und negative Lebensroutinen selbst in die Krankheit manövriert. Daher liegt es auch in seiner Verantwortung, sich daraus wieder zu befreien. Sein Leid zu sehen, erinnert uns jedoch an die eigene Schuld, die wir in uns tragen und es fällt uns meist sehr schwer, das zu ertragen. Und aus diesem Grund, wollen wir ihm helfen.

Doch auch hier ist es wichtig, dass es zwei unterschiedliche Arten, der Hilfe gibt. Vielleicht gibt es auch viele weitere, aber heute haben wir diese beiden erkannt, die in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen. Die Frage dabei lautet:

„Was ist meine Absicht, wenn ich jemandem helfe?“

Wenn man immer tiefer hinter die Gefühle schaut, die wir in uns tragen, dann stellt man fest, dass es letztlich nur ein einziges Gefühl gibt, auf dem alles basiert. Dieses Gefühl ist Liebe. Ihm gegenüber steht ein Mangel an Liebe, oder das Gefühl nicht lieben zu können, bzw. nicht geliebt zu werden. Alle anderen Gefühle sowie auch alle Probleme, die wir auf der Erde haben, ergeben sich daraus. So sind die gerade erwähnten Sorgen nichts anderes als ein fehlendes Vertrauen, aufgrund eines fehlenden Gefühls von Urliebe. Wir machen uns Sorgen, weil wir nicht glauben, dass wir geliebt werden. Wir können uns nicht vorstellen, dass es genügend Liebe auf der Welt gibt, und das alles was passiert aufgrund von Liebe passiert. Daher vertrauen wir nicht in das Universum, nicht in uns, nicht in die anderen, nicht in unsere Fähigkeiten, unsere Talente, unsere Kraft und nicht darin, dass wir zu jedem Zeitpunkt beschützt sind. Wir spüren die Verbindung zum Leben und zu unserer eigenen Intuition nicht und müssen daher Angst um uns und um andere haben. Wenn wir eifersüchtig sind, ist es nichts anderes. Wir vertrauen nicht in uns, dass wir es wert sind, geliebt zu werden und somit haben wir Angst davor, verlassen zu werden. Diese Angst kann uns so krank machen, dass wir die Menschen, die wir halten wollen, mit aller Macht aus unserem Leben vertreiben.

Doch kommen wir noch einmal auf die Frage nach der Absicht hinter unserer Hilfsbereitschaft zurück.

Wenn wir selbst das Gefühl haben, dass wir nicht bedingungslos immer und zu jeder Zeit geliebt werden, dann müssen wir uns diese Liebe irgendwie verdienen. Ein Weg, auf dem wir das erreichen können ist es, anderen zu helfen und ihnen ein gutes Gefühl zu geben.

Wenn wir dem Obdachlosen beispielsweise Geld hinwerfen, dann fühlt er sich dadurch kurzfristig besser. Mit etwas Glück lächelt er uns an und bedankt sich bei uns. Wenn nicht dann gibt es aber zumindest viele Menschen in der Stadt, die gesehen haben, was für ein guter Mensch wir gerade sind. Dadurch bekommen wir die Anerkennung und Liebe der anderen geschenkt und können gleichzeitig etwas von der Schuld abbauen, die wir in uns tragen, weil wir so oft, zum Leid beigetragen haben. Jeder Mensch auf der Welt weiß, dass er viele Fehler in seinem Leben gemacht hat und dass er sich selbst und andere ständig verletzt. Es muss nichts großes sein. Heute reicht es vollkommen, ein Schnitzel aus dem Supermarkt zu essen oder sich einen Bio-Tomatensaft im Aluminiumbeschichteten Tetra-Pack zu kaufen, um jede Menge Schuld auf sich zu laden. Wenn wir etwas machen, über dass sich ein anderer offensichtlich freut, dann können wir ein bisschen von dieser Schuld wieder abbauen und fühlen uns dadurch besser.

Die Frage ist jedoch: Helfen wir dem anderen dann, weil wir möchten dass es ihm besser geht, oder weil wir möchten, dass wir uns selbst besser fühlen?

Die andere Art der Hilfe entsteht aus einer bedingungslosen Liebe heraus. Es ist bedeutend schwieriger, diese Art der Hilfe zu leisten, da sie uns zumindest im Moment keinerlei Liebe und Anerkennung einbringen wird. Was glaubt ihr, würde passieren, wenn ihr dem Obdachlosen nicht einfach etwas Geld gebt, sondern euch mit ihm unterhaltet? Ihr ladet ihn zu euch nach hause oder in einen schönen Park ein, macht einen Spaziergang mit ihm und fragt ihn, was ihn in seinem Leben gerade beschäftigt. Dabei schenkt ihr ihm ohne Mitleid die ungefilterte Wahrheit des Augenblicks. Ihr werdet zu seinem Spiegel, der ihm die Augen öffnet: „Ich kann gut verstehen, dass dich der Tod deiner Frau wirklich getroffen hat und dass du noch immer in der Trauerphase bist, so dass du sie nicht loslassen kannst. Doch deine Hoffnungslosigkeit wird deine Frau nicht zurückbringen. Aus meiner Sicht hast du zwei Möglichkeiten. Entweder, du ersäufst weiterhin deinen Kummer in 6 Flaschen Wodka am Tag, wirfst dein Leben weg und wartest bis du krepierst, oder du gehst zurück in dein Leben und erfüllst deine Lebensaufgabe. Was glaubst du würde sich deine Frau von dir wünschen? Meinst du wirklich, dass es sie glücklich machen würde, wenn sie sehen könnte, was für ein jämmerliches Wrack aus dir geworden ist? Oder würde sie sich vielleicht doch eher über einen Mann freuen, der nach einer tiefen Lebenskrise wieder aufsteht und neuen Mut fasst, um seinen Beitrag im großen Uhrwerk dieser Welt leistet?“

Eine solche Unterhaltung wird euch wahrscheinlich keine Liebe einbringen. Der Mann wird vielleicht sogar sauer auf euch sein und euch verfluchen, dafür dass ihr die Dreistigkeit besitzt, ihm zu sagen, dass er es selbst ist, der sein Leben zerstört. Vielleicht vertreibt er euch und will euch nie wieder sehen. Aber ihr habt ihm die Chance gegeben, aufzuwachen. Ob er sie nutzen will oder nicht, dass ist seine Sache.

Hier in Spanien wird es oft besonders deutlich. Um einem Obdachlosen zu helfen kommt es nicht selten vor, dass ihm ein Passant ein Bier ausgibt. Doch ist es wirklich eine Hilfe, ihn in seiner Sucht zu unterstützen und ihn weiter darin festzuhalten? Wenn ein Mann am Boden liegt und den Mut verloren hat, wieder aufzustehen, helfen wir ihm dann damit, indem wir ihm ein Kissen reichen, damit er es sich dort bequem machen kann? Oder helfen wir ihm vielleicht mehr, wenn wir ihm in den Arsch treten und ihn darauf hinweisen, dass die Straße so kalt ist, dass er bald erfrieren wird?

Diese Art der Hilfe ist in der Welt leider sehr selten. Das ist auch gut verständlich, denn man muss damit umgehen können, dass man keine Liebe und keine Anerkennung bekommt. Derjenige, dem man bedingungslos helfen will, kann einen dafür nicht mögen. Denn Krankheiten und Leid entstehen nicht, weil man sich irgendwo einen Fingernagel eingerissen hat. Sie sind die Folge von vielen schweren Fehlhandlungen, die sich durch das ganze Leben ziehen. Es sind Handlungen, die auf schweren Verletzungen basieren, die man nicht ohne Grund verdrängt hat und die einen davon abhielten, richtig zu handeln. Wirklich hilfreich zu sein, bedeutet immer auch alte Wunden aufzureißen und ordentlich Salz hinein zu reiben. Dafür wird man niemals Anerkennung und Liebe bekommen. Zumindest nicht als direktes Feedback. Vielleicht kommt sie nach Jahren, vielleicht auch nie. Wichtig ist jedoch, dass man vollkommen unabhängig davon handelt. Sobald einem die Dankbarkeit, die Anerkennung und die Liebe wichtig sind, ist die Hilfe nicht mehr bedingungslos und verliert dadurch ihre Wirkung.

Liebe und Anerkennung bekommt man nur durch Scheinheiligkeit, da es hierzu wichtig ist, sofort ein positives Feedback zu bekommen. In einer Partnerschaft kann dies zum Beispiel dazu führen, dass man genau das macht und sagt, von dem man glaubt, dass der andere es sehen und hören will. In der Familiensystematik führt es dazu, dass man sein Leben so lebt, dass die Eltern stolz auf einen sind und dass man ihnen als Sohn oder Tochter gefällt, auch wenn man selbst etwas ganz anderes will. Scheinheiligkeit bedeutet aber auch, indirekte Hilfe zu leisten, bei der man sich nicht mit dem eigentlichen Problem auseinandersetzen muss. Ich zahle monatlich einen Betrag an einen Naturschutzverein, der mit dem Geld im Namen des Naturschutzes Regenwaldflächen abholzt. Ich spende Blut, ohne mich zu informieren, wofür es verwendet wird und lasse dadurch zu, dass es in der Pharmaforschung landet, wo es für die Entwicklung giftiger und überteuerte Medikamente benutzt wird. Ich werfe meine Kleider in den Altkleidercontainer, damit sie dann von sklavenähnlichen Arbeitern in Afrika verkauft werden und den ganzen einheimischen Markt zerstören. Hilft es einem Kind, dessen Mutter gestorben ist wirklich, wenn man durch seine Speilzeugspende dafür sorgt, dass es ein Kuscheltier bekommt? Helfen würde es, wenn wir mit ihm sprechen, wenn wir es aufnehmen und ihm zeigen, dass die Welt dennoch liebevoll ist, dass nicht alles schlecht ist, weil seine Mutter gestorben ist, sondern dass es noch immer Barmherzigkeit, Freude und Liebe gibt. Wenn wir es spüren lassen, dass das Leben noch immer lebenswert ist.

Natürlich können wir nicht jedes Kind aufnehmen, dass seine Eltern verloren hat und das ist auch nicht unsere Aufgabe. Auch ist es nicht unbedingt schlecht, einem Kind ein Kuscheltier zu schenken, oder einem Obdachlosen einen Euro zu geben. Oftmals ist es vielleicht die einzige Hilfe, die wir gerade leisten können. Genauso wie wir in den Beziehungen zu den Menschen, die wir lieben oftmals nicht anders handeln können, als ihnen kurzfristig ein gutes Gefühl zu geben, das nichts mit bedingungsloser Liebe zu tun hat. Es ist nichts falsches daran, denn auch hierfür gibt es immer gute Gründe. Doch müssen wir uns bewusst machen, dass es auf der Welt keine ‚bösen’ Menschen gibt, die für das Leid auf unserem Planeten verantwortlich sind. Wir alle tragen täglich unseren Teil dazu bei. Nicht aus Böshaftigkeit, sondern aus unseren Ängsten, dem fehlenden Vertrauen und unserem Wunsch nach Liebe und Anerkennung heraus. Jeder auf seine Weise und jeder aus einem guten Grund.

Spruch des Tages:

Ein Weiser wurde gefragt, welches die wichtigste Stunde sei, die der Mensch erlebt, welches der bedeutendste Mensch der ihm begegnet, und welches das notwendigste Werk sei.

Die Antwort lautete: Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart,

der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht,

und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.

Höhenmeter: 44 m

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 4947,97 km

 

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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