Tag 263: Jamaica Inn

von Heiko Gärtner
21.09.2014 21:09 Uhr

Manchmal ist es schon wirklich verrückt, was für Wendungen ein Tag nehmen kann. Als wir heute Morgen aufstanden, hätten wir nicht vermutet, dass der heutige Mittag so verlaufen würde, wie er verlaufen ist. Heute Mittag hingegen hätten wir uns niemals träumen lassen, wie der Abend werden würde.

Gestern Abend wurde unsere Gelassenheit jedenfalls noch einmal ordentlich auf den Prüfstand gestellt. Unser Schlafquartier befand sich in einem Sportgelände, zu dem auch eine Bar gehörte. Die Barbesitzer waren liebe Leute, die uns mit allem unterstützten, was sie konnten. Bis um rund 1:00Uhr Nachts tollten jedoch auch haufenweise kleine Kinder auf dem Sportplatz herum. Nichts gegen spielende Kinder, aber diese waren von der Sorte, die man braucht wenn man sich selbst davon überzeugen will, dass man niemals eigene möchte. Im Dreiminutentackt bollerten sie gegen die stählerne Tür, um dann wieder wegzurennen und sich hinter einer Treppe zu verstecken. Es wäre Ok gewesen, wenn es sich dabei einfach um Kinderstreiche gehandelt hätte, doch in diesem Fall ging es ihnen wirklich darum, uns so penetrant wie möglich auf die Nerven zu gehen. Sie waren gelangweilt und fühlten sich vernachlässigt, so dass sie in irgendeiner Weise um Aufmerksamkeit buhlen mussten. Selbst wenn es hieß, dass sie einen dadurch zu Tode nervten. Das konnte man zwar verstehen, denn die Erwachsenen waren ja größtenteils genauso, doch es machte die Situation nicht besser. Wie sollte ein Kind lernen, Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen, wenn jeder der ein Vorbild sein könnte, den ganzen Tag schreit und versucht niemals auch nur die leiseste Gefühlsregung aufkommen zu lassen.

Dennoch konnten wir irgendwann einschlafen und waren heute Morgen sogar relativ ausgeschlafen. Aus irgendeinem Grund, den wir selbst noch nicht herausgefunden haben, fühlen wir uns nur im Moment ständig müde und energielos. Vielleicht hat es mit den Pestiziden hier zu tun, vielleicht auch einfach mit den Entzugserscheinungen vom Zucker und den Weizenprodukten.

Dass die Toxine hier nicht so ganz ohne sind, merkt man unter anderem auch an den Mückenstichen. Sie brennen und jucken deutlich stärker als normal und Heiko hat einige Stiche, die bereits seit über einer Woche nicht verschwinden wollen.

Nach 12km erreichten wir Cheste. Es war ein Ort, an dem wir beschlossen hatten, dass wir hier ankommen können, falls etwas geht, aber nicht müssen, falls man uns nicht haben will. Der nächste Ort lag rund 10km weit entfernt, was noch immer eine humane Strecke war.

Dennoch schaffte ich es nicht, bei den Gesprächen mit den Menschen nicht wütend zu werden. Der Pfarrer und der Bürgermeister ließen sich verleumden und waren weder persönlich noch telefonisch erreichbar. Die Frau, die an der Tür des Pfarrers öffnete, wies mich ab, ohne überhaupt nur zu wissen wer ich war oder was ich wollte. Wie konnte es sein, dass sich die Menschen hier selbst als so christlich und so heilig ansahen, dann aber nicht einmal gewillt waren irgendjemandem zu helfen oder auch nur zuzuhören? Und warum öffnen uns an den Türen der Pfarrer, die angeblich im Zölibat leben, ständig irgendwelche Frauen?

Die Polizei wies uns ebenfalls ab. Sie hätten keinerlei Befugnis um uns irgendeinen unbenutzten Raum für eine Nacht zu überlassen und auch sonst gäbe es hier nichts. Das Sportzentrum sei in privater Hand und alles andere gehöre der Stadt, so dass wir den Bürgermeister fragen müssten. Der war aber nicht erreichbar. Im Endeffekt kosteten die Beamten nur jede Menge Zeit und halfen nicht im Geringsten. Sie versuchten es nicht einmal wirklich. Eigene Ideen hatten sie keine. Dafür verwendeten sie ihre Energie aber darauf, Ausreden zu suchen, warum meine Ideen nicht klappen konnten, so dass man gar nicht versuchen musste, etwas zu unternehmen. Wie unterschiedlich auch wieder diese Beamten waren, je nachdem, in welcher Region man sich befand. Der absolute Vogel wurde jedoch von einem Nonnenkloster abgeschossen, das in der Stadt die Funktion der Caritas übernommen hatte. Ihr Gebäude hatte, wenn man es anhand der Fenster nachvollzog, rund 18 verschiedene Zimmer. Dazu gehörte auch eine Schule, deren Räume am Wochenende vollkommen unbenutzt waren. Dennoch behaupteten sie Steif und fest, keinen Platz für uns zu haben.

„Dies ist nicht die Art von Hilfe, die wir anbieten!“ erklärte mir die Türstehernonne kalt.

„Welche Hilfe bieten sie denn dann an?“ fragte ich.

„Wir helfen auf viele, unterschiedliche Arten!“ sagte sie und versuchte dabei so unkonkret wie möglich zu bleiben.

„Zum Beispiel?“ fragte ich.

„Sehr viele unterschiedliche Arten!“

„Nein, Sie haben mich nicht verstanden! Ich habe gefragt, was Sie konkret für die Menschen tun, die Hilfe von ihnen wollen?“

„Wir machen sehr viel!“

„Können Sie mir ein einziges Beispiel nennen?“

„Wir geben Bocadillos an Familien, wenn sie Hunger haben!“

„Also verstehe ich das richtig, dass Ihre Hilfe darin besteht, Menschen, die wenig Geld haben hin und wieder mit ungesundem Essen zu versorgen?“

„Ja!“

„Aber wie wollen Sie wirklich helfen, wenn sie nicht auf das Hilfegesuch der Menschen eingehen? Sie können doch nicht sagen, dass sie als Nonnen nichts weiter tun als ein bisschen Almosen zu verteilen und jede andere Form der Hilfe zu verweigern!“ Leider fiel mir in diesem Moment nicht ein, sie zu fragen, ob sie dann auch Alkohol an Obdachlose verteilen, um ihnen zu „helfen“.

„Übernachtungen können wir nicht anbieten!“ sagte sie nur.

Das Gespräch ging noch eine ganze Weile so weiter. Ich fragte sie, wie es sich für sie anfühlte, dass sie sich als Nonne der Nächstenliebe verschrieben hatte, dass sie diesem Eid jedoch nicht nachkam. Ich hatte damit gerechnet, dass sie irgendeine Gefühlswendung zeigte, doch da hatte ich mich geirrt. Ihre verlogene Scheinheiligkeit war so groß, dass sie nicht einmal ein schlechtes Gefühl dabei hatte. Es ging ihr darum, in ihrem Kloster zu sitzen, fernsehen zu schauen und ab und zu in die Kirche zu gehen, damit jeder sehen konnte, was für eine fromme Frau sie war. Mit Nächstenliebe oder Hilfsbereitschaft hatte sie so viel zu tun wie mit Bungeejumping!

Es war verrückt, wenn man bedachte, dass wir 20 Minuten zuvor von einer Restaurantbesitzerin auf zwei riesige Dönerteller mit Pommes und Salat eingeladen worden waren. Sie hatte uns sogar noch frische Oliven und Erdnüsse dazugestellt und uns eine Flasche eisgekühltes Wasser gebracht. All das tat die Frau, ohne auch nur großartig nachzufragen, wer wir waren. Wir hatten Hunger und ihr machte es Spaß zu kochen. Fertig! Die Nonnen hingegen hätten einen Arbeitsaufwand von drei Minuten und einen finanziellen Aufwand für Strom und Wasser von knapp 1€ gehabt und das war ihnen zu viel.

In Vilamarxante, dem nächsten Ort erging es uns ähnlich. Der Pfarrer verweigerte die Hilfe und die Polizisten standen genauso rat- und ideenlos dar wie ihre Kollegen. Der Bürgermeister war unerreichbar. In Cheste hatte es zwei Hostals gegeben, die beide geschlossen hatten. Hier gab es nicht einmal eines, bei dem man es hätte versuchen können.

Als ich gerade mit einer Bedienung in einem Café sprach um sie um Rat zu fragen, rief eine Stimmer hinter mir auf Englisch: „Ihr sucht einen Schlafplatz? Dann fragt die beiden da, die haben ein Bed and Breakfast!“

Die beiden waren Digging und Lyne, ein Rentnerpärchen aus England, das viele Jahre in Mönchengladbach gelebt hatte und vor 10 Jahren hier her gezogen war. Sie hatten ein Landhaus oben in den Bergen und als sie von unserer Tour hörten, luden sie uns sofort zu sich ein. Unsere Wagen wurden in zwei Autos verpackt und dann ging es die steilen Berge hinauf. Noch am Vormittag hatte ich mir gewünscht, endlich einmal wieder nette, offene Menschen zu treffen, mit denen man sich wirklich unterhalten konnte. Wer hätte gedacht, dass sie so schnell auftauchen würden?

Kurz darauf fanden wir uns auf einem aufblasbaren Schwimmsofa mitten in einem Pool wieder, auf dessen Boden die Jamaikanische Flagge gemalt worden war. Lyne und Digging machten es sich in einigen Sesseln bequem die unter einer kleinen Strandbar mit der Aufschrift „Jamaica Inn“ standen. Auf der gegenüberliegenden Seite hatten wir einen Ausblick über die Stadt und die Berge. Es war traumhaft! Und um ehrlich zu sein, waren wir uns auch nicht ganz sicher, ob wir nicht wirklich bloß träumten. Kurz darauf kam noch Michael hinzu, ein ebenfalls aus England stammender Nachbar. Er war derjenige, der im Restaurant auf uns aufmerksam geworden ist. Die drei erzählten uns, dass sich direkt hinter ihrem Haus, die alten Schützengräben und Höhlen befanden, die die Widerstandskämpfer im spanischen Bürgerkrieg gegen Franko errichtet hatten. Dieser Berg war die letzte Basis gewesen, die noch standhalten konnte. Als sie fiel, wurde Spanien zur Diktatur. Nach unserem Pool-Bad schauten wir uns die Höhlen an, die hier von den Kämpfern mit bloßer Muskelkraft, Äxten und Hämmern in den massiven Fels geschlagen wurden.

Beim Abendessen saßen wir dann gemeinsam auf der Terrasse zusammen. Es tat gut, mal wieder lustige, entspannte und tiefsinnige Gespräche zu führen. Digging war früher beim britischen Militär gewesen und hatte unter anderem für lange Zeit in Mönchengladbach gelebt, bevor er mit Lyne hierher gezogen war. Er erzählte uns einige spannende Anekdoten aus der Zeit.

Plötzlich begann es zu regnen! Zum ersten Mal seit Monaten vielen wirklich Tropfen vom Himmel. Nicht viel und nicht lange, aber immerhin. Es war ein so ungewohntes Gefühl, dass wir kaum wussten, was wir damit anfangen sollten. Langsam wird es also wohl doch auch hier einmal Herbst.

Spruch des Tages: Du sollst den Tag nicht vor dem Abend verfluchen.

Höhenmeter: 160 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 5202,87 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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