Tag 267: Willkommen am Strand!

von Heiko Gärtner
25.09.2014 19:08 Uhr

So hatten wir uns den Einzug am Mittelmeer nicht ganz vorgestellt. Nach unserer Zeltnacht, in der wir erstaunlich gut und tief geschlafen haben, setzen wir uns auf einen Bordstein und aßen ein paar Nüsse, um die Zeit zu überbrücken, bis das Zelt trocken war. Solange unser Zelt stand, waren wir für die Menschen wie blaue Affen in einem Käfig, die versuchten, sich in ihren eigenen Hintern zu beißen. Sie gafften uns unverhohlen an und legten ihre Wege extra so, dass sie zwei Meter an uns vorbeikamen. Besonders mutige Zaungäste, die keine Angst vor den Bissen der exotischen Subjekte hatten, stellten hin und wieder so geistreiche Fragen wie: „Zu Fuß?“ oder „warum hier?“ oder „woher seit ihr?“ Sonst nichts! Kein: „Hallo! Wie geht es euch, das sieht ja spannend aus was ihr da macht, könnt ihr mir vielleicht etwas mehr darüber erzählen?“ Nein, einfach: „Zu Fuß?“ Da hat man doch sofort Lust, ein längeres Gespräch zu führen und den Gaffer zum Verweilen einzuladen um sich intensiv mit ihm auszutauschen. Noch ein bisschen mehr Lust hat man allerdings, ihn mit Steinen oder Kuhscheiße zu bewerfen und ihm sein blödes Starren auszutreiben. Keine Angst, wir haben niemanden beworfen! Wobei ich zugeben muss, dass das hauptsächlich an unserem akuten Mangel an Steinen und Kuhscheiße lag. Einer dieser liebenswürdigen Zeitgenossen war der Lehrer einer Schulklasse, der seine Schüler zum Joggen ausführte. Als Lehrer musste er natürlich zeigen, was er drauf hatte und rannte ein ordentliches Stück voraus. Diesen Vorsprung nutzte er, um uns zuzuschwallen. Seinem „Zu Fuß?“ fügte er kurz darauf ein „Wohin?“ hinzu, während er inspizierend um unsere Wagen schlich und einen von ihnen probeweise anhob.

„Zum Strand!“ antwortete ich in genauso detaillierter Ausführung, wie er seine Frage formuliert hatte.

„Warum?“ fragte er daraufhin.

Warum? Hatte er gerade ernsthaft gefragt, warum wir zum Strand wollten? Was für eine Frage war das denn? Warum wandern Menschen zum Strand? Sollte das nicht eigentlich auf der Hand liegen?

„Weil da das Meer ist!“ gab Heiko zurück und erstaunlicher Weise gab sich der Mann mit dieser Antwort zufrieden.

Dann beschrieb er uns noch den angeblich kürzesten Weg und verabschiedete sich, als er seine ersten Schüler kommen sah.

Der kürzeste Weg zum Strand erwies sich jedoch als absoluter Holzweg. Er führte uns rund einen Kilometer an der Autobahn entlang, dann unter ihr hindurch und schließlich wieder in den Park, in dem wir unser Zelt errichtet hatten.

„Was ist denn das für eine bodenlose Frechheit!“ machte Heiko seinem Ärger Luft, „es kann doch nicht sein, dass dieser Vollhorst dahergelaufen kommt, uns bei unserem Frühstück stört und uns dann auch noch in eine völlig falsche Richtung lotst! Wie enttäuscht kann man von Menschen eigentlich noch sein? Man kann hier wirklich niemandem trauen!“

Um aus Puçol zu entkommen mussten wir dann noch unter zwei weiteren Autobahnen hindurch, über eine drüber weg, an einer Schnellstraße entlang und an einem Stripclub vorbei. Was dieser Stripclub in dem ganzen Straßenwirwar machte, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich was Sex wirklich das einzige, mit denen man die Menschen, die hier mit dem Auto durchmussten noch irgendwie bei Laune halten konnte. Dann endlich fanden wir einen kleinen, komplett überschwemmten Feldweg, der uns von den Autobahnen weg zu den Zuggleisen führte. Von hier konnte man dann über eine weitere Autobahnbrücke in Richtung Meer wandern.

Jetzt aber wurde es erst richtig krass! Das ganze Gebiet zwischen Puçol und Puerto de Sagunto war ein komplettes Industriegebiet, das niemals gebaut wurde. Ich weiß, das klingt komisch, aber das ist noch nichts im Vergleich dazu, wie komisch es ausgesehen hat! Bislang hatten wir viele Kulissen für Zombiefilme gesehen, doch dies war der perfekte Drehort für ein postapokalyptisches Endzeitszenario in dem jede Hoffnung für die Menschheit verloren war.

Die komplette Infrastruktur für ein florierendes Industrieviertel war vorhanden. Es gab Straßen, Kreisverkehre, Fuß- und Fahrradwege, Straßenlaternen, Umspannungswerke, Starkstromleitungen, Parkplätze und sogar Schilder mit Aufschriften wie „Sagunto Industrie-Park I“, die in Anlehnung an den Hollywood-Schriftzug in großen, stählernen Buchstaben auf die Wiese gestellt wurden. All dies musste Steuergelder und EU-Förderungen im mehrstelligen Millionenbereich verschlungen haben. Doch es gab keine Fabriken, keine Häuser, keine Menschen, keine Autos. Es war einfach da und wurde dem Verfall preisgegeben. Die Natur holte sich ihren Lebensraum allmählich zurück und mitten auf der Straße wuchsen bereits fast mannshohe Büsche und Sträucher. Hier, abseits des Autobahnlärms herrschte Totenstille. Es war wirklich, als wären wir die letzten Überlebenden, nach dem Aussterben der Menschheit. Im Vergleich zu unseren Erfahrungen von Gestern also ein durchaus positives Gefühl. Keiner nervt mehr mit dummen Fragen, keiner vergiftet die leckeren Orangen, keiner ist einem die leckeren Orangen vor der Nase weg, keiner verweigert einem den Zutritt zu den vielen eh schon leerstehenden Häusern und keiner schickt einen in eine vollkommen falsche Richtung. Doch das Gefühl währte nicht lange, denn bereits nach ein paar Kilometern tauchte die totgeglaubte Schnellstraße wieder auf und unser Zombieland zwang uns mit Hilfe von Zäunen, an ihr entlangzuwandern.

Puerto de Sagunto selbst war nicht schöner als Puçol obwohl es direkt am Strand lag. Dennoch empfing es uns deutlich freundlicher als die Städte der letzten Tage. Im Hostal Teide trafen wir auf einen jungen, freundlichen Mann, der uns sofort sympathisch war. Fast schon hatten wir Angst, durch ein Wurmloch in eine andere Dimension gerutscht zu sein, da wir mit so einem offenen Entgegenkommen nicht mehr im geringsten gerechnet hatten. Doch es war wie immer. Es ging nicht darum, wie viele Miesepeter es gab, sondern darum die Menschen zu finden, die noch immer Menschen waren. Und hier hatten wir es wieder einmal geschafft. Der junge Mann lächelte und reichte uns den Schlüssel für ein klimatisiertes Doppelzimmer mit Badewanne, was mehr war, als wir uns zu wünschen getraut hatten.

Nun konnten wir auch in Ruhe einen Spaziergang zum Strand machen. Doch der Weg führte zunächst nicht zum Strand, sondern zum Hafen, der ebenso groß, wie beeindruckend, wie hässlich war.

Direkt daneben war dann der Strand. Plötzlich verstanden wir, warum der gespreizte Lehrer am Morgen voller Unverständnis „Warum?“ gefragt hatte. Der Strand selbst war der Knaller, doch das Drumrum war so mit Hochhäusern, Straßen und Brachflächen verschandelt worden, dass man ihn kaum noch genießen konnte. Wir konnten es nicht verstehen! Wenn man etwas so schönes, wie diesen Strand hatte, warum musste man es dann so krampfhaft kaputt machen?

Dennoch genossen wir es, im Sand zu laufen und unsere Hände in das Meer zu halten. Morgen wird hier gebadet! Das steht fest!

Mit dem ersten Finger, den wir in das kühle Nass hielten, war es vollbracht. Wir hatten die iberische Halbinsel einmal komplett durchquert und waren nun an allen drei Küsten gewesen: Im Norden, im Westen und nun auch im Osten. Irgendwo hinter dem Horizont lag nun unser nächstes großes Ziel. Italien! Wir brauchen noch eine Weile, aber lange lassen wir nicht mehr auf uns warten.

Zur Feier des Tages wurden wir dann noch von einer freundlichen Rumänin auf eine Paella in ihr Restaurant „La Brisa“ eingeladen. Es war lustiger Weise die erste Paella, die komplett ohne Meeresfrüchte auskam und das nur etwa 100m vom Strand entfernt. Dennoch war es eine der besten Paellas, die wir hier in Spanien gegessen hatten und angesichts des Schwerindustriehafens mit all seinen Abwässern und Ölen, die hier ins Meer flossen, waren wir auch nicht böse, auf die Krabben und Muscheln verzichten zu dürfen.

Spruch des Tages: Zurück am Meer!

 

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 5232,87 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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