Tag 317: Hoch über der Stadt

von Heiko Gärtner
14.11.2014 23:49 Uhr

So schwindelig war mir schon lange nicht mehr! Das hat mir doch früher nichts ausgemacht! Als Kind konnte ich stundenlang Karussell fahren, ohne das mir schlecht wurde. Selbst diese Jahrmarkt-Fahrgeschäfte, in denen man sich gleichzeitig, rechtsrum, linksrum, vorwärts, rückwärts und über Kopf dreht, machten mir nicht das geringste aus. Ich stand sogar drauf und war begeistert von den actionreichen Fahrten. Und heute? Heute wird mir schon schlecht, wenn ich nur versuche eine Wendeltreppe hinauf zu gehen! Das mag wie eine Metapher klingen, aber genau das war gerade passiert. Wir hatten die Kathedrale von Beziers besichtigt und waren bereits beim Betreten des Kirchenschiffes recht beeindruckt gewesen. Es war ein imposanter Bau und die Kirchenorgel war so aufwendig gestaltet, dass sie sogar einen eigenen Fanclub hatte. Kein Witz, in der Kirche hing wirklich ein Werbeplakat des Clubs, auf dem um neue Mitglieder geworben wurde. Auch der Altar war prunkvoll und es war überhaupt nicht einzusehen, warum er keinen Fanclub hatte. Nur weil er keine Musik machen konnte? Dafür bestand er nicht nur aus einem einfachen Tisch, sondern aus einer gewaltigen Steinfigur, die bis hoch in das Gewölbe ragte und so etwas wie das Portal zum Himmel zeigte. Wolken türmten sich auf und überall tollten kleine Engel darauf herum. Heiko wurde mit dem Fotografieren gar nicht mehr fertig. Dabei blieb es natürlich nicht aus, dass einer der Wachleute auf uns aufmerksam wurde. Doch zu unserer Überraschung wollte er uns nicht aus dem Gotteshaus werfen. Er wollte nicht einmal, dass Heiko mit dem Fotografieren aufhörte und auch nicht, dass ich meinen Rucksack aus der Kathedrale verbannte. Stattdessen wies er uns daraufhin, dass wir auch auf die Empore aufsteigen könnten, wenn wir wollten. Man müsse nur durch die kleine versteckte Holztür gehen, die sich neben dem Eingangsportal befindet.

Das war doch mal eine angenehme Auseinandersetzung mit einem Kirchen-Wachposten. In Spanien waren diese Menschen meist nicht so entspannt gewesen. Alle anderen mochten ja eine gut gepflegte Scheiß-Egal-Haltung gegenüber allem gehabt haben, aber die Wachleute hatten nicht dazu gehört. Hier war das anders. Es waren insgesamt drei Männer und eine Frau und wenn sie nicht gerade mit Touristen quatschten, dann saßen sie an einem Info-Tisch und unterhielten sich. Besonders heilig war ihre Stimmung dabei nicht. Sie lachten und scherzten und unterhielten damit die ganze Kirche.

Hinter besagter kleiner versteckter Holztür befand sich zur Linken das Lager für die Gedenkkerzen und zur Rechten das untere Ende einer Wendeltreppe. Nichts ahnend begannen wir mit dem Aufstieg und mussten schon bald feststellen, dass sie einfach kein Ende nehmen wollte. Immer höher schraubten wir uns im Kreis und mein Kopf begann sich zu drehen, wie ein alter Brummkreisel. Na toll, dachte ich, die ganze Ich-habe-ein-Schloss-und-lebe-oben-im-Turmzimmer-Romantik war dahin. Wenn man jedes mal so einen Aufstieg über sich ergehen lassen müsste, wenn man mal aufs Klo musste, konnte ich gut verstehen, warum die Menschen im Mittelalter einfach durchs Fenster auf die Straße kackten. Das hält doch keiner durch!

Schließlich erreichten wir eine Empore und konnten nun von oben in die Kathedrale blicken. Oder besser gesagt, wir hätten es gekonnt, wenn wir noch geradeaus hätten blicken können. Das undefinierbare Brummen neben mir verriet, dass es Heiko dabei nicht besser ging als mir. Zum Glück gab es hier dieses massive Steingeländer, das einen davon abhielt in die Tiefe zu segeln. Es war bestimmt nicht ohne Grund dort aufgestellt worden. Zu viele Todesfälle aufgrund von Schwindel-Attacken machten sich in einer Kathedrale auf Dauer wahrscheinlich nicht allzu gut. Wobei man sagen muss, das man sich damit durch die folgenden Beerdigungen auch seinen Arbeitsplatz sichert.

Doch die Empore war nur eine Zwischenstation. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Eingang zu einer weiteren engen Wendeltreppe, die sich diesmal in die entgegengesetzte Richtung schraubte. Wir waren doch schon fast oben im Gewölbe. Wohin wollte die denn noch führen?

Es half nichts! Wir waren nun bis hierher gekommen,also mussten wir auch noch herausfinden, wie es weiter ging. Auch wenn das bedeutete, das wir dem Schöpfer direkt vor die Füße speihten. Die untere Hälfte der Treppe war uns bereits unendlich lang vorgekommen. Doch sie war ein Dreck gegen die obere. War es nun wirklich soweit? Stiegen wir nun direkt in den Himmel auf? Was gäbe es dafür wohl einen besseren Weg, als über eine Wendeltreppe in einer Kathedrale? Wehe, wenn Petrus kein gescheites Essen für uns hatte, wenn wir oben ankamen. Ein Döner wäre klasse!

"Da!" Rief Heiko plötzlich, "das Licht wird heller! Wir müssen fast oben sein! Oh, verdammt, es war doch nur ein Scheinwerfer!"

Das gleiche passierte uns noch drei mal. Dann erreichten wir das Ende der Treppe wirklich. Wir wurden zwar weder von Petrus noch von einem Döner empfangen, doch das was wir sahen beeindruckte uns genauso. Wir standen hoch über der Stadt auf dem Turm der Kathedrale und konnten über das ganze Land blicken. Der Wind wehte uns steif entgegen und hätte uns wahrscheinlich gerne ein Stück mitgenommen, doch auch hier gab es wieder ein robustes Steingeländer, das uns auf dem schmalen Absatz festhielt. Man konnte einmal ganz um den Turm herumlaufen und in jede Richtung sehen.

Weit hinten lag das Dorf in dem wir heute morgen gestartet waren. Es war eine kurze und eher unruhige Nacht gewesen. Aus irgendeinen uns vollkommen unerklärlichen Grund wurden in den Veranstaltungsräumen in dieser Region Sicherungskästen verbaut, die einen permanenten Brummton von sich gaben. "So ungefähr kannst du dir einen Tinnitus vorstellen!" Meinte Heiko am Abend. Es musste wirklich schrecklich sein, denn mich trieb dieses Geräusch bereits in den Wahnsinn, obwohl ich es nur eine Nacht ertragen müsste und obwohl ich wusste, dass ich jederzeit aus dem Raum fliehen konnte. Wie musste es sein, das Geräusch ständig im Kopf mit sich herumzutragen?

Auch den Kanal konnte man von hier aus sehen. Das Wasser spiegelte die Wolken und die herbstlichen Platanen bildeten eine rote Linie, die sich einmal quer durchs Land zog.

Auf der anderen Seite konnte man die Kanalbrücke und die Schleusen sehen. Hier befand sich die Touristen-Information, die wir wenige Stunden zuvor aufgesucht hatten. Die freundliche Frau hatte sich über eine halbe Stunde Zeit genommen um sämtliche soziale, humanitäre und kirchliche Einrichtungen der Stadt anzurufen und nach einem Schlafplatz für uns zu suchen. Sie hatten allesamt abgelehnt. Am Ende war der Frau nichts anderes übrig geblieben, als uns mit schlechtem Gewissen und einer ordentlichen Portion Scham für ihre eigene Stadt, wieder weiter zu schicken. Sie hatte keine Chance!

Beim Betreten der Stadt hatten wir dann eine ältere Dame getroffen, die. It ihrem Bruder spazieren gegangen war. "Wenn ihr garnichts anderes findet," hatte sie gesagt, "dann könnt ihr mich anrufen. Ich habe ein Zimmer für euch."

Das war eine beruhigende Option. Als die beiden gerade gehen wollten fiel uns noch etwas ein. War es nicht vielleicht sinnvoller, wenn wir die Wagen bei ihnen abstellten und dann ohne Gepäck durch die Stadt wandern konnten? Immerhin drohte es die ganze Zeit zu regnen und die Stadt lag oben auf einem Berg. Ich lief noch einmal zu ihnen zurück und fragte sie. Doch plötzlich wurden sie ganz komisch.

"Wir haben ausgemacht, dass ihr euch nur im Notfall an uns wendet, also haltet euch auch an diese Abmachung!" Sagte der Bruder schroff. Seine Schwester wollte eigentlich zusagen, traute sich nach der Rede des Mannes jedoch nicht mehr.

"Kein Problem!" Sagte ich beschwichtigend, "wir können auch alles mit in die Stadt nehmen."

Doch das Gespräch hatte bei mir ein ungutes Gefühl hinterlassen. Ihre Einladung war keine Einladung der Freude gewesen. Wir waren nicht Willkommen. Nicht wirklich.

Ich war kurz davor zu sagen: "Hier ist eure Nummer zurück! Ich merke, dass ihr nicht wirklich helfen wollt und das ist ok. Wir wollen euch nicht zur Last fallen!" Doch zu diesem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, ob sie nicht doch unsere einzige Option sein könnten. Und auch, wenn wir bei ihnen nur halb willkommen waren und die Situation dadurch vielleicht etwas unentspannt wurde, so erschien es mir dennoch besser zu sein, als eine Nacht im Regen auf der Straße einer großen Stadt.

Da war es wieder! Das gute alte Urvertrauen, das sich irgendwo versteckt hatte, nur weil das Wetter heute etwas schlechter und die Stadt etwas größer war.

Wie sich zeigte waren die Bedenken jedoch vollkommen unbegründet. Von unserem Turm aus brauchte es nur eine kleine Kopfneigung nach Links, um die Lösung für die Nacht zu sehen. Im Stadtzentrum gab es einen kleinen Park und direkt neben diesem Park stand das Hotel des poetes. Es war ein kleines, ruhiges und geschmackvoll eingerichtetes Hotel, das von einer freundlichen Dame aus Nicaragua geleitet wurde. Wie kam es eigentlich, dass es schon wieder eine Nichtfranzösin war, die uns weiterhalf, während uns alle Franzosen zuvor abblitzen ließen? Langsam wurde das auffällig. Die Frau lebte nun bereits seit mehr als 20 Jahren in Frankreich und führte das Hotel gemeinsam mit ihrem Mann. Durch die Einladung konnten wir nun den Nachmittag in Ruhe in der Stadt umherbummeln und uns alle Sehenswürdigkeiten anschauen. So waren wir auch hierher in die Kathedrale gelangt. Nun galt es, sich wieder an den Abstieg zu machen. Als wir den Kirchenboden erreichten, torkelten wir wie zwei Besoffene auf dem Weg zur Tanke. Jetzt brauchten wir wirklich etwas anständiges im Bauch. Und wenn Petrus uns schon keinen Döner schenken wollte, dann mussten wir uns eben selbst drum kümmern. Doch wie es aussah, legte er dabei seinen Segen über uns. Denn wir bekamen nicht nur einen, sondern gleich zusagen von drei unterschiedlichen Dönerbuden. Das ist ein neuer Rekord.

Spruch des Tages: So romantisch wie man glaubt, sind Wendeltreppen nun auch wieder nicht.

Höhenmeter: 55 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 6064,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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