Tag 332: Der Unfall

von Heiko Gärtner
30.11.2014 22:10 Uhr

Immer wieder stellen wir fest, dass es zwischen hilfsbereit sein und hilfreich sein, doch einen immensen Unterschied gibt. So wollte uns die alte Dame, die uns gestern morgen vom Mönchskloster abholte, einen riesigen Gefallen tun und uns einen Schlafplatz für die Nacht organisieren. Leider hatte sie jedoch keine Ahnung, wo genau die anderen Mitglieder ihres Jakobsvereins wohnten und so beschrieb sie uns auf der Karte einen Punkt, der ungefähr fünf Kilometer vom Haus der Dame entfernt lag, die uns zu sich eingeladen hatte. Doch das allein war. Icht das Hauptproblem. Ungünstiger war, dass die Dame fünf Kilometer abseits unseres Weges lag. Wir hätten also noch einmal zurück gehen, dann 5km weit vom Weg abgehen und morgen alles wieder in die entgegengesetzte Richtung marschieren müssen. Das machte einfach keinen Sinn. Also riefen wir die Dame an und sagten ihr ab. Das war gar nicht so leicht, wie es sich anhört, denn wie erklärt man jemandem auf Französisch, dass man seine Einladung leider doch nicht annehmen kann, weil man die falsche Adresse hatte? Das Gespräch sah etwa folgendermaßen aus: "Bonjour, jö swie Tobias, lö peleren. Nu, äääh, es que, äääääh äääh, also Nu, Hmm, verdammte Scheiße, wie sage ich das denn jetzt!?! Also ähhhhh. Nu pa a ven, pa, pa, pa, pa, ven, ven, nu pa venier!" Das letzte schien dann wohl wirklich so etwas wie "wir kommen nicht" zu heißen, denn die Frau antwortete: "darkohr, sawa bon!" Was soviel heißt wie, "alles klar, ist ok!"

Damit war offensichtlich alles geklärt.

Wir schlugen nun die Straße zu unserem eigentlichen Ziel ein. Es folgten zwei Orte, die sich direkt hintereinander befanden. Im ersten hatten wir schon mal kein Glück. Dafür wehte uns der Wind fast von der Straße und rauschte so laut i unseren Ohren, dass eine Unterhaltung unmöglich war. Wenn wir etwas sagen wollten, dann schreien wir uns genauso an wie auf einer Autobahn.

Als wir den zweiten Ort erreichten, sahen wir ein Mädchen auf der Straße sitzen, dass sich schmerzverzerrt die rechte Schulter hielt. Ein etwa 16jähriger Junge Stand neben ihr und schaute sie bedröppelt an. Hinter den beiden stand ein Motorroller, daneben ein Auto und zwei andere Männer. Auf dem Boden lagen Teile von einer Stoßstange verteil. Man musste nicht Sherlock Holmes sein, um zu erraten, was hier passiert war. Die beiden Jugendlichen hatten mit ihrem Moppet einen Zusammenstoß mit dem Auto gehabt. Ihm war dabei nichts passiert, ihr offensichtlich schon.

"Braucht ihr Hilfe?" Fragte ich einen der Männer, "Heiko ist ausgebildeter Rettungssanitäter und kann vielleicht etwas machen."

Hilflos schaute uns der Mann an, so als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Doch das Wort Arzt klang schonmal gut für ihn und so ließ er Heiko das Mädchen untersuchen. Ihr Schlüsselbein wär gebrochen und sie stand unter Schock. Sie war vollkommen panisch und hatte Todesangst. Außerdem fror sie wie ein Schlosshund und hatte Schmerzen bei jeder noch so kleinen Bewegung.

Ein Auto fuhr vor und die Mutter des Jungen stieg aus. Heiko versuchte den anderen mitzuteilen, dass die Kleine ein gebrochenes Schlüsselbein hat und sofort in ein Krankenhaus musste, doch keiner der Anwesenden hörte ihm zu. Der Mann, mit dem wir uns am Anfang unterhalten hatten und der als einziger Englisch strach, war verschwunden. Alle anderen standen umher und versuchten so unnütz wie möglich zu sein. Natürlich war das nicht ihre wirklich Absicht. Eigentlich wollten sie ja helfen, doch standen sie sich dabei so sehr im Weg, dass sie alles nur noch schlimmer machten. So kümmerte sich niemand um das verletzte Mädchen. Der Freund hatte nur sorge um sein Moppet, die Mutter lief hin und her und versuchte, die Eltern des Mädchens zu erreichen und der noch übrig gebliebene Mann war lediglich körperlich anwesend. So blieb Heiko letztlich nichts anderes übrig, als das ungünstigste zu tun, was man in einer solchen Situation tun konnte. Er musste dem Mädchen selbst erklären, was mit ihr los war. Normalerweise war es das beste, ihr Mut zuzusprechen, sie zu beruhigen und ihr zu sagen, dass alles halb so wild sei. Die Faktenlage erklärte man dann jemand anderem, der nicht direkt involviert war und der frei handeln konnte. Doch mit handeln hatte es hier niemand besonders am Hut. Schließlich hielte sich das Mädchen selbst ins Auto, wo es zumindest etwas wärmer war als auf dem kalten Boden. Heiko hatte der Frau deutlich gemacht, dass sie mit dem Mädchen einfach ins Krankenhaus fahren müsste, wo sie einen Stützverband und wahrscheinlich sogar ein Paar Schrauben in den Knochen bekommen würde. Doch sie fuhr nicht los. Als wir die Szene verließen, standen sie noch immer da, mit offenen Türen und offener Kofferraumklappe. Später kamen wir noch einmal an ihnen vorbei und konnten sehen, dass nun ein Krankenwagen bei ihnen stand. Warum in aller Welt hatten sie einen Krankenwagen geholt, Wodkas Mädchen transportfähig war und sogar selbst ins Auto einsteigen konnte. Der einzige Erfolg, der damit erzielt wurde war, dass sie nun noch länger in der Kälte sitzen musste und noch mehr Zeit hatte in Panik zu geraten.

Denn darin lag das eigentlich Hauptproblem. Ein gebrochenes Schlüsselbein IST keine Todesursache. Ich selbst habe mir einmal das Schlüsselbein gebrochen und bin damit einige Wochen herumgelaufen, weil alle Ärzte dächten, ich hätte Mumps. Doch das Mädchen spürte nur einen schrecklichen Schmerz, eine Kälte und die Ungewissheit, darüber was der Unfall in ihr alles Zerstört hatte. Dadurch versetzte sie sich selbst in Panik und wurde handlungsunfähig. Sie war gelähmt vor Angst, dass sie sterben könnte und allein dadurch brachte sie sich in eine ernsthafte Gefahr. Ihr Körper geriet in einen Zustand, der absoluten Hochspannung, weil er nur noch darauf ausgerichtet war, aus der Todesgefahr zu entkommen. Doch das konnte er nicht, da die Gefahr lediglich im Kopf des Mädchens stattfand. Alles was sie in dieser Situation gebraucht hätte, wäre jemand gewesen, der sie beruhigt, der ihr Wärme und Nähe gibt und der für sie da ist, damit sie weiß, dass alles wieder gut wird.

Wir mussten an Paulina denken, die sich zuhause in Nürnberg gerade ähnlich fühlte, wie das Mädchen hier auf der Straße. Bei ihr wurde ein Schwarzschimmelpilz im Darm entdeckt, der auf Dauer ihr Verdauungssystem zerstören würde. Es ist eine Sache, mit der definitiv nicht zu spaßen ist, ähnlich wie mit einem gebrochenen Schlüsselbein. Doch der Pilz kann in ihr nur deshalb überleben, weil ihr Körpermilieu im Ungleichgewicht ist. Sie ist übersäuert, durch die vielen Nahrungsgifte und zu viel Zucker geschwächt und ihre Hoffnungslosigkeit und ihre negativen Gefühle rauben ihr alle Kraft. So gerät sie in die gleiche Starre, wie das. Äschen bei dem Unfall und schafft es nicht, die Situation mit Gelassenheit zu sehen, so dass sie weiterhin ruhig und kreativ bleiben kann. Doch nur so kann es ihr gelingen, den Pilz wieder loszuwerden und aus ihrem Stimmungstief herauszukommen, um konstruktiv an ihrem Aufbruch und ihrer Wandlung zu arbeiten. Es ist wie, wenn man vor einem Grislibären steht. Wer in Angst und Panik verfällt, wird definitiv nicht so handeln, dass es ihm gut tut. Nur wer die Situation mit Ruhe und Gelassenheit angehen kann, kann sie auch bewältigen.

Und nicht anders ging es den anderem Menschen am Unfallort. Sie waren nicht einmal selbst betroffen und doch waren sie so sehr in der Angst gefangen, dass sie etwas falsch machen könnten, dass sie lieber gar nicht handelten. Wie oft kommen solche Situationen übel auf der Welt vor und wie viel Leid entsteht dadurch. Wie wichtig wäre es, dass wir die Gelassenheit zurückfinden, die wir benötigen, um mit solchen Situationen wirklich umgehen zu können.

Das Rathaus in Maussane hatte gerade seit knapp 10 Minuten geschlossen, als wir es erreichten. Dafür begann es nun dunkel zu werden und leicht zu regnen. Eine halbe Stunde lang suchte ich vergebens nach einer anderen Möglichkeit. Dann gaben wir es auf. Doch bei diesem Sturm ein Zelt aufzubauen grenzte fast an Selbstmord. Vor allem erschien es uns fast unmöglich, eine geeignete Wiese zu finden.

Dann jedoch tauchte im Dunkeln vor uns das Best Western Hotel 'Aurelia' auf.

"Da habt ihr Glück!" sagte die fröhliche hotelmanagerin, die sich als Florence vorstellte. "Ich habe heute einen wirklich guten Tag, denn wir haben gerade einen Schweren Rechtsstreit gewonnen. Außerdem gefällt mir eure Idee. Hier ist ein Zimmer für euch!"

Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich konnte es kaum erwarten Heiko die Frohe Botschaft zu überbringen.

Heute wanderten wir dann 7km bis in den nächsten Ort und bekamen hier ein altes angeschimmeltes Gemeindehaus, mit leichten löchern im Dach. Ansonsten gibt es nicht viel zu berichten.

Spruch des Tages: Probier's mal mit Gemütlichkeit! (Dschungelbuch)

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 6253,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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