Tag 343: Fallen lassen

von Heiko Gärtner
13.12.2014 19:51 Uhr

Heute war ein kalter aber wunderschöner Wintertag. Die Gräser waren leicht überfroren und an einem kleinen Wasserlauf konnten wir sogar die ersten Eiszapfen sehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Sonne so stark wurde, dass sie uns wieder wärmte und das Gefühl in unsere Finger zurückbrachte. Heiko hatte sich vorgestern eine Erkältung zugezogen und heute war schnieftechnisch sein Highlight-Tag. Der Kopf dröhnte ihm und alle paar Meter drängte sich der Schleim aus seiner Nase. Offenbar hatte sein Körper die kalten Temperaturen zum Anlass genommen, sich die Nebenhöhlen und die Nase als aktuellen Lieblingsweg zur Entgiftung auszusuchen.

Ich war zum Glück bislang verschont geblieben, doch es gab etwas anderes, das mich heute umhertrieb und das meine Gedanken gefangen hielt. Kurz bevor wir das Heim der freundlichen Nonne verlassen hatten, haben wir mit einem Blick auf dem Computer festgestellt, dass ich eine Mail von meiner Mutter bekommen hatte. Es war jedoch keine Zeit mehr gewesen, sie in Ruhe zu lesen und so konnte ich nicht verhindern, dass mein Kopf sich den ganzen Tag über lauter mögliche Mail-Inhalte ausmalte.

In Le Val trafen wir dann auf lauter liebe Menschen, die uns alle ein bisschen unterstützten. Ein bisschen Obst und Gemüse hier, ein paar Eier da und ein freundliches Gespräch dort. Doch einen Schlafplatz fanden wir nicht. Wir wanderten also weiter bis wir zu einem Gutshaus mit dem Namen "La Bastide D´Angélique" kamen, in dem es auch Gästezimmer gab.

Als ich an der Tür klingelte, öffnete sich ein Fenster über mir und die Hausherrin kam zum Vorschein. Sie wirkte recht vergnügt und als ich nach einem Zimmer fragte meinte sie nur: „Warum nicht!“

Am Nachmittag hatte sie noch einen Termin in der Stadt und da sie uns nur ungerne allein im Haus zurücklassen wollte, begleiteten wir sie, um in der Bibliothek zu arbeiten. Hier hatte ich nun auch die Gelegenheit, die Mail abzurufen. Mein Herz schlug bis zum Hals als ich die Betreffzeile las und ich kann nicht einmal sagen warum. Eigentlich sollte einen eine Mail von der eigenen Mutter nicht so aus der Fassung bringen, oder?

Mein erstes Gefühl, dass beim Lesen der Mail aufkam, war eine tiefe Trauer und Betrübtheit. Beim zweiten Mal lesen kamen dann vor allem Ärger, Wut und Fassungslosigkeit hinzu.

Warum aber war ich traurig?

Im August hatte ich meiner Mutter geschrieben, dass ich den Kontakt mit ihr vorerst abbrechen möchte, weil wir nur noch über unsere Egos kommunizierten und uns gegenseitig vorwarfen am Leid des anderen Schuld zu sein. Danach hatten wir tatsächlich lange keinen Kontakt mehr gehabt und in der letzten Zeit war er sporadisch wieder aufgeflammt.

In ihrer letzten Mail hatte meine Mutter geschrieben, dass sie glaube, dass mich die Funkstille genauso stark belaste, wie sie.

Ich brauchte viele Tage, um über diese Aussage nachzudenken und zu fühlen. Stimmte es? Belastete mich dir Funkstille wirklich? Ich wünschte mir, dass ich die Frage mit ja beantworten konnte, doch das war nicht der Fall. Es hatte so viel böses Blut zwischen uns gegeben, dass mir das Schweigen gerade deutlich lieber war als weitere Streitmails. Die Verletzungen waren noch nicht verheilt und ich war noch nicht bereit dafür, wieder an unserer Beziehung zu arbeiten. Dafür war einfach noch zu viel Wut und Groll in mir, den ich noch nicht verarbeitet hatte.

Anders war es bei meinem Vater. Er hatte sich bislang an der Diskussion nicht beteiligt und hatte noch kein einziges Mal seine eigene Meinung mitgeteilt. Ich hatte oft das Gefühl, dass er als eigenständige Person gar nicht richtig existierte und nur die Meinungen von Mama übernahm.

Moment mal! War das nicht auch genau mein Thema? Hatte ich diese Lebensstrategie nicht eins zu eins von meinem Vater übernommen? War es nicht genau das Kernthema, an dem ich gerade arbeitete? Nicht nur ein Schatten von anderen, sondern der Erschaffer meines eigenen Lebens zu sein? Ich spürte, dass hier ein Kernschlüssel lag. Wie jeder Mensch hatte ich schon als Kind durch Nachahmung gelernt und dadurch auch die Überlebensstrategie meines Vaters kopiert. Mein Bild von einem erwachsenen Mann, war das Bild meines Vaters. Welches sollte es auch sonst sein? Mein Vater jedoch war, soweit ich das aus Erzählungen und aus dem Kontakt zu meinen Onkeln und Großeltern mitbekommen habe, in einer Familie aufgewachsen, die von seiner dominanten Mutter geführt wurde und in der außer Wut nahezu nie Gefühle geäußert wurden. Er musste gehorchen und nahezu alle Entscheidungen wurden von der Mutter übernommen. Wie hätte er also lernen sollen, zu seinen Gefühlen zu stehen und seine eigenen Entscheidungen zu treffen? Und wie hätte er dies an seinen Sohn weitergeben können? Mehr und mehr wird mir bewusst, wie weit die Systematiken im Familiensystem zurückreichen und wie eng meine eigenen Lebensthemen mit denen meiner Eltern und Großeltern verwoben waren. Erst in den letzten Tagen habe ich wirklich gemerkt, wie belastend und schmerzhaft es ist, dass mein Vater für mich zumindest in seiner Rolle als Vater kaum existent ist. Auch dies hatte ich in die letzte Mail geschrieben. Die Antwort war eindeutig. Papa antwortete zwar nicht selbst, aber meine Mutter richtete mir aus, dass er mir niemals schreiben würde. Es wäre nicht möglich für ihn, seine Gefühle in einer Mail auszudrücken, also gab es auch keinen Kontakt. Sein Wesen bestünde nun einmal in der Fähigkeit, sofort zur Stelle zu sein, wenn ihn jemand brauchte und ohne zu hinterfragen die Hilfe zu leisten, die von ihm verlangt wurde. Das könne man in einer Mail nicht rüberbringen.

Ich spürte, wie eine unsagbar große Endtäuschung und Wut gegenüber meinem Vater aufkam. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Wie konnte es sein, dass er nur Mamas Meinung vertrat und nicht ein einziges Mal zu mir stand? Und wenn es wirklich so war, dass er meinen Weg nicht verstehen und nicht gutheißen konnte, wenn er wütend war, weil ich aus seiner Sicht Unfriede in die Familie gebracht hatte, hatte ich es dann nicht wenigstens verdient, dass er mir seinen Zorn mitteilte? Doch es kam einfach nichts. Es war als wäre er nicht da.

Beim zweiten und dritten Lesen der Mail wurden die Schläge, die in den Zeilen steckten, immer deutlicher für mich spürbar. Ich fühlte, wie Wut in mir aufkochte und die Trauer verdrängte. Bislang hatte ich die Beziehung zu meinen Eltern als komplex und schwierig angesehen und auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie jemals wieder heilen konnte, so hatte ich doch zumindest die Hoffnung darauf gehabt. Jetzt aber hörte ich in meinem Herzen das laute Knallen der Tür, die zwischen uns zugeschlagen wurde und das knarren des großen Schlüssels, der sich im Schloss drehte.

Es fällt mir gerade schwer einen Weg zu finden, mit dem ich beschreiben kann, was in mir vorgeht, ohne dass es in wütenden Schimpfattacken über meine Eltern ausartet. Oder dass ich alles herunterspiele und in die Harmoniesucht zurückfalle, bei der ich Verständnis für ihre Position heuchle, das ich gar nicht spüre. Klar haben sie ihre Gründe, genau so zu handeln wie sie es machen und klar ist ihre Reaktion nur ein Spiegel auf mein eigenes Verhalten. Natürlich schreibt meine Mutter durch ihre Worte indirekt, dass sie mir nicht zutraut, auch nur eine einzige richtige Entscheidung in meinem Leben zu treffen, weil ich mich vor Entscheidungen immer gedrückt habe. Natürlich traut sie mir nicht zu, dass ich mich selbst heilen und meinen Weg finden kann, weil ich ebenfalls immer wieder daran zweifle. Doch das ändert nichts daran, dass es mich verletzt und wütend macht, zu spüren, dass sie mich für einen geborenen Versager hält, der sich niemals ändern wird und der es deshalb auch gar nicht erst versuchen sollte.

Ich weiß auch, dass ihre verletzenden Worte und der Hass, den sie Heiko und meinem Lebensweg entgegen bringt, von ihrer eigenen Angst herrührt, nicht geliebt zu werden, doch dass macht es kein Stück besser. Ein Mörder, der einem ein Messer in den Rücken rammen will, hat dafür auch gute Gründe. Doch deshalb wird der Stich nicht weniger schmerzhaft oder weniger tödlich.

In ihrer persönlichen Wahrheit befinde ich mich auf einem Leidensweg, bei dem ich mich selbst zerstören werde, weil ich Entscheidungen treffe, die sie nicht für gut befindet. Es steht mir nicht zu, einen Wandlungsprozess anzustreben, sondern ich soll so bleiben, wie ich bin. Ein guter, liebenswerter Sohn bin ich dann, wenn ich mich in die Rolle einfüge, die den Männern in unserer Familiensystematik zugeteilt ist: Freundlich, unauffällig und weitgehend asexuell zu sein, sich eine dominante Frau zu suchen und sich ihr so anpassen, dass die Mutter den Job der Bestimmerin an die Ehefrau abgeben kann. Doch das kommt für mich nicht in Frage.

So verletzend die Mail auf der einen Seite ist, so viel Klarheit bringt sie auf der anderen auch. Sie bestätigt, dass ich mit meinen Gefühlen richtig lag. Ich hatte immer Angst zu mir zu stehen, weil ich befürchtete, dass ich verstoßen werden würde, wenn ich es tue. Jetzt weiß ich, dass es keine Befürchtung, sondern eine Gewissheit war. Doch ich weiß nun auch, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ich werde noch ein paar Tage brauchen, um wirklich zu verstehen, was das alles für mich bedeutet. Vieles wird mir erst nach und nach bewusst werden. Doch nun ist es bereits kurz vor 23:00Uhr und morgen müssen wir um kurz vor 07:00 Uhr aufstehen. Es ist also Zeit, noch eine Nacht darüber zu schlafen.

Spruch des Tages: Ich schließe meine Tür niemals vor Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten, ich lehne sie nur an. Es ist deren Entscheidung, in welche Richtung sie die Tür bewegen wollen. Entweder schließen sie sie ganz oder sie öffnen sie wieder. (Unbekannt)

 

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 6373,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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