Tag 354: Monaco

von Heiko Gärtner
23.12.2014 20:59 Uhr

Noch 3 Tage bis Weihnachten

Heute war es also soweit. Wir betraten Monaco und verließen es auch wieder. Das zweitkleinste Land der Welt ist nämlich gerade einmal 3km lang und nicht einmal einen Kilometer breit.

Doch der Reihe nach, denn zunächst muss ich noch ein bisschen von Ded erzählen, der freundlichen Dame, die uns gestern so herzlich aufgenommen hat.

Sie hatte drei Töchter, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Die jüngste führte ein relativ normales Leben, ohne besondere Auffälligkeiten. Die mittlere war eine Weltenbummlerin, die bereits seit Jahren durch Australien und Asien tourte. Sie besuchte verschiedene Meditationszentren, trampte um die Welt, jobbte als moving Farmer auf Biobauernhöfen und erlebte ein Abenteuer nach dem nächsten. Nur die harmlosesten davon erzählte sie ihrer Mutter und selbst darunter waren schon einige wirklich außergewöhnliche Erfahrungen. Ded hatte dieser Tochter gegenüber leichte Schuldgefühle, weil sie glaubte, dass das Mädchen nur deshalb den Weg in die weite Welt gesucht hatte, weil sie sich zuhause nicht wohl gefühlt hatte. War es am Ende die Unordentlichkeit und die Unfähigkeit Dinge loszulassen, die die Tochter von ihr weggetrieben hatte?

Sie stellte eine Frage in den Raum, die tatsächlich nicht so einfach zu beantworten ist: Gibt es überhaupt Kinder, die von sich aus reisen wollen, oder ist jeder Globetrotter immer auch auf der Flucht vor seinen Eltern?

Auffällig waren dabei die vielen Parallelen zu meiner eigenen Familiensystematik. Meine Mutter war zwar war Ordnung und Aufräumen anbelangt das genaue Gegenteil von Ded, doch das Thema mit der Angst vor dem Loslassen bestand auch hier. Das Chaos im Leben war hingegen eher mein eigenes Thema, dass ich mir als Akt der Rebellion gegen das Ordnungssystem und die Strukturiertheit im Leben meiner Mutter eingebrockt hatte.

Spannend war ja auch, dass ich seit der Trennung von meinen Eltern mehr noch als jeh zuvor überall eine Art Kurzzeitmütter fand. Ded bemutterte uns so herzlich, dass auch sie uns kaum wieder gehen lassen wollte. Als wir heute morgen berichteten, dass wir möglichst gleich aufbrechen wollten, um mit Monaco nicht in Verzug zu geraten, schaute sie uns so traurig an, dass wir es nicht übers Herz brachten, ihr Haus ohne ein Frühstück zu verlassen. Es war ein wunderbares Frühstück und darüber hinaus wurden wir dann auch noch mit reichlich Obst, Mandeln und Trockenfrüchten sowie mit hartgekochten Eiern für unterwegs versorgt. Als wir uns auf der Straße schließlich von ihr trennten, steckte sie uns dann auch noch 10€ zu und meinte: „Für den Fall, dass ihr es einmal braucht!“

Dann umarmte sie uns mit einer richtigen Bären-Umarmung. Wir hatten uns in unseren Leben bereits von vielen Menschen verabschiedet und nicht wenige hatten wir dabei umarmt. Daher kann ich ohne ein schlechtes Gewissen zu haben behaupten, dass ich inzwischen viele, sehr unterschiedliche Umarmungen kennengelernt hatte. Viele davon waren reine Höflichkeitsumarmungen und oft kam es sogar vor, dass das Gegenüber versuchte, trotz der Umarmung nahezu jeden Körperkontakt zu vermeiden. Bei Ded war das etwas anderes. Es war eine echte Umarmung voller Nähe und Herzlichkeit, so wie von einem alten Freund, mit dem man durch Dick und Dünn gegangen war. Oder so wie von einer Mutter zu ihrem Kind. Im Idealfall.

Auch Mari-Christin hatte etwas mütterliches gehabt, jedoch auf eine ganz andere Art. Sie selbst war kinderlos geblieben und hatte sich stattdessen um die Belange ihrer Patienten und ihrer Gemeinde gekümmert. Es war also, als dürfte ich zurzeit täglich als Sohn ein neues Familiensystem ausprobieren um mehr über mein eigenes zu erfahren.

Doch zurück zu der Frage nach dem Weglaufen der Kinder.

Heiko erklärte der besorgten Mutter, dass es grundsätzlich zwei verschiedene Lebensansätze gab, von denen einer nur ziemlich in Vergessenheit geraten ist. Die einen Menschen fühlen sich als sesshafte Wesen wohl, die anderen sind Nomaden. Das gleiche findet man auch im Tierreich und in der Menschheitsgeschichte gab es schon immer Beispiele für beide Lebenskonzepte. Man kann die Welt nun einmal auf zwei Arten entdecken. Entweder man bleibt an einem Ort, lernt ihn perfekt kennen und findet hier im Kleinen alle Antworten für das Große. Oder aber man bereits die ganze Welt, schaut sich alles ein bisschen an und zieht so die Rückschlüsse auf jeden einzelnen Ort. Keiner der beiden Wege ist besser oder schlechter und beide haben ihre vor und ihre Nachteile. Wenn einem Menschen das Reisen im Blut liegt, kann man ihn genauso wenig aufhalten, wie man einen sesshaften Menschen aus seiner geliebten Heimat locken kann. Es sind unsere Urinstinkte, eine tiefe Stimme in uns, die uns vorantreibt und auf unseren Weg führt. Kaum eine Mutter hat heutzutage Schuldgefühle, wenn ihr Kind sesshaft geworden ist, da diese Lebensform in der Gesellschaft viel öfter vertreten ist. Es ist heute einfach schwierig als Nomade zu leben und deshalb verdrängen viele Menschen den Ruf ihrer Seele lieber. Doch wenn einmal ein Kind darauf hört, dann müssen wir uns als Eltern mit der Frage konfrontieren, ob wir etwas falsch gemacht haben. Natürlich verläuft vieles nicht richtig, dass ist ja in jeder Familie so, doch letztlich ist und bleibt es die Entscheidung des Kindes, wie es damit umgehen will. Die Kinder von Ded zeigen es deutlicher, als es sonst jemand machen könnte. Denn wäre Deds Erziehung das einzig ausschlaggebende gewesen, so hätten sich alle drei Töchter gleich entscheiden müssen. Doch die eine blieb sesshaft, die zweite wurde zur Weltenbummlerin und die dritte lebt in Monaco, wo sie zur High-Society gehört. Für sie ist es wichtig, das Leben der Reichen zu führen und sich allen Luxus zu gönnen, den sie finden kann.

Doch wie sieht dieser Luxus nun eigentlich aus?

Um diese Frage lösen zu können brachen wir nun selbst nach Monaco auf und schauten uns den Kleinstaat der Higher-Class einmal genauer an.

Zu unserer Überraschung mussten wir dabei weder Grenzposten noch einen Zoll passieren sondern wanderten einfach an einem Ortseingangsschild mit der Aufschrift Monaco vorbei. Ein Polizist kam uns entgegen, grüßte uns freundlich und fragte wo wir herkämen.

„Aus Deutschland!“ antworteten wir und daraufhin sprach der Beamte auf Deutsch weiter. Dass wir mit unseren Wagen einreisen wollten war kein Problem. Er wünschte uns einen schönen Aufenthalt und schlug uns die schönste Route für den Weg vor. Dann ließ er uns passieren.

Die Stadt selbst war nicht viel anders als wir es nach der Besichtigung von Cannes und Nice erwartete hatten. Sie bestand aus Hochhäusern, die dicht aneinander in die schmale Bucht geklatscht wurden. Dass man so eng, so hohe Häuser an so steile Hänge bauen konnte beeindruckte uns dann schon ein wenig. Darüber hinaus blieb uns der Reiz der Stadt jedoch bis zum Ende verborgen. Großartige Villen von Ölscheichs, Rennfahreridolen, Musikern, Schauspielern oder Konzernchefs gab es nicht. Nur riesige Hochhäuser, die sich um den Hafen drängten. Der Hafen selbst war dann schon wieder etwas beeindruckender. Hier lagen Privatyachten in denen man eine ganze Kleinstadt hätte unterbringen können.

Warum aber ballte sich der ganze Reichtum auf diesem winzigen Fleck? Was hatten die Menschen davon? Wie konnte es sein, dass „reich“ an solchen Orten immer auch „Krieg“ bedeutete. Denn von Frieden war hier nichts zu spüren. Ähnlich wie in Andorra gab es auch hier keinen einzigen ruhigen Flecken. Ok, das stimmt nicht ganz. Es gab einen schmalen Fußweg, der außen um die Felsabhänge der Bucht führte, bis er wieder auf die Straße traf, auf der die Busse für die Innenstadt eintrudelten. Hinter der massiven Felswand gab es eine Bank auf der wir ein Picknick in der Sonne machten. Auch dass war Monaco: am 21. Dezember bei 35°C in der prallen Sonne auf einer Bank sitzen, Orangen futtern und auf das offene Meer hinausschauen. Doch es war eine Erfahrung, die außer uns offensichtlich niemand für erstrebenswert hielt. Alle anderen strömten in den Massentrubel der Altstadt und des Hafenbezirkes. Zum Glück, denn sonst wäre es mit dem Frieden hier schnell wieder vorbei gewesen.

Warum aber durfte es sonst in der Stadt nirgendwo so etwas wie Friedlichkeit geben? Heute war nun der vierte Advent und trotz des unweihnachtlichen Wetters versuchte der Kleinstaat alles so weihnachtlich wie möglich zu machen. Doch mit Besinnlichkeit hatten diese Bemühungen nichts zu tun. Alles musste blinken und sich bewegen, alles musste bunt und aufdringlich sein und am Besten sogar noch Musik machen. Monaco war eine Stadt, in deren Mitte eine Formel-1-Strecke verlief. Nicht irgendeine, sondern die gefährlichste und berüchtigtste der Welt. Die Anwohner vermieteten ihre Zimmerfenster in der Zeit der großen Rennen an Fans, die einen Haufen Geld bezahlten um die rasenden Motoren aus erster Reihe sehen zu können. Allein dies sagt bereits viel über die Stadt aus. Sie ist berühmt für ihren Motorenlärm.

Und sie ist berühmt für ihre Steuerfreiheit. Wer in Monaco wohnt, zahlt hier keine Steuern mehr, denn das Land nimmt genug über die Touristen ein.

Ein kleiner Junge ging an der Hand seiner Mutter die Hafenpassage hinunter. Er war gestriegelt wie ein kleiner Prinz und allein seine Jacke war wahrscheinlich teurer als unsere gesamte Kameraausrüstung. Als er auf eine Treppe zulaufen wollte, wurde er zurückgerissen. „Bleib stehen und benimm dich anständig!“ teilte ihm seine Mutter unmissverständlich mit. War dies wahrer Wohlstand?

Einige Mädchen im Teenageralter saßen gemeinsam in einem Café und investierten das Geld ihrer Eltern in Getränke für die man sich auch einen Kleinwagen hätte kaufen können. Dabei schauten sie sehnsüchtig und neidisch jedem Touristen hinterher, der das Glück hatte, hier nur ein Gast zu sein. Der kommen und gehen durfte wie er wollte und der zumindest aus ihrer Sicht das Recht hatte, sein Leben so zu leben, wie er es für richtig hielt. War dies die Freiheit, die man sich mit Geld erkaufen konnte?

Überall an den Häusern hingen niedliche kleine Schildchen aus Jute, auf denen ein weihnachtliches Motiv und die Aufschrift „Bonnes Fétes“ – „Frohes Fest!“ geschrieben stand. Es war wirklich schön gemacht, doch jeder Anwohner war dazu verpflichtet worden, es auf die gleiche Weise an seiner Tür anzubringen. War dies die Individualität, nach der wir strebten?

Im laufe unserer Reise hatten wir einige Menschen getroffen, die sehr reich gewesen waren. Doch die einzigen, bei denen man das Gefühl hatte, dass sie wirklich reich waren, nicht nur in der Geldbörse sondern auch im Herzen, waren die gewesen, denen man es nicht sofort angemerkt hatte. Hier jedoch wurde das Geld offen zur Schau getragen. Ich muss ja ganz ehrlich zugeben, dass mir viele Dinge nicht einmal aufgefallen wären, weil das meiste für mich so fremd ist, dass ich den Wert nicht einmal erkenne. Doch Heiko kannte sich aus seiner Versicherungszeit noch genau mit den Werten aus und konnte sowohl die Bentleys als auch die Yachten, die Rolls-Royce, die Handtaschen, die Kleidung und sogar die Schuhe der Menschen ziemlich genau einschätzen. Doch waren sie deswegen glücklicher? Wirkten sie entspannter, zufriedener, leichtlebiger? Waren sie mehr im inneren Gleichgewicht mit sich selbst, als es die Bettler auf der Straße oder der Arbeiter am Fließband zur Produktion der teuren Markenkleidung war? Waren die Menschen gesünder und schöner?

Eher nicht. Ihre Gesichter waren genauso ausdruckslos, wie die der Arbeiter in Gijón oder San Sebastian. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Masken, die hier getragen wurden, noch etwas dicker waren. Nie zuvor habe ich so viele Botox-Gesichter gesehen wie hier. Die Gesichtszüge vieler Frauen waren wie eingefroren durch das Jung-Mach-Gift. Ihre Körper verfielen genau wie die aller anderen, auch wenn sie dabei von noch so edler Kleidung verhüllt wurde. Kleidung, die ebenfalls in Indien oder Bangladesch unter übelsten Bedingungen von den gleichen Sklaven produziert wurde, die auch für Kick arbeiteten. Kleidung für dessen Felleinlagen ebenso viele Tiere gequält wurden, wie für jede andere. Worin lag also der Unterschied?

War es einfach nur der Markenname? War das Leben in Monaco auch nichts anderes, als ein Standartleben das mit der Aufschrift ‚Monaco’ künstlich verteuert wurde, wie eine Handtasche mit dem Label ‚Prada’?

Einige Unterschiede gab es hier schon. Die Stadt war die wahrscheinlich sauberste der ganzen Welt. Kein einziger Kaugummi klebte auf den Straßen, die Gehsteige waren wie geleckt und man hatte das Gefühl als müsse man sich die Schuhe abtreten, bevor man über die Stadtgrenze tritt. Außerdem gab es einige kleine Parks die sehr schön waren und anders als an vielen anderen Orten hatte man hier versucht auch den Fußgängern etwas zu bieten. Die Versuche Monaco barrierefrei zu machen endeten jedoch teilweise wieder in der gleichen Farce, wie wir es schon oft erlebt hatten. So gab es vom Fuße der Steilküste aus einen Fahrstuhl, der bis in die Altstadt hinaufführte, die oben auf dem Felsmassiv lag. Mit diesem Fahrstuhl gelangte man jedoch nicht direkt in die Stadt, sondern auf eine Zwischenebene und von dort aus mit einem weiteren Fahrstuhl wieder ein gutes Stück nach oben. Die letzte Etage jedoch musste mit einer Rolltreppe überwunden werden. Hatte es also ein Rollstuhlfahrer nun bis hier oben geschafft, war die barrierefreie Reise für ihn damit dennoch beendet.

Die Altstadt war der einzige Teil von Monaco, der nicht nur aus Hochhäusern, sondern aus normalhohen Wohnblocks bestand auch diese waren noch immer nicht schön und hätten sie irgendwo sonst auf der Welt gestanden, hätte niemand auch nur einen Blick darauf geworfen. Die Kathedrale hatte da schon etwas mehr zu bieten, war aber auch in erster Linie nobel und gepflegt. Beeindruckend konnte man sie nicht wirklich nennen, da hatten wir schön ganz anderes gesehen und das an Orten, die absolut niemand kannte.

Doch der absolute Höhepunkt der Altstadtbesichtigung war natürlich das Schloss der Königsfamilie. Es war – wie drücke ich das jetzt am besten aus – NETT. Nichts weiter. Es war nicht schön und nicht hässlich, nicht besonders auffällig und hatte weder einen besonderen Stil noch einen altertümlichen Charme. Es stand einfach dort herum. Die Burg der Österreicherin, auf der wir vor einigen Wochen am Midi-Kanal übernachten durften, war da schon bei weitem beeindruckender gewesen. Dieses Schloss hier wirkte einfach zu geleckt, zu makellos und zu langweilig, um irgendjemanden zu begeistern.

Ähnlich wie im Buckingham Palace gab es auch hier eine Garde, die in kleinen Häuschen stand und den Palast bewachte. Es war ihre Aufgabe den ganzen Tag lang steif auf einem Platz zu stehen, bis sie schließlich von einem Kollegen abgelöst wurden. Dann folgte ein ebenso steifes wie belustigendes Ritual mit Aufstampfen, Gewehr präsentieren, Gewehr wieder abstellen, Hand an die rechte Seite des Beines klatschen, Salutieren und so weiter. Es wirkte, als wäre es seine eigene Parodie, doch gleichzeitig war es wie ein Symbol dafür, wie sinnlos diese hochzivilisierten Rituale geworden sind, mit denen wir unser Leben füllen. Monaco trieb den Irrsinn der Gesellschaft noch einmal farbenprächtig auf die Spitze. Wo führt unser Streben nach Wachstum hin? Was ist unser Ziel? Wollen wir wirklich unser ganzes Leben lang schuften um uns dann ein Apartment im 12. Stock über der Autobahn von Monaco zu kaufen? An einem Ort, an dem eine Banane mehr kostet, als woanders ein ganzes Abendessen? Nur damit dann zwei Jahre nach unserem Einzug ein neues Hochhaus vor unseres gebaut wird und uns den Blick aufs Meer versperrt?

Ein Engländer, der uns den Weg zum Palast beschrieb brachte es auf den Punkt: „Ganz Monaco ist eine Innenstadt. Natur werdet ihr hier nicht mehr finden!“

Ist also das oberste Ziel des Strebens nach Wohlstand die vollständige Entfremdung von der Natur, so dass wir komplett vergessen können, wer wir eigentlich sind? Spritzen wir uns deshalb mit Botox voll, weil der Mensch unter der Maske aufgehört hat zu existieren?

Doch noch etwas anderes wurde hier sichtbar. Denn Monaco war nicht nur die Stadt der Reichen. Wo viele Reiche sind muss es zwangsläufig auch viele Arme geben, die die Drecksarbeit erledigen, denn sonst bringt einem das Reichsein ja gar nichts mehr. In Monaco lebt also die gesamte Bandbreite der Gesellschaft auf engstem Raum beieinander. Ein Umstand, durch den das Geldsystem besser funktioniert als überall sonst auf der Welt. Denn hier kann man direkt sehen, was passiert wenn man den Durchbruch schafft. Die ganzen Zuckerstückchen des Reichtums werden einem täglich präsentiert, so dass der Wunsch nach mehr stetig geschürt wird. Gleichzeitig ist aber auch stets präsent was passiert, wenn man abrutscht. Die Armut ist zwar versteckt und die Polizisten achten genau darauf, dass sich hier keine Bettler ansiedeln, doch die Angst vor dem Mangel steht dennoch wie ein Sklaventreiber mit einer Stachelpeitsche hinter einem. Umso mehr waren wir beeindruckt davon, dass wir auf dem Weihnachtsmarkt dennoch einen Döner geschenkt bekamen. Und nicht nur das: Zwei junge Männer in schnieken Anzügen schenkten uns im vorbeigehen 5€ und wünschten uns eine gute Reise. Die Ambivalenz bestand also auch hier. Die einen schauten uns mit einer Verachtung an, als wollten sie uns mit ihrem Blick zum explodieren bringen und für die anderen waren wir eine Art Helden.

Der einzige wirkliche Kontakt den wir dann hatten, war jedoch nicht zu einer einheimischen, sondern zu einer jungen Künstlerin aus Bulgarien. Sie überfiel uns mit ihrem Lächeln fast auf der Straße und ließ es sich nicht nehmen, im Supermarkt eine Flasche Wasser und einige Bananen zu kaufen. Dann schlenderte sie noch ein Stück mit uns über den Weihnachtsmarkt.

Auf für sie war es der erste Tag in der Stadt. Sie wollte Künstlerin werden und begann hier eine Ausbildung bei einem Bildhauer. Wieder eine Künstlerin also. Spannend wie viele Künstler wir auch schon angezogen haben. Wenn uns in einer Stadt jemand anspricht, dann ist es fast immer ein Künstler. Jemand, der sich vorgenommen hat, die Welt etwas schöner zu verlassen, als er sie vorgefunden hat. Jemand, der in der ganzen Absurdität dieser Gesellschaft auf seine Art noch immer nach einem Sinn sucht.

Als sie schließlich zurück zur Arbeit musste, verabschiedete auch sie sich mit einer echten Bärenumarmung. Sie legte ebenso viel Herzlichkeit hinein, wie Ded am Morgen und nach all den kalten Fassaden in Menschengestalt, denen wir hier begegnet waren, tat diese Herzenswärme besonders gut. Dann verschwand das quirlige Wesen in der Menge und wir zogen weiter in Richtung Menton.

Bis zur italienischen Grenze waren es jetzt vielleicht noch 15 Kilometer und Menton war die letzte Stadt in Frankreich. Es wurde bereits dunkel und wir hatten noch gut 10 Kilometer vor uns. In Monaco zu übernachten sahen wir letztlich doch nicht als gute Idee an und auch in der kleinen Ortschaft danach ergab sich keine Möglichkeit. So wanderten wir in den Sonnenuntergang, umrundeten die nächste Bucht und landeten schließlich an einem anderen Strand. Auch hier ging der Irrsinn weiter. Überall waren flackernde Lichter und bunter Weihnachtsschmuck. Bei Nacht sah es wirklich ganz cool aus, doch nervös machte es einen noch immer. Auch hier hatte man die Hauptstraße wieder direkt am Meer entlang gebaut. Dann kam eine Reihe mit Hochhäusern die so irreführende Namen trugen wie „Der Garten am Rande des Meeres“. Und dahinter kam dann gleich die nächste Hauptstraße, auf der sogar noch etwas mehr Verkehr herrschte. Richard, unser Jakobshelfer aus Nice hatte uns die Adresse eines Nonnenklosters in Menton gegeben, das uns vielleicht aufnehmen würde. Normalerweise kostete die Unterbringung hier etwas, aber vielleicht hatten wir ja Glück und sie machten bei uns eine Ausnahme. Es schien uns jedenfalls die beste Option zu sein und so suchten wir nach der genannten Adresse. Die erste Frau die wir danach fragten war eine etwa siebzigjährige Obdachlose, die ihr gesamtes Hab und Gut in einer Tüte am Rande der Strandpromenade aufbewahrte. Sie konnte uns nicht wirklich helfen, doch sie war eine so liebe Frau, dass es trotzdem Spaß machte, sich mit ihr zu unterhalten. Dennoch stellte sie uns vor das gleiche Rätsel wie die Millionäre. Jeder Gesellschaftsmensch in einem mehr oder weniger normalen Job hatte gewisse Verpflichtungen, die zumindest teilweise erklärten, warum er an einem bestimmten Ort lebte und nicht woanders. Obdachlosen und mehrfachen Millionären hingegen stand die Tür zur Welt eigentlich sperrangelweit offen. Sie konnten hingehen, wo immer sie wollten, da sie es sich einfach leisten konnten. Warum also suchten sich sowohl die einen als auch die anderen dann mit einer solchen Treffsicherheit immer wieder so grausame Orte aus?

Auf dem Weg zu unserem Kloster kamen wir durch eine wahre Freakshow des Weihnachtsrummels. Auf dem Boulevard der Innenstadt hatte man große Figuren aufgebaut, die verschiedene Situationen in einem Zirkus darstellten, wobei meist eine der Figuren ein Weihnachtsmannkostüm trug. Die Männchen waren jedoch so gruselig, dass ich fast eine Gänsehaut bekam. Halloween war wirklich ein Dreck dagegen. Die Clowns waren unheimlicher als die aus ES und einige andere Szenen zeigten Weihnachtsmänner, die gerade von Magiern zerstückelt wurden.

Im Kloster hatten wir Glück. Die Nonnen nahmen uns auch ohne Geld auf und wir bekamen sogar noch ein Abendessen. Als dieses vorbei war wurden die Gäste des Klosters angekündigt und wir bekamen einen mächtigen Applaus von den alten Damen, die hier ebenfalls wohnten. Außer Reisenden betreuten die Nonnen nämlich normalerweise vor allem Rentner. Anschließend wurde gemeinsam ein Ave Maria gesungen.

Beim Essen erzählte mir Heiko von einigen magischen Begegnungen, die er an diesem Tag gehabt hatte. Genaugenommen hatte es eigentlich bereits gestern Abend begonnen. Eine Freundin von ihm hatte ihm geschrieben, dass sie bei einer Meditation so etwas wie einen schwarzen klebrigen Geist in seiner Lunge gesehen hatte. Sie beschrieb dabei das selbe Bild, dass auch Heiko in unserem Heilungsritual erschienen war. Doch ihre Nachricht kam bereits bevor ich den Bericht darüber veröffentlichen konnte. Sie hatte also noch nichts davon gewusst. Damit war sie nun schon die Zweite, die uns innerhalb von drei Tagen über schwarze Geister berichtete, die sich in einem festsetzen konnten. Erst hatte Heiko damit begonnen, sich mit dem Thema Atmen zu beschäftigen, bei dem es unter anderem auch darum ging, alte, dunkle Erfahrungen abzuatmen und den Körper auf energetischer Ebene zu entgiften. Dann hatte die starke Erkältung angefangen. Anschließend sahen wir im Ritual das Bild der teerartigen Masse in seiner Lunge und seit dem schmerzt ihn die Brust stärker als je zuvor. Wenn man die Muskeln befragt kommt dabei heraus, dass das Thema rein auf der geistesebene stattfindet und dass es nichts Körperliches ist. Und nun kam auch noch die Information, dass eine weitere Energieheilerin das gleiche Bild gesehen hat? Irgendwie scheint das alles langsam kein Zufall mehr zu sein.

Und dann ist da noch die Verbindung mit Paulina, die irgendwo eine besondere Rolle in Heikos leben spielt. In meinem natürlich auch, aber auf eine andere Art und Weise. Nach der Vision vom Raben und vom Wolf, war dann zunächst der Hund aufgetaucht, der mit einem Raben am Strand spielte. Heute kam dann eine ähnliche Begegnung hinzu.

Ich war gerade dabei etwas zu Essen zu besorgen und Heiko saß auf einer Bank am Strand. Er kaute auf seinem Zahnholz herum und starrte in die Wellen. Plötzlich kam ein Hund angelaufen, ein Hund von exakt der selben Rasse wie der, der zuvor mit dem Raben gespielt hatte. Er nahm sich ein Stück Holz vom Strand und kaute ebenfalls darauf herum. Er spielte eine Weile damit und dann ohne eine Vorwarnung verschwand er. Keine 10 Sekunden später kam ich mit dem Döner zurück. So als wollte er klarstellen, dass diese Botschaft wirklich nur für Heiko gedacht war.

„Und jetzt pass auf, war mir gerade hier in unserem Altenheim Schrägstrich Nonnenkloster passiert ist!“ schloss Heiko seine Erzählung beim Essen: „Eine alte Frau kam auf mich zu und sprach mich erst einmal auf Französisch an. Als sie mitbekam, dass wir deutsch sind und zu zweit um die Welt wandern kam sie ein Stück näher und sagte dann ebenfalls auf Deutsch: ‚Zu zweit? Zu zweit ist nicht gut! Da fehlt immer einer! Mann muss schon zu dritt sein, damit man komplett ist!’ Dann verschwand sie.“

Spruch des Tages: Der Irrsinn trägt Prada!

Höhenmeter: 230 m

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 6586,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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