Tag 365: Neujahr

von Heiko Gärtner
03.01.2015 00:22 Uhr

Heute sind wir nun seit genau einem Jahr unterwegs. Heute vor einem Jahr war der Tag Null, der Tag, an dem wir die letzten Vorbereitungen getroffen haben, an dem wir die letzten Techniktests durchgeführt, die letzten Daten von unseren Computern gesichert und unsere Wagen das erste Mal vollständig gepackt haben. Der Tag, an dem wir uns von Heikos Elternhaus verabschiedeten und uns ein letztes Mal dort in die Federn legten. Nicht lange, erst in der Früh, kurz bevor die Sonne bereits wieder am Aufstehen war. Dann brachen wir auf und seitdem sind wir auf dem Weg.

Seit jenem kalten Wintertag ist viel passiert. Ich weiß noch genau, dass sich die ersten Schritte unserer Reise damals nicht nach einem neuen Leben als Nomaden anfühlten. Es war ein Spaziergang nach Nürnberg, nicht anders als viele andere Tageswanderungen, die wir in unserem Leben bereits gemacht hatten. Es war ein kleiner Urlaub nach dem vielen Stress der Vorbereitung. Ich erinnere mich auch noch daran, dass unsere kleine Kamera bereits nach den ersten Metern kaum noch eine Akkuleistung hatte, weil die Kälte dem Gerät so sehr zusetzte. Dann kam Ingrid von inTV und dokumentierte unsere ersten Schritte. Wir versuchten munter und lebensfroh zu wirken, doch das was wir hauptsächlich spürten, waren die Müdigkeit und die Erschöpfung der letzten Tage. Das Wandern war damals wie eine Kur zur Erholung der müden Geister. Doch die Lasten der letzten Zeit ließen sich nicht so einfach abschütteln. Wir wanderten viel zu weit, waren wieder komplett erschöpft und bereits am zweiten Tag tauchten die ersten Probleme mit unseren Wagen auf. Erst kippte meiner fast einen Berg herunter, weil ich so ängstlich war, dass ich ihn kaum führen konnte und dann stürzte Heikos auf die Seite, weil er eine Wurzel übersehen hatte.

Und heute?

Ein Jahr später wirken diese Erinnerungen, als wären sie aus einer anderen Welt. Zwischen diesen beiden Neujahrstagen liegen gefühlte Jahrzente und gleichzeitig ist das Jahr so schnell verflogen, als wäre es nur ein Traum gewesen. Letztes Jahr im Januar konnten wir uns nicht einmal vorstellen, dass es irgendwann einmal Februar werden würde und wir noch immer unterwegs waren. Jetzt kommt uns ein Jahr wie ein Wimpernschlag vor.

Unsere Wagen, die sich damals noch so seltsam fremd angefühlt haben, sind nun unser Zuhause geworden, unsere Schneckenhäuser in denen sich alles befindet, was wir noch besitzen.

Vieles hat sich in der Zeit verändert und wir durften viele neue Schritte gehen. Nicht nur auf der Erdoberfläche, sondern auch in unserem Geist, in unserem Sein und in unserem Bewusstsein. Wir haben viele Ansichten überbordgeworfen und neue hinzubekommen, Beziehungen haben sich verändert, aufgelöst oder sind entstanden. Und nun geht unsere Reise in die zweite Runde. Das Ziel heißt nun Rom und nicht mehr Santiago. Vorerst. Wo es dann hingeht weiß nur der Wind, der uns leitet und voranweht. Vielleicht Israel, vielleicht auch ganz woanders hin. Time will tell.

Unsere Silvesternacht war eher ruhig. So seicht, wie hier in Italien das Weihnachtsfest gefeiert wird, ist auch das Silvester. Weil es an Heilig Abend nicht geklappt hatte, schauten wir uns am frühen Abend Weihnachtsfilme an, wodurch seltsamer Weise mehr Weihnachtsstimmung entstand als eine Woche zuvor. Einer von ihnen war Santa Clause, ein Film bei dem es um einen Mann geht, der aus versehen den Weihnachtsmann verschwinden lässt und dann an seine Stelle treten muss. Gemeinsam mit seinem Sohn reist er an den Nordpol und erlebt dort alle Wunder, die sonst nur in den Phantasien der Kinder existieren. Als beide zurück nach hause kommen, glaubt ihnen natürlich kein Mensch. Der Junge wird als Fantast abgetan und der Vater verliert sogar seinen Job und das Besuchsrecht für seinen Sohn. Warum? Nur weil seine Weltsicht kleines bisschen anders ist, als die der anderen. Er macht nichts Böses, nichts Gefährliches und nicht einmal etwas Verrücktes. Er versucht nur, die Kinder zu inspirieren und weicht dadurch die Grenzen des Tellerrandes der Menschen auf. Das reicht aus um ihn zu verstoßen.

Es war nur ein Kinderfilm, doch auf seine Art steckte unglaublich viel Wahrheit in ihm. In unserer Welt würde es genauso passieren und es passiert auch täglich. Wie viele Kinder mag es wohl geben, die sensibel genug sind um andere Welten wahrzunehmen und denen diese Fähigkeit genommen wird, weil wir ihnen nicht glauben? Weil wir ihnen sagen, dass sie spinnen und sich etwas einbilden. Weil wir sie normal machen wollen, anstatt das besondere in ihnen zu fördern.

Es gab einige Szenen, bei denen ich selbst sehr traurig wurde. Irgendwie konnte ich mich mit meiner Familiensituation in den beiden Protagonisten wiederfinden. Gleichzeitig fühlte ich mich auch komisch, weil ich einen solchen Film brauchte, um dazu überhaupt etwas empfinden zu können. Die letzten Tage hatte ich oft versucht, zu spüren, was der Kontaktverlust zu meinen Eltern mit mir machte. Ich weiß, dass viel Wut und viel Trauer in mir ist, doch ich kann sie nicht spüren. Ich fühle, was dies anbelangt nur eine Leere und paradoxer Weise macht mich das dann wiederum doch etwas traurig.

Wie kommt das? Habe ich wirklich so eine Angst davor, nicht mehr alles unter Kontrolle zu haben, dass ich mir selbst kein einziges Gefühl eingestehe?

Um kurz vor 24:00 Uhr packten wir uns dann so warm ein, wie nur irgendwie möglich und verließen unseren Schlafraum. Hoch über der kleinen Stadt fanden wir eine winzige Grotte mit einer Marienstatue darin. Dort war es windgeschützt und man hatte eine schöne Aussicht. Wir zündeten eine kleine Kerze an, und luden alle Helfer aus allen Welten ein, uns in der Grotte Gesellschaft zu leisten. Am Nachmittag hatten wir auf je einen Zettel aufgeschrieben, was wir mit dem Jahreswechsel loslassen wollten und was wir und für das kommende Jahr wünschen. Nun übergaben wir beides den Flammen und anschließend dem Wind, im Vertrauen, dass alles dort hinkam, wo es richtig war.

Es war kein großes Ritual, nichts weltbewegendes und auch nichts besonders magisches. Doch das war vielleicht auch ganz in Ordnung so. Wir haben so viele magische Momente im vergangenen Jahr erlebt, da mussten wir jetzt keinen erzwingen. Wir mussten an Paulina denken, die viele hundert Kilometer von hier entfernt ebenfalls ein Neujahrsritual machte. Wie es ihr wohl gerade ging?

Das Feuerwerg war eher niedlich als beeindruckend, vor allem wenn man die Menge an Wohnblocks berücksichtige, die eigentlich tausende von Menschen hätten ausspucken müssen. Hier und dort flog ein mal eine Rakete in den Himmel. Man hörte es ab und an knallen, doch mehr war es nicht.

Pünktlich um halb eins waren wir wieder in unseren Schlafsäcken.

Wenn ich mich so zurückerinnere, dann war der Neujahrstag eigentlich nie ein besonders angenehmer Tag. Es war „der Tag danach“. Man hatte lange gefeiert, war verschlafen, stand gegen Mittag auf, war trotzdem müde und die Stimmung war fast immer melancholisch. An einen Jahresstart, an dem ich mich leicht und beschwingt gefühlt habe und an dem ich voller neuen Mutes in die Zukunft gesehen habe, erinnere ich mich nicht. Heiko ging es dabei ähnlich. Auch bei ihm waren die Neujahrstage meistens die Regenerationstage von Silvester. Und wenn ich ehrlich bin, dass kenne ich kaum einen Menschen, dem es da deutlich anders geht. Zumindest habe ich noch von niemandem gehört, der gesagt hat: „Der schönste Tag des Jahres war Neujahr! So voller Leichtigkeit und Frohsinn wie an diesem Tag war ich sonst nur selten!“

Ist es wirklich eine gute Idee, das neue Jahr gleich mit Melancholie oder Katerstimmung zu beginnen? Was muss das für ein Licht auf die kommenden 365 Tage werfen?

Für uns war es dieses Jahr etwas anders. Bei mir zumindest kam die Melancholie bereits am Abend und heute begann der Tag als fast ganz normaler, sonnig kalter Wintermorgen mit einer Wanderung am Meer entlang. Mit Genova haben wir nun den nördlichsten Punkt erreicht. Ab morgen wandern wir wieder nach Süden und damit der Sonne entgegen.

Der Pfarrer wimmelte unsere Bitte zunächst mit der Begründung ab, dass er eine Erkältung habe und sich daher um niemanden kümmern könne. So ist das eben mit dem helfen. Wenn man selbst nicht bei Kräften ist, fällt es einem schwer, etwas für andere zu tun. Zum glück aber trafen wir dann eine Familie, die uns zu einem Kloster brachte, in dem wir aufgenommen wurden. Wir sind absolut erstaunt darüber, wie viele Klöster es hier gibt. Allein auf dem kurzen Weg von heute waren es drei. Dies ist nun das Kloster Nostra Signora degli Angeli, in dem heute noch sechs Mönche leben. Anhand der enormen Größe des Gebäudes müssen es früher einmal mindestens fünf Mal so viele gewesen sein. Vom Heizen halten die Mönche hier leider auch wieder nichts aber ansonsten ist es ein toller Platz, für den Jahresbeginn.

Spruch des Tages: Happy Birthday Weltreise

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 6773,37 km

Wetter: Sonnig, windig.

Etappenziel: Kloster Suore Sancta Maria Ad Nives, 16156 Genova, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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