Tag 366: Genova

von Heiko Gärtner
03.01.2015 01:21 Uhr

Eines Tages wanderte Gott durch Italien und kam auf seiner Reise auch durch Genova. Er war entsetzt von der unvergleichlichen Hässlichkeit der Stadt, von der unerträglichen Lautstärke und von den Unmengen an Müll, die überall auf der Straße lagen. Da bemerkte er, dass ihn einige Engel beobachteten und sofort begann er sich zu rechtfertigen: „Sorry Jungs, ich habe wirklich keine Ahnung, wie dieser Ort hier entstanden ist, aber ich habe ihn nicht erschaffen!“ Er schaute sich hilfesuchend um und entdeckte ein Wesen unter den Engeln, das frech ausschauende Hörner am Kopf trug.

„Er war´s!“ rief Gott und zeigte auf den kleinen Wicht, dem die Sache so peinlich war, dass er sofort rot anlief.

„Das stimmt nicht!“ rief der kleine Teufel, „ich habe damit nichts zu tun!“

„Ruhe!“ befahl ihm Gott, „sonst musst du zur Strafe ewig an diesem Ort hier bleiben!“

„Aber...“ wollte er einwenden.

„Na Toll!“ unterbrach ihn Gott, „was hab ich dir gesagt? Kein Mucks mehr, aber nein, du wolltest ja nicht hören! Also verbanne ich dich nun auf ewig in dieser Stadt zu leben!“

Ganz so grausam wollte er dann aber doch nicht sein, da er ja wusste, dass der Teufel eigentlich nichts dafür konnte. Also schickte er ihn lediglich tief unter die Erde an einen Platz mit ewigem Feuer.

So entstand die Hölle!

Diese kleine Geschichte kam uns heute beim Wandern und ich kann euch sagen, dass sie nicht übertrieben ist. Wenn es eine Hölle gibt, die von einem Gott erschaffen wurde, dann wurde sie sicherlich von diesem Ort hier inspiriert. Zu Beginn dachten wir noch, dass es einfach nur nicht schön werden würde. Doch mit jedem Kilometer kletterte die Stadt auf unserer Liste der 10 grausamsten Orte auf unserer Reise immer weiter nach oben. Noch vor dem Mittagessen hatte sie Porto und das Industriegebiet von Bilbao überholt und nur wenige Minuten später konnte auch die Industriehölle von Gijón nicht mehr mithalten. Und damit will ich jetzt wirklich nichts und niemanden schlecht machen. Ich will auch nicht meckern, ich sage es nur so, wie es ist.

Miguel, der Mönch aus dem Franziskanerkloster in dem wir die Nacht verbringen durften hatte uns am Abend noch etwas über die Entstehungsgeschichte der Stadt erzählt. Und damit war eigentlich bereits klar gewesen, dass es nicht hatte gutgehen können.

Vor dem ersten Weltkrieg war Genever eine winzig kleine Stadt gewesen, die keine allzu große Bedeutung hatte, von dem beeindruckenden Hafen einmal abgesehen. Dann jedoch hatte man alle Dörfer im Umkreis von dreißig Kilometern eingemeindet. In diesem Fall bedeutete dies, 15km nach Westen und 15km nach Osten. Denn im Süden war das Meer und im Norden die Alpen. In den darauffolgenden Jahren hatte man dann nach und nach die Lücken zwischen den einzelnen Stadtteilen mit Großindustrieanlagen aufgefüllt und so wurde Genever zu einem 30km langen Schlauch auch Schwerindustrie, Großfrachthäfen, Flughäfen, Zugverbindungen, Schnellstraßen, Autobahnen und riesigen Wohnblocks.

An Menschen dachte dabei offensichtlich niemand, denn für die gab es hier so gut wie keinen Platz mehr. Sie wurden in den Häusern gestapelt und schon bald begann fast die ganze Stadt zu einem einzigen Getto der Verwahrlosung zu werden. Am Anfang dachten wir noch, wir hätten einfach ein komisches Viertel erwischt, doch bald schon mussten wir feststellen, dass es überall so aussah. Selbst direkt vor dem Krankenhaus stapelten sich die Müllberge. Der Uringeruch wechselte sich mit dem Geruch nach Abgasen und verwesendem Fisch ab. Wobei wir alle drei verstehen konnten. Möglichkeiten zum Pinkeln gab es mal wieder so gut wie keine und irgendwo musste man seine Blase ja mal entleeren.

Wir waren auch einige Male kurz davor, einfach in eine Mülltonne zu schiffen, doch dazu fühlten wir uns etwas zu sehr beobachtet. Die Abgase waren in sofern verständlich, dass wir uns auch einen Fahrbaren Untersatz wünschten, der uns so schnell wie möglich aus der Stadt bringen konnte. Plötzlich wurde uns klar, warum und Miguel angeboten hatte, uns die Zugtickets zu finanzieren, die uns ans andere Ende der Stadt brachten. Wir hatten sein Angebot leichtfertig abgelehnt, doch jetzt dachten wir einige Male darüber nach, ob es nicht doch eine gute Idee gewesen wäre.

Und dass sich die Fische dazu entschieden hatten, ihre Freizeit mit sterben und verwesen zu verbringen, konnte man ihnen auch nicht übel nehmen.

Zwischenzeitig konnten wir auf Nebenstraßen ausweichen, doch nach ein paar hundert Metern führten auch diese wieder auf die Hauptstraße zurück. Meist aufgrund des engen Platzes vor dem Gebirge, manchmal auch wegen eines Flusses, über den es nur wenige Brücken gab. In einem dieser Flussbetten saß ein Graureiher ganz gemütlich auf einem Stein. Eine Frau stand auf der Brücke und fotografierte ihn. Als sie sah, dass auch Heiko ein Bild machte, kam sie begeistert auf uns zugelaufen, wollte die Kamera sehen und wollte unbedingt ein Bild mit uns beiden haben. Sie wirkte wie Karla die verrückte Reporterin oder wie eine fotographische Trophäenjägerin, die immer auf der Suche nach dem neusten Schnappschuss war. Als sie hatte was sie wollte verschwand sie genauso plötzlich aus unserem Leben, wie sie dort aufgetaucht war.

Auch im Zentrum der Stadt sah es zunächst nicht viel besser aus. Wir merkten den Unterschied eigentlich nur, weil die Schilder mit „Zentrum hier lang“ plötzlich verschwunden waren.

Dann kamen wir an den Hafen und zum ersten Mal seit 15km gab es so etwas wie Ruhe. Und zum ersten Mal gab es auch etwas Sehenswertes. Vor uns stand ein riesiges Piratenschiff, als wäre es direkt aus einem Film entsprungen. Damit eines Tages den Ozean überqueren?

Ein freundlicher Afrikaner kam auf uns zu und fragte uns woher wir den stammten und wohin wir unterwegs seien. Er war ein Straßenverkäufer, wie es sie hier zu dutzenden gab. Wir hatten uns schon öfter mal mit einigen von ihnen unterhalten und die meisten waren echt nette Kerle. Dieser hier schenkte uns sogar je eine kleine Statue. Einen Elefanten für mich und eine Schildkröte für Heiko. Dann gab er uns noch ein Armband in Bobmarleyfarben und sang No Woman no Cry dazu. Er stammte aus Senegal und war wohl auch schon ein bisschen herumgekommen.

Erst als wir uns von ihm verabschiedeten änderte sich die Situation plötzlich.

„Hey, habt ihr vielleicht ein bisschen Geld für mich? Für den Schmuck, den ich euch gegeben habe?“ fragte er und wirkte dabei fast mitleidserregend.

Wir erklärten ihm, dass wir keines besaßen, doch plötzlich verschlechterten sich seine Englischkenntnisse ins Bodenlose und er wollte uns einfach nicht mehr verstehen. Auch Französisch sprach er nun nicht mehr, obwohl er uns zuvor erklärt hatte, dass es gemeinsam mit Englisch in Senegal die Landessprache war. Wir entschuldigten uns und wollten ihm die Geschenke zurückgeben, doch er lehnte ab.

„Nur 10€, dann passt es schon!“ meinte er bittend.

Wir wurden deutlicher und er senkte seinen Preis auf fünf Euro herab.

Am Ende lief es darauf hinaus, dass wir ihm einen Apfel und drei Mandarinen schenkten als Ausgleich gegen den Schmuck, den wir nicht haben wollten.

Heiko ärgerte sich fast ein Loch in den Bauch. Nicht so sehr über den Mann selbst, sondern viel mehr darüber, dass er auf den Trick hereingefallen war. Das meine Aufmerksamkeit für derartige Spielchen nicht ausreichte, war mir ja bekannt und so fühlte ich mich zwar ein bisschen verarscht, bewunderte den Mann aber auch für seine Trickhaftigkeit. Heiko hingegen wurmte die eigene Naivität, die er von sich eigentlich nicht gewohnt war. Er hatte dem Mann die Freude darüber, zwei ausgefallene Wanderer zu treffen wirklich abgenommen und hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass es eine Masche sein konnte. Und dass obwohl sie eigentlich so offensichtlich war. Wir Menschen sind Festhaltewesen. Wenn wir einmal etwas in den Fingern haben, dann geben wir es nicht gerne wieder her. Es ist der gleiche Trick, den auch die Straßenhändler in Guatemala nur allzu gerne angewandt haben. Wenn man im Bus saß und auf die Abfuhr wartete, kamen Händler herein, die einem Süßigkeiten und allerleih andere Dinge in die Hand drückten, als wären es Geschenke. Dann kamen sie ein zweites Mal und wollten entweder die Geschenke zurück oder das Geld dafür. Doch bei ihnen war es leicht zu durchschauen gewesen, denn sie beschenkten alle. Dieser Mann hier hatte uns direkt rausgepickt, als leichte Beute und wir waren ihm ins Netz gegangen wie zwei orientierungslose Fliegen. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass wir mittellose Fliegen waren und so war sein Plan am Ende doch nicht aufgegangen. Das war zumindest ein kleiner Trost. Für mich reichte er aus, doch für Heiko ging es ums Prinzip und damit war er gar nicht einverstanden.

Zu diesem Zeitpunkt war uns noch nicht klar, dass der Weg in die Stadt bei weitem angenehmer war, als der Weg aus ihr heraus. Denn nun wollten wir uns auf die Schlafplatzsuche machen, was rein Theoretisch kein Problem hätte sein dürfen. Es gab hier mehr Kirchen als Straßenhändler und die standen schon dicht gedrängt. Doch die Zahl alleine sagte leider noch nichts über die Qualität aus. Es war wieder einmal der Fluch der großen Städte. Der erste Pfarrer schickte uns zum zweiten, der zweite zum dritten und so weiter. Niemand wollte uns auch nur eine Abstellkammer geben und das obwohl wahrscheinlich die halbe Stadt im Besitz der Kirche war. Warum wissen wir nicht, denn Begründungen gab es so gut wie keine. Es ging halt eben nicht. Wahrscheinlich war es das gleiche Problem wie immer. In den großen Städten sammelte sich auch die Armut. Miguel hatte uns am Vorabend auch einige Einblicke in die italienische Wirtschaftslage gegeben. Es sah sogar noch düsterer aus als in Spanien. Die offiziellen Zahlen für die Jugendarbeitslosigkeit liegen hier bei über 40%. Das war in Spanien die geschätzte Dunkelziffer. Wer nicht direkt nach der Schule eine Ausbildung bekommt, bei der er übernommen wird, hat eigentlich keine Chance. Miguel betreut als eine seiner Aufgaben als Mönch einige Sozialwohnblocks. Viele der Jugendlichen die hier leben verdienen ihr Geld mit dem Dealen von Drogen. Das ist das einzige Geschäft, das noch wirklich gut läuft. Wenn sie dann vom Arbeitsamt an ein Café oder in eine Fabrik vermittelt werden, zeigen sie ihrem Berater einen Vogel. Warum sollten sie als Sklaven für einen Hungerlohn schuften, wenn sie von der Sozialhilfe und vom Dealen doch sogar besser leben konnten? Die Frage war durchaus berechtig.

Die Müllberge vor den Häusern, die Nebengassen, die zu öffentlichen Toiletten umfunktioniert wurden und die vielen Schlafstellen aus Decken und Matratzen, die überall in den Straßen zu sehen sind, bestätigen das Bild. Vor der ersten Kirche, die wir aufsuchten hatten mindestens fünf Obdachlose ihr Dauerlager aufgeschlagen. Dass die Pfarrer irgendwann resigniert und beschlossen haben, überhaupt niemandem mehr zu helfen, ist da sogar nachvollziehbar. Auch die Franziskaner um Miguel haben ihr Konzept der Nächstenhilfe im Laufe der Jahre deutlich verändert. Am Anfang konnten die Bedürftigen ins Kloster kommen und haben dort Geld für Nahrung bekommen. Doch schon bald mussten die Mönche feststellen, dass sie auf die Rolle als Geldspender vollkommen reduziert wurden. Wenn sie etwas gaben, waren sie die Guten, verweigerten sie einem besonders gierigen Menschen die Finanzspritze wurden sie von ihm verflucht und verachtet. Also hatten sie diese Hilfe irgendwann gänzlich eingestellt. Wer wollte konnte zu bestimmten Zeiten etwas zu essen bekommen. Ansonsten besuchten sie die Menschen und gaben ihnen seelische Unterstützung.

Uns blieb also nichts anderes übrig, als weiter zu ziehen. Schnell ertappte ich mich dabei, dass es mir genauso ging, wie den Bedürftigen, die kein Geld erhielten. Innerlich verfluchte ich jeden Pfarrer, der uns abwies und uns mit seinem Gerede nur unnötig Zeit kostete. Es geht schnell, dass man die Welt nur noch aus einer engen Perspektive heraus wahrnimmt.

Doch das ist nicht hilfreich! Dadurch kommt man nicht weiter und mit jedem Mal, dass man seinen Frust steigert, singt die Chance auf den Erfolg. Also alles wieder auf null und die Augen wieder öffnen, für die unzähligen Möglichkeiten, die es auf dieser Welt gibt. Hatten wir uns heute nicht einen warmen, ruhigen Raum gewünscht? Wenn dieser Wunsch in Erfüllung gehen sollte, dann durften wir vielleicht nicht nur an Orten fragen, die uns nur kalte Säle in Straßennähe zur Verfügung stellen konnten. Das musste ja schiefgehen.

Plötzlich leuchtete uns das helle Schild mit drei Sternen und der Aufschrift „Hotel Iris“ entgegen. War es zu unserem 1. Weltreisegeburtstag nicht vielleicht wieder an der Zeit, eine Nacht in einem Hotel zu verbringen? Einen Versuch war es wert. Und der Versuch lohnte sich. Die freundliche Junge Dame an der Rezeption war begeistert und ihre Chefin am Telefon sogar fast noch ein bisschen mehr. Damit nahm unsere Odyssee durch die endlose Stadt doch noch ein gutes Ende. Wir bekamen ein schönes, warmes und vor allem ruhiges Doppelzimmer und auch endlich einmal wieder einen Internetzugang.

Spruch des Tages: Arm bist du nicht ohne Geld, arm bist du ohne Herz.

 

 

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 28 km

Gesamtstrecke: 6799,37 km

Wetter: Heiter bis wolkig, Temperaturen zwischen 15 und 20°C am Tag, 10°C am Abend.

Etappenziel: Hotel Iris, Via G. Rossetti 3-5, Quarto die Mille, 16148 Genova, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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