Tag 367: Der Weg der Klöster

von Heiko Gärtner
04.01.2015 22:25 Uhr

Heute legten wir nach dem Marathon von gestern erst einmal wieder einen ruhigen Tag ein. Wir verließen Genova, machten etwa zwei Kilometer weiter eine Picknickpause und fragten dann in der anliegenden Kirche nach einem Saal. Hier war der Pfarrer wieder so hilfsbereit, wie wir es von den italienischen Pfarrern gewohnt waren. Der Fluch der großen Stadt war vorbei. Wir bekamen einen kleinen Gemeinderaum, leider ohne Heizung, Waschbecken und Toilette aber immerhin einen Platz zum Schlafen und Arbeiten. Und dafür, dass wir uns noch immer an einer Hauptstraße in einem Randbezirk der Großstadt befinden ist es sogar ausgesprochen ruhig.

Nachdem wir es uns einigermaßen eingerichtet hatten, drückte uns der Kirchenvater sogar noch zwei Tickets in die Hand, mit denen wir uns in einer anderen Kirche etwas zu Essen holen konnten. Sie lag rund zwei Kilometer entfernt und mit eine paar Umwegen kamen wir durch diese Essenstour dann doch noch auf einen angemessenen Tageswanderungsschnitt.

Die Kirche lag versteckt zwischen hohen Wohnblocks und war eigentlich nicht als Kirche zu erkennen. Im Untergeschoss gab es eine kleine Kapelle in der gerade eine Messe abgehalten wurde. Im Stock darüber fand die Armenspeisung statt. Natürlich gab es vor allem Nudeln und Brot, doch auch Salat und Rinderhackbällchen, so dass wir dennoch etwas fanden, das auch wir essen konnten. Eine freundliche Frau empfing uns auf Englisch. Man merkte, dass sie den Großteil ihres Lebens hier in dieser Kantine verbrachte und das sie es gewohnt war, mit Menschen zu arbeiten, die von denen viele schwerhörig waren. Sie sprach so laut und klar, dass es in den Ohren fast weh tat. Ein anderer Mitarbeiter sorgte dafür, dass wir alles richtig machten. Jeder brauchte ein Tablett, eine Gabel, ein Messer, einen Plastikbecher und eine Servierte. Wer nicht schnell genug war, oder etwas in der falschen Reihenfolge nahm, dem wurde dabei unter die Arme gegriffen. Sicher kam es oft vor, dass diese Praxis nötig war und so hatte sich der Mann wahrscheinlich mit der Zeit daran gewöhnt. Doch es fühlte sich schon ein bisschen komisch an, hier nach fast 7000km anzukommen um ein Mittagessen einzunehmen und dann behandelt zu werden wie ein minderbemittelter dreijähriger. Wie musste das wohl auf die Menschen wirken, die täglich hier herkamen? Es war lieb gemeint, aber es war auch eine Bevormundung der Menschen, die sie rein aufgrund ihrer finanziellen Lage degradierte.

Das Essen war sehr gut und abgesehen von dem Mitarbeiter, der fast ununterbrochen damit beschäftigt war, Stress zu erzeugen an Stellen, an denen es eigentlich keinen gab, war es auch eine verhältnismäßig angenehme Atmosphäre. Doch ein paar Sachen fielen uns auf. So waren die Portionen gerade so groß, dass man nicht davon satt werden konnte. Das galt nicht nur für uns beiden verfressenen Raupen, sondern für den Durchschnittsmenschen. Es war genug um zu überleben und auch so viel, dass man nicht mehr wirklich hungrig war, doch das Gefühl des Mangels wurde aufrecht erhalten. Besonders auffällig war es beim Obst, das in einer großen Schüssel vor dem Tresen lag, aus der man sich bedienen konnte. Sie war gerade so voll, dass es nicht ganz für alle reichte, so dass man sofort das Gefühl hatte, jemandem etwas wegzunehmen, wenn man sich bediente. Das machte an sich keinen Sinn, denn wir wussten ja aus eigener Erfahrung durch das Fragen bei den Obsthändlern, dass es gerade einen so akuten Überfluss an Orangen und Mandarinen gab, dass man ganze Armeen damit hätte durchbringen können. Egal wo wir nach Essen fragten, die Zitrusfrüchte bekamen wir hinterhergeworfen. Selbst wenn wir nur ein paar Tomaten wollten, dann gab es immer noch eine Hand voll Orangen mit obendrauf. Warum also wurde hier dieses Mangelbewusstsein erzeugt?

Schon bei unserem Obdachlosenprojekt haben wir festgestellt, dass das Bild des armen, bedürftigen Penners, dem es am Rande der Gesellschaft schlecht geht, um jeden Preis aufrecht erhalten muss. Das ist ja auch logisch, denn wenn die Menschen plötzlich merken würden, dass wir mehr als doppelt so viel produzieren, wie wir verbrauchen, dann würden sie anfangen sich Fragen zu stellen. Es bedeutet ja auch, dass wir doppelt so viel arbeiten, wie wir eigentlich müssten, es bedeutet, dass wir ohne Probleme die gleichen Lebensmittel in gleicher Qualität umsonst bekommen könnten, die wir so für teures Geld im Supermarkt kaufen. Wenn wir nicht nur als Einzelfälle sondern als Gesellschaft aufwachen und den Unsinn hinter unserem System erkennen würden, dann würde es nicht mehr funktionieren. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Obdachlosigkeit muss etwas beängstigendes sein, in das man auf keinen Fall abrutschen möchte. Wäre es das nicht, würde unser Arbeitssystem der Angstkontrolle zusammenbrechen. Also muss es für Obdachlose und Bedürftige einen Mangel geben und wenn der nicht existiert, dann muss man ihn eben künstlich erzeugen. Allein schon für die Mitarbeiter der Einrichtung, denn sie dürfen ja auch nicht merken, dass wir in einem Überfluss leben, der jeden Menschen dreifach versorgen könnte.

Beim Essen fiel mir ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der Tafel ein, das wir auf unserer Obdachlosentour geführt hatten. Er hatte uns damals erzählt, dass alle Tafeln in Bayern nur von einer einzigen Bäckereikette versorgt werden, wenn es um Teigwaren geht. Wenn diese Kette in der Nacht alle Tafeln abgeklappert hat, fahren ihre Transporter anschließend in eine Müllentsorgungsanlage und werfen dort noch immer knapp die Hälfte dessen weg, was nicht verkauft wurde. Nochmal im Klartext: Alle Tafeln in ganz Bayern können gemeinsam nur knapp die Hälfte des täglichen Überschusses an Teigwaren einer einzigen Bäckereikette abnehmen. Dann sind sie ausgelastet, denn sie können ja auch nicht mehr annehmen, als die Menschen essen können. Alle anderen Bäckereiketten werfen ihren Überschuss fast vollständig auf den Abfall, es sei denn, sie haben Kooperationen mit kleinen Hilfsprojekten, doch die dürften kaum ins Gewicht fallen. Mit anderen Lebensmitteln verhält es sich sehr ähnlich. Und nicht nur mit Lebensmitteln, sondern auch mit allen anderen Waren. Denn unsere Industrie ist auf immer mehr Effektivität und Produktivität ausgelegt. Armut müsste daher zumindest in Europa ein absolutes Fremdwort sein, doch das ist ganz und gar nicht der Fall. Warum? Weil sie gebraucht wird. Wir erkennen uns nur dann als mittelständig an, wenn es jemanden gibt, dem es schlechter geht. Und nur wenn wir Angst davor haben, in ein drohendes Leid abzurutschen, sind wir bereit, unsere Gesundheit für eine Arbeit aufs Spiel zu setzen, die uns nicht mehr im Leben bringt, als Geld.

Von unserem Essenstisch auf der Terrasse der Wohlfahrtskantine aus konnten wir in die Berge blicken. Irgendwie verrückt, dass wir am 3. Januar hier im Freien unser Mittagessen genossen. Wir dachten noch einmal an die letzten Tage zurück und daran, wie viele Klöster wir dabei gesehen hatten. Seit dem Grenzübertritt nach Italien waren es bereits mehr gewesen, als auf unserer ganzen bisherigen Reise. Und es war spannend, wie unterschiedlich sie gewesen waren. Die Clarissas hatten uns in Spanien grundsätzlich abgelehnt und hatten dort nicht den Eindruck gemacht, als wären sie jemals bereit, Kontakt mit jemandem außerhalb ihrer Klostermauern aufzunehmen. Hier waren sie mit die freundlichsten Wesen, denen wir begegnet waren. Auch machte hier plötzlich das Konzept mit den vergitterten Vorräumen einen Sinn. Auf diese Weise konnten sie gefahrlos jeden Menschen einlassen ohne sich vor einem gewaltsamen Übergriff fürchten zu müssen. Gleichzeitig musste der Fremde nicht in der Kälte stehen bleiben, sondern konnte es sich in dem warmen Raum gemütlich machen, bis alles geklärt war, das es zu klären galt.

Die Mönchsorden, die wir besucht hatten, waren hier hingegen oftmals etwas verschlossener, als wir es in Spanien erlebt hatten. Wir waren und blieben Gäste, die vom eigentlichen Kloster möglichst wenig mitbekommen sollten. Lediglich Miguel war nach einiger Zeit etwas aufgetaut und hatte uns auch etwas über das Klosterleben berichtet. Bis dahin jedoch hatten wir unser separates Essen, dass wir wie die Bettler, die hier verköstigt wurden, auf Plastiktellern serviert bekamen. Dafür reichte man uns zum Essen Käse im Wert von weit über 20€ als wäre es nichts.

Der Orden, den wir an Silvester besucht hatten hingegen beschränkte den Kontakt auf die Schlüsselübergabe. Noch ein Kloster zuvor wurden wir zum Essen mit den Mönchen eingeladen. Es war die wohl abstrakteste Essenszeremonie gewesen, die wir je erlebt hatten. Der Saal war für mindestens 40 Personen ausgelegt gewesen, doch es gab nur noch 6 Mönche und uns beiden Gäste. Jeder Mönch saß irgendwo im Raum verteilt, so dass keine Kommunikation stattfinden konnte. Das Essen stand in der Mitte und wurde von einem der Brüder herumgereicht, so dass sich jeder etwas nehmen konnte. Auch hier gab es eigentlich reichlich, doch es war so aufgebahrt, dass wir uns nicht trauten wirklich zuzulangen, weil wir angst hatten, den anderen etwas wegzunehmen. Dann wurden die Schüsseln wieder in die Mitte gestellt und schließlich mit einem Wagen aus dem Saal gefahren. Sie waren noch immer halb voll und wir waren noch immer saumäßig hungrig. Doch das Ritual ließ offensichtlich keine zweite Portion zu und so wurde die Hälfte des Essen weggeschmissen, während wir hungrig zu Bett gingen. War dies die Art, wie man das von Gott gegebene Essen ehrte?

Und was noch spannender war: Lebten die Mönche wirklich in solch einer Askese, dass sie sich selbst fast nichts zu essen gönnten? Oder hatten sie alle heimlich die Süßigkeiten-Kisten auf ihren Zimmern mit denen sie sich im Anschluss an das Abendgebet die Bäuche vollschlugen?

Wenn man sich die korpulenten Figuren der Brüder so ansah, dann lag die zweite Vermutung nahe.

Doch wieder gab es hier das gleiche Phänomen, wie bei den Obdachlosen. Warum ist es uns in unserer Gesellschaft nur so wichtig, auf der einen Seite zu behaupten, wir wären weiter entwickelt als je zuvor und gleichzeitig ein ständiges Mangelgefühl zu erzeugen, obwohl uns die Welt doch mit allem versorgt, was wir benötigen. Unter Eichhörnchen gibt es keine Armut! Unter Rehen und Wölfen auch nicht? Sie ist eine Erfindung des Menschen. Sind wir darauf wirklich so stolz?

Spruch des Tages:

Was ist eigentlich an Menschen so witzig? Sie denken immer verkehrt herum. Sie wollen schnell erwachsen werden und sehnen sich später nach der verlorenen Kindheit. Um Geld zu verdienen setzen sie ihre Gesundheit aufs Spiel und geben später viel Geld aus um wieder Gesund zu werden. Sie denken so sehr an die Zukunft, dass sie die Gegenwart vernachlässigen und am Ende erleben sie weder die Gegenwart noch die Zukunft. Sie leben so als würden sie nie sterben und sterben als hätten sie nie gelebt. (Paulo Coelho)

Höhenmeter: 70 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 6807,37 km

Wetter: Bewölkt, 16°C, später leichter Nieselregen

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche Oratory of Saint Erasmo in Quinto, Via Sant'Erasmo Al Mare 1, 16166 Genova, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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