Tag 368: Herdentiere

von Heiko Gärtner
04.01.2015 22:34 Uhr

Der Tag begrüßte uns heute wieder mit einer ordentlichen Portion Sonnenschein. So viel, dass wir und sogar in der Mittagspause mit freiem Oberkörper an die Passage über der Steilküste setzen konnten. Es war ein schöner Platz, der durch die Felsen von dem Straßenlärm abgeschottet wurde, der uns seit rund drei Wochen nun fast ständig begleitet. Wie schön diese Küste hier eigentlich ist und wie gewaltsam wir Menschen sie zerstört haben. Nach einigen Minuten des Sonnenbadens bekamen wir Besuch von einer Italienerin, die zehn Jahre lang in Deutschland gelebt hatte. Zurückgekehrt war sie nur deshalb, weil es ihren Eltern nicht gut ging und sie daher nicht allzu weit entfernt sein wollte. Doch glücklich war sie hier nicht. Es tat ihr weh zu sehen, wie sehr sich die Küste seit ihrer Kindheit verändert hatte. Fast alle schönen Plätze waren nun entweder zubetoniert, weggefräst oder asphaltiert worden um Straßen, Häuser oder Eisenbahnlinien darauf zu bauen. Und es war noch immer nicht zu Ende! Die Stadt plante weitere Baumaßnahmen und Erweiterungen, bis es irgendwann keinen natürlichen Felsen und keinen Grashalm mehr geben würde. Warum es diese Pläne gab verstand sie nicht. Italien befand sich ebenso wie Spanien in einer tiefen Wirtschaftskrise und es gab jetzt schon so viele Gebäude und Straßen die verfielen. Brauchte man da wirklich noch weitere?

Als wir auf ihre Familie zu sprechen kamen, klingelte ihr Telefon und ihre Mutter bat sie nach hause zu kommen. Wie Eltern das nur immer ahnen? Sie erzählte uns, dass es sie schon lange wieder weitertrieb, doch ihr schlechtes Gewissen, ihre Eltern im Stich zu lassen war stärker. Sie hatte das Gefühl, erst noch alles mit ihren klären zu müssen, was im unreinen war. Bevor sie mehr erzählen konnte, rief die Mutter ein zweites mal an und diesmal ging sie dann wirklich.

Die Begegnung war wieder einmal wie ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen. Der Gedanke, die Eltern schützen zu wollen und daher auf die eigenen Träume zu verzichten, mag zwar nobel sein, doch er kann nicht ans Ziel führen. Denn wir haben ja nicht nur unsere leiblichen Eltern, sondern auch Mutter Erde und Vater Universum, die uns eine Aufgabe mit auf den Weg gegeben haben. Und nur wenn wir uns dieser Aufgabe widmen, können wir auch unsere Familiensysteme lösen.

Wir saßen noch eine ganze Weile in der Sonne und dachten über das gesagte nach. Wie es hier früher wohl einmal ausgesehen hatte? Als die Küste noch wirklich eine Küste war und nicht eine Ansammlung von Straßen. Es musste traumhaft gewesen sein.

Wie viel hatten wir als Menschheit durch unsere Zivilisation bereits kaputt gemacht? Nicht nur im Außen, in der Natur und in der Welt in der wir leben, sondern auch in unserem Inneren, in unseren Seelen und in unseren Beziehungen zueinander.

Wir mussten an einen Satz denken, den wir vor einiger Zeit gelesen hatten. Er stammte von einem Häuptling des Sunbear-Waboon-Clans und lautete etwa folgendermaßen:

Irgendwann einmal, da sahen wir uns in der Welt um und entdeckten, dass jedes Wesen seine spezielle Aufgabe im großen Plan des Univerums hat. Jedes, außer der Mensch. Wir erkannten, dass dieser Zweibeiner, der mit dem Fluch des Verstandes belegt war, das hilfloseste und niedrigste Geschöpf von allen war, die es auf der Erde gab. Also beschlossen wir, zu Schülern jener Wesen zu werden, die uns um so vieles überlegen waren. Wir studierten den Flug des Adlers mit seiner Weitsicht, wir lernten zu Jagen wie Bären und Wölfe, wir lernten die Ruhe und die Gelassenheit der Bäume. So fanden auch wir unseren Platz im Rad der Natur.

Was für ein Ehrerbieten steckte in diesen Worten. Und wie vermessen ist hingegen unsere Ansicht, uns als Krönung der Schöpfung, als höchstes und stärkst entwickeltes Wesen zu betrachten, dass über alle anderen herrschen darf. Das über ihr Schicksal, ihr Leben und ihren Tod entscheidet. Und das dabei nicht einmal merkt, wie sehr es selbst unter dieser Vermessenheit leidet.

Wie wäre es wohl, wenn wir noch immer in der Natur leben würden, als einheimischer Klan, der vollkommen im Einklang mit seiner Welt ist? Was würde das auch in der Zwischenmenschlichkeit verändern?

Früher war der Clan extrem wichtig, denn ohne ihn ist das Leben in der Wildnis verdammt hart. Man ist ein Einzelkämpfer, der täglich um sein Überleben kämpfen muss. Alles was er benötigt muss er selbst erledigen, ob er sich gerade danach fühlt oder nicht. Gemeinsam hingegen ist es locker und leicht. Es macht Spaß, denn jeder kann sein Talent so einbringen, dass für alle der größtmögliche Nutzen entsteht. Man hat Freude, Leichtigkeit. Das allgegenwärtige Wissen über die Natur und das Leben ist im Klan bereits vorhanden, wenn man geboren wird. Die Ältesten geben es an die nächsten Generationen weiter. So gibt es einen Tag im Jahr, in dem sich die Rinde der Birken fast von alleine vom Stamm löst. Wenn man ihn kennt muss man sie nur mit einem Messer einschneiden und hat genug Baumaterial für die Hütten des ganzen Dorfes. An jedem anderen Tag ist es eine Heidenarbeit. Dann wieder gibt es Phasen, in denen die Fische direkt unter der Oberfläche schwimmen und sich mühelos sammeln lassen. Wer über dieses Wissen verfügt, der lebt im wahren Wohlstand und kann alle Geschenke nutzen, die einem die Natur gibt. Wir jedoch haben uns von diesem Wissen abgeschottet und haben uns so eine eigene Hölle erschaffen, in der Krankheiten und Unzufriedenheit gedeihen.

Wir sind nicht mehr auf das Wissen der Alten angewiesen und so verbannen wir sie in Altenheime, in denen sie keine Aufgabe mehr haben und nur noch vor sich hinvegetieren. Wir sind nicht mehr auf das Clanwesen angewiesen und so ist jeder sich selbst der Nächste. Wir sind mehr an unserem eigenen Profit interessiert, als an einem Leben in Zufriedenheit und in Harmonie mit allen anderen Geschöpfen. Das alte Clanwesen ist damit ausgestorben. Es gibt keine Gemeinschaften mehr, bei denen man sich gegenseitig wirklich unterstützt, bei denen man sich offen und ehrlich spiegelt um allen das Wachstum zu ermöglichen, bei denen jeder automatisch seinen Beitrag zum Gemeinwohl leistet, weil es ihm Freude macht, bei dem man keine Angst, keine Eiversucht hat, weil man den Lebensweg der anderen kennt und unterstützt, weil keiner im Ego lebt, sondern in seinem Sein. Wir haben keine Familiensysteme mehr, die den Kindern kraftvolle Wurzeln und gleichzeitig leichte, beschwingte Flügel mit auf den Weg geben. Unsere Intuition, unsere Aufmerksamkeit und unser Urvertrauen reichen nicht mehr aus um den Lebensweg und die Talente unserer Kinder zu erkennen, dass wir sie genau so erziehen können, dass sie ihre größtmögliche Kraft entwickeln. Wir glauben zu wissen, was gut für sie ist und was nicht, doch dies hat nichts mit ihrem Sein sondern nur mit unseren eigenen Ängsten zu tun.

Seit wir uns mit dem Thema Lebensvision beschäftigen haben wir noch keinen einzigen Fall erlebt, in dem jemand seinen Weg gehen konnte, ohne die Erwartungen seiner Eltern zu endtäuschen. Sollte dies nicht genau andersherum sein? Müssten nicht unsere Eltern die ersten sein, die uns in den Arsch treten und sagen: „Spinnst du? Du willst einen Beamtenjob annehmen, bei dem du dir dein ganzes Leben lang den Hintern platt sitzt, ohne wirklich hilfreich zu sein? Und das nur aufgrund von finanzieller Sicherheit? Ich glaube mein Schwein pfeift! Das kommt überhaupt nicht in die Tüte! Dafür habe ich dich nicht großgezogen und die das Leben geschenkt! Du hattest bereits als kleines Kind den Traum ein großer Entdecker und Philosoph zu werden, also hör jetzt endlich auf den Schwanz einzuziehen und geh raus in die Welt um deinen Weg zu gehen!“

Die größte Sorge unserer Mütter müsste eigentlich lauten: „Mein Kind, ich spüre, dass du Angst davor hast, dein wahres Sein zu leben und dass du dich deshalb lieber verstecken und in deiner Komfortzone aufhalten willst. Dadurch wirst du jedoch unzufrieden und krank werden und ich möchte, dass es dir gut geht. Ich weiß, dass es vielleicht kein leichter Schritt für dich ist, dich nur noch auf deine Intuition zu verlassen und aus dem sicheren Nest in die Fremde zu gehen, aber nur so kannst du ein langes und gesundes Leben führen. “

Natürlich wären beide Aufforderungen nicht nötig, wenn nicht bereits in der Kindheit all diese Ängste in uns gesät würden. Aber wisst ihr, was ich meine?

Unsere Beziehungen sind in der Regel nicht mehr auf einer wahren Seelenverbindung aufgebaut, sondern auf Angst und unserem Ego. Wir fühlen uns alleine und wollen deshalb Menschen in unserer Nähe haben. Gleichzeitig wollen wir uns ihnen jedoch nicht öffnen und so bauen wir immer auch eine Mauer zwischen uns auf. Wenn wir sehen, dass sich andere entwickeln, dann fühlen wir uns selbst schlecht, weil wir spüren, dass wir das selbe tun sollten, es uns jedoch nicht trauen. Also wollen wir unsere Liebsten in den gleichen Süchten festhalten in denen auch wir uns befinden. Wir freuen uns nicht über ihre Wandlung und Entwicklung und wir unterstützen sie nicht dabei, sondern wir halten sie dabei auf. Nicht aus Böshaftigkeit, sondern weil wir Angst haben, verlassen oder nicht mehr geliebt zu werden, wenn andere in ihrem Entwicklungsprozess weiter sind als wir. Wir haben Angst, das unsere Masken fallen oder durchschaut werden und so beschränken wir uns auf Smalltalk. Und schließlich gibt es fast keine bereichernden Beziehungen mehr. Alles ist Anstrengend und kostet Kraft und Energie.

Je länger wir uns auf unserer Reise befinden, desto stärker nehmen wir dieses Paradox der zwischenmenschlichen Beziehungen war. Man sieht es in den Pärchen, die an der Promenade entlang spazieren und die sich nichts mehr zu sagen haben. Man erfährt es aus den Gesprächen mit den Menschen über ihre Beziehungen, ihre Familien und ihre Freundschaften. Und je mehr wir selbst hinter den Spiegel der Gesellschaft blicken, desto schwerer fällt es uns, das Spiel mitzuspielen. Wir sehnen uns nach einem wirklichen Clan, nach einer Herde und nach echten Herzens- und Seelenverbindungen, doch die scheinen nicht mehr zu existieren. Natürlich treffen wir immer wieder besondere Menschen und erlebt mit ihnen besondere Momente, die wirklich bereichernd und inspirierend sind. Und selbst die weniger angenehmen Begegnungen sind immer auch wichtige Spiegel, die uns auf ihre Art weiterbringen oder denen wir ein Stück weiterhelfen können. Doch oft spüren wir auch, dass es keine wirkliche Beziehung zu den Menschen mehr gibt. Es gibt einen netten plausch, man erzählt ein paar flüchtige Worte und dann trennen sich die Wege, als hätte man sich nie getroffen. Immer deutlicher spüren wir, dass wir nicht mehr bereit sind, kraftraubende Beziehungen einzugehen und so werden wir immer mehr zu den Einzelkämpfern, die wir eigentlich nicht werden wollten.

In der Gesellschaft zu leben, mit all ihren Giften und all dem Leid, das sie verursacht, ist längst keine Option mehr. Doch alleine als Outlaw im Busch zu leben, dazu sind wir ebenfalls nicht bereit. Wir wünschen uns einen alten Klan, eine Ice-Age-Herde, die auf den Friedensstifterprinzipien beruht. Eines Tages wird sie vielleicht kommen.

So geht es jedoch nicht nur uns, sondern allen. Wir sehnen uns nach Beziehungen und Freundschaften, bei denen wir wirklich verbunden sind, bei denen wir wirklich verstanden werden, bei denen es eine tiefe Herzens- und Seelenverbindung gibt und keine oberflächliche Vernetzung, die auf dem Verstand-, dem Ego-, oder der Angst vor dem allein sein basiert. Und weil wir dies nur noch schwer finden können, suchen wir uns Ersatzbefriedigungen. Unser Handy, unser Fernseher, unser Mittagessen wird plötzlich unser bester Freund. Wir brauchen Krücken um uns zu spüren. Damit wollen wir die Langeweile und den Frust ausgleichen, die entstehen. Doch kann das wirklich funktionieren?

Schaffen wir es als Menschheit vielleicht eines Tages doch wieder, wirkliche Verbindungen zwischen uns aufzubauen und uns gegenseitig aufblühen zu lassen?

Der Weg führte uns noch eine ganze Weile an der Steilküste entlang, bevor er wieder auf die Hauptstraße stieß. Dann waren wir wieder mitten im Verkehrschaos und arbeiteten uns hier bis nach Sori. Der Pfarrer wollte uns hier wieder einmal nicht aufnehmen, dafür bekamen wir aber ein kleines Zimmer vom Roten Kreuz. Langsam sind wir wieder in unserem Konzept von Spanien angelangt. Es gibt keine Garantien, doch mit einer ausreichend großen Palette an Tricks und Möglichkeiten kommt man gut zurecht.

Spruch des Tages:

Ich bin müde Boss, müde immer unterwegs zu sein, einsam und verlassen. Müde, niemals einen Freund zu haben, der mir sagt wohin wir gehen, woher wir kommen und warum. Am meisten müde bin ich, Menschen zu sehen, die hässlich zueinander sind. Der Schmerz auf der Welt und das viele Leid, das macht mich sehr Müde. Es gibt zuviel davon. Es ist, als wären in meinem Kopf lauter Glasscherben. (The Green Mile)

 

Höhenmeter: 70 m

Tagesetappe: 9 km

Gesamtstrecke: 6816,37 km

Wetter: Strahlender Sonnenschein, 15°C im Schatten, 26°C in der Sonne

Etappenziel: Rotes Kreuz, 16031 Sori , Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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