Tag 379: Abenteuerliche Pilgerwege

von Heiko Gärtner
15.01.2015 22:46 Uhr

In dem goldenen Buch der Pilger, das in unserer Herberge lag und in das jeder frühere Gast eine kleine Nachricht hinterlassen hat, beschrieben fast alle deutschen Pilger die letzte Etappe als die härteste vom ganzen Weg. Uns kam das komisch vor, denn eigentlich hatte es ja mit Ausnahme des Anstieges am Anfang keine großen Schwierigkeiten gegeben. Vor allem für einen Weg der aus den Alpen kam, sollte das doch eher eine Entspannungsetappe sein. Erst heute auf dem Weg begriffen wir, was die Pilger damit gemeint hatten. Sie waren nicht nach Rom, sondern von Rom nach Santiago gewandert und hatten die Etappe hinter sich gebracht, die heute vor uns lag. Und was diese Etappe anbelangte, da konnte man ihre Beschreibung durchaus nachvollziehen. Vor allem die ersten zwei Kilometer waren mehr als nur abenteuerlich. Sie erinnerten uns an unsere ersten Etappen in Frankreich, auf denen wir mehr als nur einmal im Schlamm versanken. Oder an die erste Etappe in Spanien, bei der wir über Stock und Stein bis auf den Berggipfel emporklimmen mussten.

Heute war es eine Mischung aus beidem. Wir hatten Schlamm, Lehm, starke Steigungen und zu allem Überfluss auch noch dichte Brombeersträucher, durch die wir hindurch mussten. Es begann wie immer in diesen Fällen. Die Schilder führten in eine vielversprechende Nebenstraße, die sich dann immer weiter aus der Stadt hinaus in Richtung Berge schlängelte. Dann wurde die Straßenqualität schlechter aber noch nicht so, dass man sich deswegen Sorgen machen musste. Als wir dann schon so weit gegangen waren, dass ein Umkehren keinen Sinn mehr machte endete die Teerstraße hinter einer Kurve und wurde zu einem holprigen Feldweg, der sich in engen Serpentinen den Berg hinauf schlängelte. Mit jeder neuen Kurve wurde er schmaler und schließlich war nur noch ein kleiner, lehmiger Trampelpfad übrig, der so glitschig war, dass man kaum noch vorankam.

Er war gespickt mit dicken Steinen und tiefen Schlaglöchern, so dass wir die Wagen immer wieder übertragen und zu zweit ausbalancieren mussten. Als wir schließlich glaubten, es könne nun nicht mehr schlimmer werden, kamen wir an ein verlassenes Haus an dem sich die Spur des Weges zunächst vollständig verlor. Es gab mehrere Pfade, die von hier wegführten, doch keiner von ihnen wirkte besonders zuverlässig. Schließlich entdeckte Heiko in den Bäumen ein rotweißes Fähnchen, das dort als Wegmarkierung aufgehängt worden war. Es markierte den steilsten aller möglichen Pfade. Dicht am Abhang dückten wir uns auf dem rutschigen Pfad entlang nach vorne. Einmal kamen wir dabei an eine Stelle, an der der Weg fast komplett abgerutscht war. Ein Morsches Brett lag hier über dem Abgrund und sah so sicher aus wie ein Kondom aus Wolle. Kurz darauf mussten wir mitten durch einen Brombeerstrauch, der mit seinen stechenden Armen nach uns griff und versuchte uns festzuhalten. Er riss einige Ziehfäden in unsere Kleidung und in das Handtuch, das auf Heikos Wagen gespannt war. Außerdem verkratzte er mir den linken Arm. Ich weiß nicht woran er liegt, aber im Moment ist meine Haut so empfindlich, dass bereits ein kleiner Kratzer ausreicht um mich zum Bluten zu bringen.

Endlich erreichten wir eine kleine Teerstraße oben auf dem Bergkamm. Sie hätte auch komplett vom Tal hier herauf geführt, doch der Wanderverein hatte sie offensichtlich nicht gemocht. Die Aussicht von hier oben war jedoch atemberaubend und mit einem Blick ins Tal wurde uns klar, dass sich die Mühe gelohnt hatte. Jeder flache Quadratmeter bis hin zum Meer war bebaut worden und zwischen den Häusern zogen sich die Autobahn, zwei Schnellstraßen, eine Zuglinie und einige weitere Hauptverkehrsrouten hindurch als wären sie mit dem Lineal gezeichnet worden.

Der Lärm der Stadt schallte bis zu uns herauf und dass obwohl wir hoch über ihr standen und das Meer auf der gegenüberliegenden Seite bereits einen Großteil davon schluckte. Wären wir im Tal geblieben, wäre der Weg für uns die gleiche Hölle geworden, durch die wir auch in den letzten Wochen immer wieder wandern mussten. Hier oben war es hingegen relativ angenehm. Der Weg schlängelte sich mehr oder weniger eben an den Berghängen entlang. An vielen Stellen war er bereits wieder heruntergerissen und erneuert worden, denn die Berghänge rutschten mit jedem Regenguss wieder aufs neue ab. Reparaturarbeiten vielen hier jährlich an und der Winter war ja noch nicht einmal vorüber.

Im Tal kamen wir dann nach Massa. Hier ging dann das alte Pilgerweg-Spiel wieder los. Plötzlich wollte keiner mehr einen Wanderer aufnehmen, weil es ja genügend andere Alternativen gab. So wurden wir ständig von einem Pfarrer zum nächsten geschickt, bis wir schließlich an ein Kapuziner-Kloster kamen, dass uns dann doch aufnahm. Hier bekamen wir einen Raum, in dem wir uns ausbreiten konnten. Kontakt zu den Mönchen hatten wir bislang noch nicht. Mal sehen, ob sich das noch ändert.

Auf dem Markt bekamen wir ein Grillhähnchen geschenkt. Es gab insgesamt drei Stände, die Brathähnchen anboten. Als wir ankamen waren sie bereits dabei ihren Laden zu schließen. Einer der drei schenkte und freudig unser Mittagessen. Die anderen beiden hingegen wiesen uns grimmig ab. Es war ihnen lieber, die übriggebliebenen Hühnchen in den Müll zu werfen, als sie zu verschenken.

Die Kälte in den Gebäuden hier wird langsam zu einer Art Farce. Gerade sitzen wir im Pilgerraum des Franziskaner-Klosters von Massa in dicke Jacken eingehüllt. Wir haben das Fenster sperrangelweit geöffnet, weil so von draußen noch etwas wärme hereinkommt. Am 15. Januar, wohlgemerkt. Den Tag über haben wir die meiste Zeit im T-Shirt verbracht und sobald wir ein Gebäude betreten, holen wir als erstes die dicksten Winterklamotten heraus, die wir bei uns haben. Ist das nicht fast eine Lexikonbeschreibung von Ironie?

Spruch des Tages: Alles was wir für uns selbst tun, tun wir auch für andere, und alles, was wir für andere tun, tun wir auch für uns selbst. (Thich Nhat Hanh)

Höhenmeter: 230 m

Tagesetappe: 17km

Gesamtstrecke: 6913,87 km

Wetter: Durchgängiger leichter Regen bis zum Nachmittag

Etappenziel: Kapuziner-Kloster, 54100 Massa, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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