Tag 380: Traumchaos

von Heiko Gärtner
18.01.2015 17:14 Uhr

In den Nächten erleben wir zurzeit fast mehr als an den Tagen. Ok, das klingt jetzt etwas zweideutig, aber ich meine etwas anderes. In uns laufen wieder einmal Prozesse ab, die so groß sind, dass ich sie noch nicht begreife. Heikos Träume drehen sich meist um Beziehungsthemen oder um die Frage nach seinem Heiler-Sein und dem Annehmen seiner Lebensaufgabe. Meine haben in den letzten Tagen viel mit dem Finden eines richtigen Weges zu tun. Oft laufe ich die ganze Nacht in irgendwelchen Welten umher, suche nach Zielen, Schlafplätzen oder irgendetwas anderem. Gestern Nacht kam irgendwann im Traum eine Sequenz vor, in der wir ein Auto reparieren lassen mussten, das dann in einer Werkstatt auf einer eigenartigen Hebebühne stand. Es ist schon komisch, denn solch ein Traum wäre für die meisten Menschen nichts Besonderes. Für mich ist die Idee, ein Auto reparieren zu lassen jedoch bereits so abstrakt, dass ich keinen Bezug zu dieser Situation aufbauen kann.

Ein weiteres Thema, das immer wieder in meinen Träumen eine Rolle spielt ist meine Familie. Eine Zeit lang hatte ich wirklich geglaubt, dass ich meinen Frieden mit der Situation geschlossen habe, so wie sie ist. Doch das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Äußerlich merke ich zwar kaum einen Unterschied zu vorher. Ich wandere genauso, ich schreibe genauso und ich beschäftige mich weiterhin mit den gleichen Themen und Problemen, die täglich so anfallen. Doch tief in mir wütet die Situation wie eine aufgepeitschte See bei einem Orkan. Das sonderbare dabei ist nur, dass ich die Gefühle nicht in wachem Zustand wahrnehme. Es ist als hätte ich so eine Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, dass ich mir einfach keine Gefühle zugestehe. Also kommen sie dann nachts und weisen mich in abstrakten Träumen daraufhin, dass ich sie vielleicht auch am Tag einmal zulassen sollte. Denn anders als ausgelebte Gefühle können die unterdrückten nicht für Heilung sorgen. Sie stauen sich nur immer weiter an und suchen sich andere Ventile um irgendwie ans Licht zu kommen. Vor einiger Zeit fragte mich Heiko einmal, ob sich meine Gefühle zu meinen Eltern verändern würden, wenn ich erführe, dass sie nicht mehr am Leben seien. Ich saß schweigend da und starrte in die Leere. Das Problem war, dass ich mir die Situation nicht einmal vorstellen konnte. Es war unmöglich für mich, mir vorzustellen, sie seien gestorben. Ich hatte kein Gefühl dazu. Ich hatte überhaupt keinerlei Bezug dazu. Es herrschte einfach eine Leere.

Doch das Problem mit der Gefühlslosigkeit scheint in meiner Familie ein grundsätzliches Thema zu sein. Denn soweit ich es über ein paar Ecken von zuhause mitbekommen habe, haben sich meine Eltern die gleiche Taktik der Verdrängung gesucht um damit umzugehen. Alles läuft normal weiter, so als wäre nichts geschehen. Zumindest von dem ausgesehen, was ich hier mitbekomme. Wenn also niemand von uns groß etwas bei der Sache fühlt, heißt das dann, das wir alle absolute Nieten im Umgang mit unseren Gefühlen sind? Oder heißt es, dass vielleicht gar nichts großes passiert ist, das eine Gefühlsregung wert wäre? War der Kontakt unter uns schon immer oder zumindest seit langer Zeit schwach, dass sich nun kaum etwas verändert hat? Waren wir einfach Fremde, die sich aus den Augen verloren haben, wie die unzähligen Kontakte, die wir auf unserer Reise einmal getroffen und dann nie wieder gesehen haben? Denen weinen wir ja auch nicht hinterher, obwohl wir sie in dem Moment der Begegnung wirklich mochten.

Nach dem Aufwachen hatte ich nur noch eine vage Erinnerung an meine Träume. Irgendwie habe ich eine erneute Hochzeit von meinen Eltern verpasst, zu der ich eingeladen war. Warum sie noch einmal heiraten wollten weiß ich nicht. Und warum ich nicht zu der Feier gehen wollte war mir auch erst nicht klar. Ich weiß nur, dass mein Vater stinksauer war und mich tierisch verfluchte, dafür dass ich mich nicht hatte blicken lassen. Sofort kamen Schuldgefühle in mir auf und ich versuchte mich zu rechtfertigen. Dann wurde mir klar, dass wir uns alle gemeinsam dafür entschieden hatten, jeden Kontakt zu beenden und dass es damit für mich auch keinen Grund gab, aus die Hochzeit zu gehen. Plötzlich kam ich aus meiner Schuldenrolle heraus und konnte wieder aufrecht stehen. Es war nicht meine Schuld. Ich hatte nichts Falsch gemacht. Ich hatte so gehandelt wie ich es für richtig hielt und ich konnte dazu stehen. Dann wachte ich auf.

Im Dämmerzustand zwischen dem Schlafen und dem wirklichen Wach-Sein kam eine Erinnerung in mir auf, die ich bereits seit langem vergessen hatte. Als Kind hatten meine Schwester und ich immer viele Kuscheltiere. Nicht nur einen Knuddelteddy oder ein kleines Häschen, sondern einen ganzen Bauernhof voller Plüschtiere. Heute lagern sie noch immer auf dem Dachboden meiner Eltern und es sind locker drei große Müllsäcke voll. Mit diesen Tieren spielten wir und bauten in unserer Phantasie ganze Welten um sie herum auf. Meist lebten die unterschiedlichen Tiere in einer Art Gemeinschaft zusammen, einer großen, schönen Welt in der sie gefahrlos Abenteuer erleben konnten. Alle hatten sich lieb und jeder achtete auf die anderen. Es war eine Art Kuscheltier-Abbild der Welt in der auch wir aufgezogen wurden. Ich weiß noch, dass die Löwen und die anderen Raubtiere kein Fleisch essen durften, denn das hätte ja bedeutet, dass sie ein anderes Tier dafür töten mussten. Das einzige, was erlaubt war, war Mett. Warum? Weil wir als Kinder damals keinen Bezug mehr dazu hatten, dass diese undefinierbare aber dafür recht leckere Masse, irgendwann einmal ein Tier gewesen ist. Schon damals ging es also viel darum, den Schein zu wahren und die Realität dahinter zu verbergen. Doch das ist nicht das, worauf ich eigentlich hinaus möchte. Die Erinnerung, die mir in der Früh kam, war eine andere. Es ging darum, dass all diese Tiere ja einfach irgendwie da waren. Sie hatten keine Eltern und außer der bunten, gemischten Herde in der sie lebten auch keine Familie. Das warf natürlich die Frage auf, was mit ihren Eltern geschehen war und als Kinder brauchten wir darauf eine plausible Antwort. Wir hätten tausende von Szenarien erfinden können. Vielleicht waren sie im Urlaub oder lebten in einem anderen Land und kamen nur selten zu besuch. Vielleicht waren sie von Aliens entführt worden oder sie waren schlicht und einfach gestorben. Nein! Das ging nicht, denn dass jemand starb passte nicht in die heile Welt. Der Tod war zu traurig, also fiel diese Option schon mal weg. Und so entschieden wir uns am Ende immer wieder für die gleiche Lösung: Die Eltern waren Böse und somit hatten die Kinder sie verlassen und den Kontakt für immer abgebrochen.

Wir waren zu diesem Zeitpunkt vielleicht so im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Zu dieser Zeit glaubten wir noch, dass die Frau unseres Opas unsere richtige Oma war. Wir wussten noch nichts davon, dass unsere eigene Mutter von ihrer Mutter verstoßen wurde und wir hätten nicht einmal im Traum daran gedacht, dass auch ich die Beziehung zu meinen Eltern einmal abbrechen würde. Und doch kommt mir dieses Kinderspiel von damals jetzt wie eine Art Prophezeiung oder dunkle Vorahnung vor. Haben wir die Systematik in unserem Familiensystem damals vielleicht unbewusst bereits gespürt? Wussten wir vielleicht schon längst, dass hier ein riesiges Thema verborgen lag, das wir aber nicht begreifen konnten und deshalb in ein Kuscheltierspiel einbetten mussten?

Ich habe noch keine Ahnung, wohin mich das alles führt oder was ich mit dieser wiedererwachten Erinnerung nun anfangen soll, doch irgendwie spüre ich, dass es wichtig ist. Irgendwie geht es hier um mehr, als nur um einen Streit zwischen Eltern und Kindern. Und langsam wird mir bewusst, dass ich hier noch immer nur an der Oberfläche gekratzt habe.

Unser Weg stand wieder einmal im Zeichen des Marmors. Auf Marmor ist hier so ziemlich alles, einfach nur deshalb, weil er eben da ist. In Pietrasanta gab es sogar einen Skate-Park für Jugendliche, der komplett aus Marmor bestand. Das sah zwar recht Chick und nobel aus, war insgesamt aber keine besonders gute Idee, denn Marmor ist ein recht empfindliches Gestein und wenn man mit Skates darüber fährt dann wird er nach einiger Zeit bröckelig. So etwas wie gerade Kanten gab es nicht mehr.

Übernachten dürfen wir heute wieder einmal in einem Nonnenkloster, bzw. in einem kleinen Häuschen im Hof des Klosters, das extra für Pilger eingerichtet wurde. Gleich als wir ankamen drückte die Nonne auf einen Schalter und schon lief die Heizung auf voller Kraft. Die Nonnen haben den Umgang mit Wärme also offensichtlich etwas besser drauf als die Pfarrer und die Mönche. Das sollten wir uns für die Zukunft merken.

Spruch des Tages: Alles ist Traum

 

Höhenmeter: 270 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 6935,87 km

Wetter: Größtenteils leichter Nieselregen, windig, bewölkt, kühl. Der heftige Regenguss kam zum Glück erst, als wir bereits in unserer Herberge saßen.

Etappenziel: Casa Diocesana la Rocca, 55045 Pietrasanta, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare